BayObLG, Beschluss v. 20.02.2023 – 202 ObOWi 1584/22
Titel:
Anforderungen an die Urteilsgründe im Bußgeldverfahren
Normenketten:
OWiG § 71 Abs. 1
StPO § 267 Abs. 1, Abs. 3
Leitsätze:
1. Die Verurteilung eines Erziehungsberechtigten wegen der Verletzung der bußgeldbewehrten Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass minderjährige Schulpflichtige regelmäßig am Unterricht teilnehmen (Art. 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG), leidet unter grundlegenden Darstellungsmängeln, wenn tatsächliche Feststellungen dazu, in welchem konkreten Verhalten oder Unterlassen des Betroffenen das Tatgericht die Ordnungswidrigkeit erblickt, unterbleiben. (Rn. 5)
2. Im Falle eines Unterlassens hat das tatrichterliche Urteil grundsätzlich erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten, die nicht ergriffen wurden, aufzuzeigen. (Rn. 5)
Auch im Bußgeldverfahren bilden die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Sie müssen deshalb auch in Bußgeldsachen nach § 71 OWiG iVm § 267 Abs. 1 und Abs. 3 StPO so beschaffen sein, dass ihnen das Rechtsbeschwerdegericht iRd Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen das Tatgericht zu den objektiven und subjektiven Tatbestandselementen getroffen hat und welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen etwaiger Nebenfolgen zugrunde liegen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, diese auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (Fortführung von OLG Hamburg BeckRS 2022, 34986). (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Rechtsbeschwerdeerstreckung, Revisionserstreckung, Rechtskraft, Rechtskraftdurchbrechung, Mitbetroffene, Mitbetroffener, Sachrüge, Tatgericht, Urteilsgründe, Gesamtschau, Feststellungen, Mindestfeststellungen, Tatgeschehen, Darstellungsmangel, Beweiswürdigung, Urteilsaufhebung, Schulpflicht, Schulpflichtverletzung, Sorgetragen, Obliegenheit, Obliegenheitsverletzung, Unterricht, Präsenzunterricht, Corona, Testung, Testobliegenheit, Erziehungsberechtigte, Eltern, Kinder, minderjährig, Handlungsmöglichkeiten, Erziehung, erzieherisch, Erziehungsberatung, Erziehungsberatungsstelle, Jugendamt, Einwirkung, Einwirkungsgrad, pädagogisch, Hilfe, Abfassung, Nachprüfung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5132
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Würzburg vom 4. August 2022, auch soweit es die Mitbetroffene betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Würzburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Mit dem angefochtenen Urteil vom 04.08.2022 hat das Amtsgericht den Betroffenen sowie die selbst nicht rechtsmittelführende Mitbetroffene und Ehefrau des Betroffenen jeweils wegen vorsätzlicher Verletzung der ihnen als Erziehungsberechtigte und Eltern gemäß Art. 74 Abs. 2 Satz 1, 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG obliegenden Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihr am ... 2012 geborener gemeinsamer minderjähriger schulpflichtiger Sohn am Unterricht regelmäßig teilnimmt und die sonstigen verbindlichen Schulveranstaltungen besucht, jeweils zu einer Geldbuße in Höhe von 500 Euro verurteilt. Da die Mitbetroffene gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist das Urteil gegen diese seit dem 19.08.2022 rechtskräftig. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
2
Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige, gemäß § 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 357 Satz 1 StPO auf die Mitbetroffene zu erstreckende Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Rechtsmittel führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen, an durchgreifenden sachlich-rechtlichen Darstellungsmängeln leidenden Urteils. Auf die mangels hinreichender Ausführung die Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verfehlende Verfahrensrüge kommt es deshalb nicht an.
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1. Wenn auch für das Bußgeldverfahren im Hinblick auf die gegenüber dem Strafverfahren gemilderte „Strenge des anzuwendenden Maßstabs“ (vgl. z.B. BVerfG [2. Kammer des 2. Senats], Beschluss vom 02.07.2003 – 2 BvR 273/03 bei juris; s. auch BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 = NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41 = DAR 2021, 75) entsprechend seinem auf einfache und schnelle bzw. „summarische“ Erledigung gerichteten Zweck hinsichtlich der Abfassung der Urteilsgründe ‚keine übertrieben hohen Anforderungen‘ zu stellen sind, kann doch für den Inhalt des Erkenntnisses in Bußgeldsachen wie für das Verfahren selbst im Grundsatz nichts anderes als für Urteile in Strafsachen gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren bilden die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Sie müssen deshalb auch in Bußgeldsachen nach § 71 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 und Abs. 3 StPO so beschaffen sein, dass ihnen das Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen der Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen das Tatgericht zu den objektiven und subjektiven Tatbestandselementen getroffen hat und welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen etwaiger Nebenfolgen zugrunde liegen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, diese auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (st.Rspr., vgl. zuletzt z.B. nur OLG Hamburg, Beschluss vom 25.11.2022 – 6 RB 49/22 bei juris = BeckRS 2022, 34986; aus der Kommentarliteratur ferner u.a. Göhler/Bauer/Seitz OWiG 18. Aufl. vor § 71 Rn. 1 i.V.m. § 71 Rn. 42 ff.; KK-OWiG/Senge 5. Aufl. § 71 Rn. 106 u. BeckOK-OWiG/Hettenbach [37. Edit., Stand: 01.01.2023] § 71 Rn. 75 ff., jew. m.w.N.).
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2. Diesen aus § 71 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 StPO resultierenden Mindestanforderungen wird das angefochtene Urteil auch bei einer für die sachlich-rechtliche Beurteilung maßgeblichen Gesamtschau der Urteilsgründe wegen des nahezu vollständigen Fehlens eigener, die Verurteilung tragender tatsächlicher Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen nicht gerecht.
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Die Urteilsgründe erschöpfen sich in unstrukturierten Schilderungen des Verfahrensgangs im Vorfeld des Erlasses der Bußgeldbescheide gegen den Betroffenen und die Mitbetroffene und dem in diesem Zusammenhang gewechselten Schriftverkehr mit den Schulbehörden nebst den hierauf Bezug nehmenden Einlassungen des Betroffenen und der Mitbetroffenen, denen das Gericht „nicht folgen könne“. Hinzu kommen abstrakt-rechtliche Ausführungen zum Wesen der Schulpflicht im allgemeinen und der Berechtigung der im Tatzeitraum bestehenden „aktuellen Gesetzeslage“ mit Blick auf die Notwendigkeit einer Teilnahme am Präsenzunterricht, insbesondere einer die Unterrichtsteilnahme bedingenden Erfüllung der „Testobliegenheit“. Demgegenüber fehlen unabdingbare Feststellungen tatsächlicher Art dazu, in welchem konkreten Verhalten bzw. Unterlassen gerade des Betroffenen (und der Mitbetroffenen) die den Tatvorwurf nach Art. 74 Abs. 2 Satz 1, 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG ausfüllende Obliegenheitsverletzung nach Ansicht des Amtsgerichts bestand. Auch fehlen jegliche Ausführungen dazu, welches Verhalten von den Betroffenen mit welchem erzieherischen Einwirkungsgrad von Rechts wegen (mindestens) zu verlangen gewesen wäre, um ihrer gesetzlichen Verpflichtung aus Art. 76 Satz 2 BayEUG zu genügen, namentlich ihren minderjährigen Sohn gegebenenfalls unter Inanspruchnahme professioneller pädagogischer Hilfe dazu zu bewegen, sich den Testungen als Zugangsvoraussetzung zum Präsenzunterricht zu unterziehen (näher zur Auslegung des Merkmals des ‚Sorgetragens‘ vgl. z.B. VG Bayreuth, Beschluss vom 27.01.2022 – B 3 S 22.43 bei juris). Über die Notwendigkeit dieser tatsächlichen Mindestfeststellungen durfte sich das Amtsgericht jedoch weder durch den pauschalen Verweis auf den „Gegenstand des Bußgeldbescheids“ noch – worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend hinweist – mit der Bemerkung hinwegsetzen, wonach „das Gericht […] nicht dafür da [sei], den Betroffenen insoweit Ratschläge zu geben“, weil es dafür Erziehungsberatungsstellen gebe. Vielmehr ist es Aufgabe des Gerichts, im Falle einer Verurteilung erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten, die nicht ergriffen wurden, aufzuzeigen.
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Vor diesem Hintergrund ist dem Rechtsbeschwerdegericht eine rechtliche Überprüfung des Schuldvorwurfs verwehrt. Die Ermittlung des Sachverhalts und seine Darstellung in den Urteilsgründen ist ausschließlich Aufgabe des Tatgerichts. Eine Nachbesserung unzulänglicher Urteilsgründe durch den Akteninhalt ist dem Rechtsbeschwerdegericht schon deshalb verwehrt, weil das Urteil aus sich heraus verständlich sein muss.
III.
7
Wegen der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO) und die Sache nach § 79 Abs. 6 OWiG zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Ein Anlass, die Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts auszusprechen, besteht nicht.
IV.
8
Die Urteilsaufhebung ist gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 357 Satz 1 StPO auf die selbst nicht rechtsmittelführende Mitbetroffene zu erstrecken, weil sie die festgestellten Rechtsfehler in gleicher Weise betreffen. Der auch im Bußgeldverfahren (vgl. KK-StPO/Gericke 9. Aufl. § 357 Rn. 22; BeckOK-StPO/Wiedner [46. Edition – Stand: 01.01.2023] § 357 Rn. 1; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 79 Rn. 36, jeweils m.w.N.) anzuwenden Vorschrift des § 357 StPO liegt der Gedanke zugrunde, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Durchbrechung der Rechtskraft aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit geboten erscheint, um – das Rechtsgefühl verletzende – Ungleichheiten bei der Aburteilung mehrerer Personen zu vermeiden (st.Rspr. vgl. neben BGHSt. 12, 335, 341 = NJW 1959, 894 u. 20, 77, 80 = NJW 1965, 52 u.a. BGH, Beschluss vom 29.09.2015 – 2 StR 309/15 bei juris = BeckRS 2015, 19173; 15.12.2021 – 1 StR 362/21 = StraFo 2022, 159 = wistra 2022, 342 = BeckRS 2021, 47136). Von diesem Ausgangspunkt her grenzt § 357 StPO die materielle Reichweite einer Revisions- oder einer Rechtsbeschwerdeerstreckung ab. Diese sachlichen Erfordernisse sind erfüllt. Das Rechtsbeschwerdegericht ist deshalb berechtigt und verpflichtet, in Richtung der Mitbetroffenen so zu erkennen, als ob auch sie den R.weg beschritten hätte.
V.
9
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss nach § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
VI.
10
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.