VGH München, Beschluss v. 06.03.2023 – 19 CE 22.2647
Titel:
kein Verzicht auf Durchführung des Visumverfahrens
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 25 Abs. 5, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c Abs. 1 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen; dabei ist der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Ausländer ist geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung hat. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
(Kein) Anspruch auf Duldung aus familiären Gründen, Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens, (Kein) Anspruch auf Verfahrensduldung, Verfahrensduldung, Visumverfahren, Familiennachzug, Chancen-Aufenthaltsrecht
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 07.12.2022 – W 9 E 22.1855
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4268
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
2
Die Prüfung der für die Begründetheit der Beschwerde streitenden Gründe ist im Grundsatz auf das in der Beschwerdebegründung Dargelegte beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Danach ergibt sich nicht, dass der Antragsgegner entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten wäre, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem am ... August 1991 geborenen, nach eigenen Angaben am 26. Dezember 2016 in das Bundesgebiet eingereisten, im Asylverfahren erfolglosen (Asylantrag vom 3.1.2017; Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.7.2017), in der Folge bis zum 16. November 2022 geduldeten, seit dem 16. November 2021 mit einer am ... September 1959 geborenen deutschen Staatsangehörigen verheirateten (der beim Standesamt vorgelegte Reisepass wurde dort eingezogen und der Ausländerbehörde übersandt) und am 2. November 2022 – trotz mehrmaliger Beratung – die Nachholung des Visumverfahrens zum Ehegattennachzug ablehnenden Antragsteller, nigerianischer Staatsangehöriger, zu unterlassen und die Duldung des Antragstellers zu verlängern.
3
Zur Begründung der Ablehnung des Eilantrags führt das Verwaltungsgericht aus, ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Dieser sei nicht in Form einer sogenannten Verfahrensduldung (bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben. Ein Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung ergebe sich insbesondere nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Es fehle an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum, § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Zwar könnte gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden. Allerdings handle es sich hierbei um eine Ermessensvorschrift; ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift sei im Hinblick auf die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auch dann nicht ausreichend, wenn das Ermessen im Einzelfall „auf Null“ reduziert sei. Damit stehe diese Ermessensentscheidung wiederum der Annahme eines strikten Rechtsanspruchs entgegen. § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV, der insoweit eine Ausnahme darstelle, sei im Fall des Antragstellers nicht anwendbar, da er im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht im Besitz einer Duldung sei. Auch aus § 25 Abs. 5 AufenthG könne der Antragsteller keinen zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung herleiten. Dabei könne offenbleiben, ob sich eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne dieser Norm aus einer (unzumutbaren) Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergeben könne. Denn hier läge keine derartige Unmöglichkeit vor. Nicht jede eheliche Lebensgemeinschaft und jedwede familiäre Beziehung führten zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, vielmehr müsse eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen. Die Gefährdung des Schutzes von Ehe und Familie könne damit als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis einen Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK auslösen. Um dies festzustellen, sei stets eine Einzelfallabwägung im konkreten Fall unter Berücksichtigung der familiären Belange sowie des öffentlichen Interesses an der Ausreise vorzunehmen. Hierzu seien die familiären Bindungen des Betroffenen entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen. Eine unzumutbare Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft könne im Einzelfall vorliegen, beispielsweise bei einer langen Trennung von Eltern und ihren minderjährigen Kindern, sodass durch die Abschiebung eine unzumutbare Beeinträchtigung der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familieneinheit anzunehmen sei. Maßgeblich sei, ob durch eine Abschiebung der Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK in einer Weise tangiert sei, dass er das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zumindest auf unzumutbar lange Zeit unmöglich mache. Dies sei hier nicht der Fall. Der Antragsteller sei seit dem 16. November 2021 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Zu diesem Zeitpunkt sei sein Asylverfahren bereits rechtskräftig negativ abgeschlossen gewesen. Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG müsse er das Visumverfahren gemäß § 5 Abs. 2 AufenthG nachholen. Allein der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise eine vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müsse, stehe auch bei Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris Rn. 34), dies könne sich nur durch Hinzutreten weiterer Umstände ergeben. Derartige Umstände seien hier nicht ersichtlich. Dies folge auch nicht daraus, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 14. Juli 2017 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in Höhe von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt habe. Auch diese Frist, die bei einer Abschiebung des Antragstellers nach Nigeria greife, stelle keine unzumutbar lange Zeitdauer der Trennung von seiner Ehefrau dar. Den Eheleuten sei eine Trennung auch über einen längeren Zeitraum zumutbar; es seien keine minderjährigen Kinder vorhanden, denen das Verständnis, dass der Antragsteller wiederkomme, fehlen würde, und deren Entwicklung beeinträchtigt werden könnte. Es lägen auch keine anderweitigen besonderen, eine andere Beurteilung begründenden Umstände (wie etwa eine notwendige dauerhafte Pflege des Ehepartners oder ähnliches) vor. Darüber hinaus könnte der Antragsteller auch vom Ausland aus einen Antrag auf Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG stellen. Es sei den Eheleuten zuzumuten, den Kontakt beispielsweise über Besuche oder (moderne) Kommunikationsmittel aufrechtzuerhalten. Bei der Abwägung sei auch zu berücksichtigen, dass die Ehe im beiderseitigen Wissen um den ablehnenden Bundesamtsbescheid vom 14. Juli 2017 und die unsichere Aufenthaltsperspektive des Antragstellers geschlossen worden sei. Der Umstand, dass der Antragsteller eine vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müsse, welches nach den Angaben des Antragsgegners ca. zwischen 12 und 15 Monaten dauern werde, was der Erfahrung des Gerichts aus anderen Verfahren entspreche, stehe daher vorliegend auch bei Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen; es liege keine rechtliche Unmöglichkeit vor. Sonstige schützenswerte Gründe, warum die Ausländerbehörde dem Antragsteller den weiteren Aufenthalt vorübergehend ermöglichen müsste, seien nicht ersichtlich. Das aktuell laufende Gesetzgebungsverfahren zum sog. Chancen-Aufenthalt stelle aus Sicht der Kammer ebenfalls keinen solchen Umstand dar. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 20/3717) befinde sich aktuell im Beratungsverfahren und sei am Freitag, 2. Dezember 2022, durch den Deutschen Bundestag beschlossen worden. Nun stehe die Beteiligung des Bundesrats an, die wohl noch am 16. Dezember 2022 erfolgen solle. Unabhängig davon, ob der Antragsteller überhaupt in den Genuss der vorgesehenen Regelungen kommen sollte, könne zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 24.2.1999 – 2 BvR 283/99) von einer konkretisiert unmittelbar bevorstehenden Regelung ausgegangen werden. Zum einen würden durch das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzungen nicht näher konkretisiert und zum anderen seien nach dem Grundgesetz noch weitere wesentliche Verfahrensschritte in dem Gesetzgebungsverfahren (Art. 78, 82 GG) bis zu einem möglichen Inkrafttreten zu gehen. Dementsprechend habe der Antragsteller mangels Unmöglichkeit der Abschiebung auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK. Die Voraussetzungen für eine Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG seien durch den Antragsteller nicht weiter substantiiert dargelegt worden und seien soweit ersichtlich nicht gegeben.
4
Zur Begründung der Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs abgelehnt. Der Bundesrat habe am 16. Dezember 2022 nunmehr das neue „Chancen-Aufenthaltsgesetz“ gebilligt. Das Gesetz und die Neuregelung des § 104c AufenthG träten am 1. Januar 2023 in Kraft. Eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert unmittelbar bevorstehenden Regelung liege damit vor. Das Gesetzgebungsverfahren sei formell abgeschlossen. Der Antragsteller habe nach dem Chancenaufenthaltsgesetz eine konkrete Bleibeperspektive und einen Anspruch auf Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsteller sei im Dezember 2016 (und damit vor dem Stichtag 31.10.2017) in die Bundesrepublik eingereist und habe sich anschließend gestattet und geduldet im Bundesgebiet aufgehalten. Zudem verfüge der Antragsteller über hinreichende Deutschkenntnisse i.S.d. Niveaus A2. Seinen Reisepass habe der Antragsteller bereits der Ausländerbehörde übergeben. Die Identität des Antragstellers sei geklärt. Er habe am 5. Januar 2023 beim Antragsgegner einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 104c AufenthG gestellt. Auch andere Verwaltungsgerichte hätten bereits einstweiligen Anordnungen auf Abschiebeschutz stattgegeben (z.B. VG Karlsruhe, B.v. 18.11.2022 – 19 K 3710/22). Der Antragsteller verfüge zudem über gewichtige schutzwürdige Belange i.S.d. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Der Antragsteller sei mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und wohne mit dieser in häuslicher Lebensgemeinschaft. Die schützenswerte eheliche Lebensgemeinschaft stelle ein inlandsbezogenes Abschiebehindernis i.S.d. § 60a Abs. 2 AufenthG dar, sodass dem Antragsteller eine Duldung auszustellen sei. Anders als das Verwaltungsgericht meine, ändere auch die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung das Asylverfahren des Antragstellers bereits negativ abgeschlossen gewesen sei, nichts an der Schutzwürdigkeit der Beziehung bzw. mache dieser Umstand die Ehe nicht weniger schützenswert. Zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt liege eine schützenswerte familiäre Beziehung vor, die – unabhängig von den Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis – ein Abschiebehindernis i.S.d. § 60a Abs. 2 AufenthG begründe. Das Verwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung lediglich geprüft, ob der Antragsteller Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis habe und habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die eheliche Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen ein inlandsbezogenes Abschiebehindernis i.S.d. § 60a Abs. 2 AufenthG darstelle. Anders als in der vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – BVerwGE 138, 353-370, Rn. 1) begehre der Antragsteller im vorliegenden Verfahren keine Aufenthaltserlaubnis, sondern Abschiebeschutz.
5
Diese Rügen greifen nicht durch.
6
1. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe keinen Anspruch auf die beantragte Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK glaubhaft gemacht, ist nicht zu beanstanden.
7
Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Es ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris Rn. 7 m.w.N., B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 45).
8
Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 juris Rn. 43; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris LS 2a, Rn. 47 m.w.N.). Allein das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft führt ebenso wenig dazu, regelmäßig von der Unzumutbarkeit der Einhaltung des Visumverfahrens auszugehen, wie der Umstand, dass ein kleines Kind betroffen ist, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten (vgl. BayVGH, B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.994 – juris Rn. 5).
9
Es ist eine Prognose anzustellen, mit welcher Trennungszeit bei Nachholung eines Visumverfahrens voraussichtlich tatsächlich zu rechnen wäre. Von einer Prognose der Trennungszeit kann abgesehen werden, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und dem Familienangehörigen die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden kann (BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris; B.v. 27.8.2003 – 2 BvR 1064/03 – juris Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 52).
10
In die Prognose der Trennungszeit ist insbesondere die zu erwartende Dauer des Visumverfahrens (einschließlich einer möglicherweise durchzuführenden Urkundenüberprüfung) einzubeziehen, über die ebenfalls eine Prognose anzustellen ist. In den Blick zu nehmen ist insoweit, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und gegebenenfalls unter zu Hilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen ein derartiger Auslandsaufenthalt des Ausländers für die Familie hätte (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris Rn. 26). Diesbezüglich muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar und insbesondere auch geklärt sein, ob die grundsätzliche Möglichkeit der Visumerteilung besteht (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – Rn. 40 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.1.2022 – 4 MB 68/21 – juris). Einfachrechtliche Unwägbarkeiten bzw. Ungewissheiten über den Ausgang des Visumverfahrens (im vom Bundesverfassungsgericht zugrundeliegenden Fall die „hohen Hürden“ nach § 36 Abs. 2 AufenthG) müssen ebenso Eingang in die anzustellende Prognose finden (BVerfG, B.v 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – juris Rn. 51; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 53 ff.) wie eine eventuell fehlende Mitwirkung des Betroffenen im Visumverfahren (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 59). Denn die tatsächliche Dauer des Visumverfahrens hängt entscheidend von der Mitwirkung des Ausländers ab. Eine fehlende Mitwirkung kann daher auch längere Wartezeiten rechtfertigen. Zudem würde es die Erkenntnisfähigkeit von Behörden und Gerichten überfordern, bei der Prognose über die Dauer des Visumverfahrens und der damit – hier jedoch nicht – verbundenen Trennung des Ausländers von seinem in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kind eine präzise Vorstellung davon zu entwickeln, mit welcher Trennungszeit tatsächlich im Falle der Duldungsversagung zu rechnen wäre, wenn der Ausländer nicht das in seiner Sphäre Liegende beiträgt, um das Verfahren zu betreiben und zu einem zeitnahen Abschluss zu bringen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 59). Im Rahmen der Prognose der voraussichtlichen tatsächlichen Trennungszeit ist darüber hinaus wegen des erforderlichen Antrags auf Erteilung eines Visums die Wartezeit auf einen Termin zur Antragstellung ebenso zu berücksichtigen (BVerfG B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 60) wie ein möglicherweise infolge der Abschiebung eintretendes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
11
Im Rahmen der Abwägungsentscheidung (ob eine vorübergehende Trennung in Anbetracht der prognostischen Trennungszeit zumutbar ist) ist zu berücksichtigen, dass die Regelungen in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG dem Schutz wichtiger öffentlicher Interessen dienen. Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum soll gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Die (nachträgliche) Einholung des erforderlichen Visums zum Familiennachzug ist auch nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen. Dabei dürfen auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wirkt dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des Visumverfahrens darf nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind daher prinzipiell eng auszulegen (BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15/14, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – jeweils juris). Die Folgen einer vorübergehenden Trennung haben im Rahmen der Abwägungsentscheidung jedoch insbesondere ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48). Zulasten des Ausländers können sich in der Abwägungsentscheidung auswirken, dass er Einfluss darauf hat, rechtzeitig einen Termin bei der Auslandsvertretung zu vereinbaren, die Vorabzustimmung zu erreichen und durch freiwillige Ausreise dem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entgehen bzw. auf dessen Verkürzung nach § 11 Abs. 4 hinzuwirken (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 61).
12
Nach diesen Maßgaben ist es im vorliegenden Fall mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG (bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) vereinbar, den Antragsteller auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen.
13
1.1 Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das Verwaltungsgericht von einer grundsätzlichen Unmöglichkeit eines Nachzugs des Antragstellers zu seiner deutschen Ehefrau (Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vom 11.2.2022) ausgegangen wäre, sind nicht ersichtlich. Vielmehr verneint es einen Anspruch auf Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis im angegriffenen Beschluss (derzeit) wegen Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum.
14
1.2 Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, letztlich stelle auch eine Trennungszeit der Eheleute von 30 Monaten (entsprechend des für den Fall der Abschiebung des Antragstellers geltenden Einreise- und Aufenthaltsverbots im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.7.2017) keine unzumutbar lange Zeitdauer dar, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
15
Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend angeführt, dass der Antragsteller keine minderjährigen Kinder hat, keine notwendige dauerhafte Pflege des Ehepartners (oder ähnliches) vorgetragen worden ist, er vom Ausland aus einen Antrag auf Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG stellen und der Kontakt während der Trennungszeit beispielsweise über Besuche oder (moderne) Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden kann. Insoweit ist – worauf das Verwaltungsgericht ebenfalls richtigerweise hinweist – insbesondere zu berücksichtigen, dass die Ehe von dem Antragsteller und seiner deutschen Ehefrau in Kenntnis des erfolglosen Asylverfahrens des Antragstellers, der im Bundesamtsbescheid vorgenommenen Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung und der daraus resultierenden fehlenden Bleibeperspektive des Antragstellers geschlossen worden ist. Wegen der Gründung familiärer Beziehungen auf aufenthaltsrechtlich ungesicherter Basis konnten die Eheleute nicht schutzwürdig darauf vertrauen, eine familiäre Lebensgemeinschaft werde sich ohne gewisse verfahrensrechtliche Anstrengungen und Problemstellungen allein dadurch herstellen lassen, dass Fakten geschaffen werden.
16
Es erscheint zudem nicht ausgeschlossen, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf einen entsprechenden Antrag hin auf den Zeitpunkt nach Abschluss des Visumverfahrens, das nach den Erfahrungen des Verwaltungsgerichts aus anderen Verfahren ca. zwischen 12 und 15 Monaten dauern wird (die Dauer wurde vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert bestritten), wegen des nach der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgten Eheschlusses verkürzt wird.
17
2. Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend einen Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens verneint.
18
Die Aussetzung der Abschiebung zur Sicherung der effektiven Verfolgung und Geltendmachung eines Aufenthaltstitels, dessen Beantragung nicht die Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG auslöst, widerspricht grundsätzlich der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denenzufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht. Zur Sicherung eines effektiven Rechtschutzes ist nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Ausnahme dann zu machen, wenn nur durch eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt (vgl. BayVGH, B.v. 14.1.2019 – 19 CE 18.120 – Rn. 9 m.w.N.). Gleiches gilt bei sonstigen Aufenthaltstiteln, wenn Gründe für eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahren glaubhaft gemacht werden, die zwingend ein Absehen von der Voraussetzung des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfordern, und die übrigen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.
19
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Verfahrensduldung liegen hier nicht vor.
20
2.1 Soweit der Antragsteller, der am 1. August 2018 eine Ausbildung zum Koch begonnen, aber trotz Verlängerung der Ausbildungsdauer bis zum 31. Januar 2022 nicht abgeschlossen hat, im Beschwerdeverfahren geltend macht, ihm stehe ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung für die Dauer des Verfahrens betreffend die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG zu, trifft diese Auffassung nicht zu.
21
Da § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Chancen-Aufenthaltsrecht) seit dem 31. Dezember 2022 und damit zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats in Kraft ist, kann dahinstehen, ob Vorwirkungen vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift im vorliegenden Fall dem Antragsteller einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung gegeben hätten.
22
Gem. § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 AufenthG sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und er 1. sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (§ 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und 2. nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert (§ 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
23
Die Voraussetzungen des § 104c AufenthG erfüllt der Antragsteller nicht. Bei ihm handelt es sich nicht (mehr) um einen geduldeten Ausländer im Sinne der Norm.
24
Ausgehend von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 25b AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 24), die insoweit aufgrund des identischen Wortlauts der Normen („geduldeter Ausländer“ bzw. <seit der ab 31.12.2022 gültigen Fassung des § 25b AufenthG nunmehr> „Ausländer, der geduldet ist“) im Rahmen des § 104c AufenthG herangezogen werden kann, ist ein Ausländer geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Ein Rechtsanspruch auf Duldung ist jedenfalls dann ohne weiteres ausreichend, wenn die Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Da die Behörde bei Vorliegen dieser Voraussetzungen verpflichtet ist, dem Ausländer eine Duldung von Amts wegen zu erteilen, kann es diesem nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie dieser Pflicht im Einzelfall trotz Vorliegens der Voraussetzungen nicht nachkommt und den Aufenthalt lediglich faktisch duldet. Umgekehrt bedarf es im Falle einer ausdrücklich erteilten Duldung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zusätzlich eines materiellen Duldungsanspruchs. Eine Duldung entfaltet als Verwaltungsakt Bindungs- und Tatbestandswirkung und ist damit auch im Falle ihrer Rechtswidrigkeit zu beachten, solange sie weder nichtig noch aufgehoben noch durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (Art. 43 Abs. 2 f. BayVwVfG).
25
Eine ausdrückliche Regelung, wann der Ausländer i.S.d. § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG geduldet sein muss, enthält die Norm nicht. Nach Auffassung des Senats spricht viel dafür, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzung „geduldeter Ausländer“ i.S.d. § 25b AufenthG (Zeitpunkt der Erteilung, im gerichtlichen Verfahren mithin der allgemein maßgebliche Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz) auch auf § 104c AufenthG übertragbar ist (vgl. wie hier Röder in BeckOK MigR, 14. Aufl., Stand 15.1.2013, § 104c Rn. 19). Soweit vertreten wird, dass für das Vorliegen der Voraussetzung „geduldeter Ausländer“ i.S.d. § 104c AufenthG insoweit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen sei (BeckOK AuslR, 36. Edition, Stand 1.1.2023, § 104c Rn. 7; Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts, S. 3; IMS Anwendungs- und Vollzugshinweise, F4-2081-3-88-218, aktualisierte Fassung vom 27.1.2023, S. 9), vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen. Der Gesetzeswortlaut enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber für das Tatbestandsmerkmal „geduldeter Ausländer“ vom allgemein maßgeblichen Zeitpunkt hätte abweichen wollen. Auch den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 20/3717 S. 44 ff.) ist – soweit ersichtlich – kein Anhaltspunkt zu entnehmen, der auf eine konzeptionell ebenfalls in Betracht kommende Vorverlagerung des Duldungserfordernisses auf den Zeitpunkt der Antragstellung hindeutet. Ebenso wie bei § 25b AufenthG erfordern Normzweck und -struktur jedenfalls nicht zwingend, dass die Duldung bzw. der Duldungsgrund schon bei Antragstellung vorliegen muss.
26
Letztendlich kann die Frage, welcher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzung „geduldeter Ausländer“ i.S.d. § 104c AufenthG maßgeblich ist, vorliegend offenbleiben, wenn der Antragsteller bereits vor seiner Antragstellung am 5. Januar 2023 nicht mehr geduldet war. Dies ist vorliegend der Fall.
27
Der Antragsteller war zuletzt bis zum 16. November 2022 im Besitz einer Duldung (die Verlängerung der Duldung nach Einziehung des Reisepasses durch das Standesamt und Übergabe an die Ausländerbehörde ist lediglich erfolgt, weil der Antragsteller zur Nachholung des Visumverfahrens beraten werden sollte). Eine weitere Verlängerung der Duldung ist nach der vom Antragsteller erklärten Ablehnung der Visumnachholung nicht mehr erfolgt.
28
Einen Anspruch auf Duldung über den Gültigkeitszeitraum der ihm erteilten Duldung hinaus hat der Antragsteller nicht. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung aus familiären Gründen ist nicht gegeben (vgl. bereits die Ausführungen zu Nr. 1).
29
Da der Antragsteller somit vor dem Beschluss des Bundestages über das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts am 2. Dezember 2022 weder im Besitz einer Duldung war noch einen Anspruch auf Duldung gehabt hat, kommt es – unabhängig davon, ob eine solche Auffassung mit dem Gesetzeswortlaut des § 104c AufenthG überhaupt in Einklang gebracht werden könnte – auf die Ausführungen unter Nr. 1.2.2 im IMS vom 22. Dezember 2022 (IMS Anwendungs- und Vollzugshinweise, F4-2081-3-88-218, aktualisierte Fassung vom 27.1.2023, S. 9), wonach in Fällen, in denen eine Duldung bzw. deren Voraussetzungen im Zeitraum zwischen der Beschlussfassung des Bundestags und dem Inkrafttreten des Gesetzes (31.12.2022) oder in den ersten drei Monaten ab Inkrafttreten des Gesetzes, aber noch vor Antragstellung entfällt, die Erteilung einer Ermessenduldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG besonders sorgfältig geprüft werden soll, nicht mehr an.
30
2.2 Die (insoweit zutreffenden) verwaltungsgerichtlichen Ausführungen, weshalb sich ein Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und § 25 Abs. 5 AufenthG ergebe, greift das Beschwerdevorbringen schon nicht substantiiert an.
31
3. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
32
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
33
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).