VG Augsburg, Urteil v. 25.05.2023 – Au 5 K 22.1033
Titel:

Fingierte Baugenehmigung ohne das erforderliche gemeindliche Einvernehmen

Normenketten:
BayBO Art. 67, Art. 68 Abs. 2
BayVwVfG Art. 42a
BauGB § 36 Abs. 1 S. 1
GG Art. 28 Abs. 2 S. 1
BV Art. 12 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Dem Eintritt der Genehmigungsfiktion steht nicht entgegen, dass das gemeindliche Einvernehmen verweigert wurde. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist die Genehmigungsfiktion eingetreten, ohne dass das gemeindliche Einvernehmen ordnungsgemäß ersetzt wurde, so wird die Gemeinde schon aus diesem Grund durch die Genehmigung in ihren Rechten verletzt. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fingierte Baugenehmigung, Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens, gemeindliche Planungshoheit, fehlende Anhörung der Gemeinde, fingierte Baugenehmigung, gemeindliches Einvernehmen, Ersetzung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 14281

Tenor

I. Die fingierte Baugenehmigung für das Vorhaben „Aufstockung des Einfamilienhauses; Errichtung einer Garage“ auf dem Grundstück, ... N., Fl.Nr., Gem. ... (Az. des LRA in der Bescheinigung vom 05.04.2022: ...) wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine fingierte Baugenehmigung für das Vorhaben der Beigeladenen zur Aufstockung eines Einfamilienhauses und Errichtung einer Garage.
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Die Beigeladene hatte am 27. Oktober 2021, eingegangen beim Landratsamt ... (im Folgenden: Landratsamt) am 4. November 2021, einen Bauantrag zur Aufstockung des Einfamilienhauses auf dem Grundstück ... Str., ...N. (Fl.Nr., Gemarkung ...) gestellt.
3
Die Klägerin wurde am 17. November 2021 digital am Verfahren beteiligt. Mit Beschluss vom 9. Dezember 2021 verweigerte der Bauausschuss der Klägerin das gemeindliche Einvernehmen zum Bauvorhaben und teilte dies dem Landratsamt am 14. Dezember 2021 mit. Aus dem Sitzungsprotokoll ergibt sich, dass der Bauausschuss angesichts der Nichteinhaltung der Abstandsflächen Zweifel hatte, inwieweit bei den geringen Abständen noch gesunde Wohnverhältnisse vorlägen bzw. die Maßnahme für den Nachbarn noch zumutbar sei.
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Am 29. November 2021 legte die Beigeladene eine Ergänzungsplanung vor, die den Anbau einer Garage und einer Terrassenüberdachung betraf. Die Ergänzungsplanung wurde der Klägerin nicht zur Kenntnis gegeben.
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Am 5. April 2022 bescheinigte das Landratsamt den Fiktionseintritt der beantragten Baugenehmigung zum „9. September 2021“ (richtig: 5. April 2022) für das beantragte Vorhaben „Aufstockung des Einfamilienhauses; Errichtung einer Garage“ entsprechend den mit dem Vermerk vom 5. April 2022 versehenen Bauvorlagen unter Bescheinigung einer Abweichung von der Tiefe der Abstandsflächen zum nördlichen Nachbarn auf einer Länge von 9,85 m auf 2,17 m bis 2,775 m anstelle der erforderlichen 3 m (Az. ...). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass drei Wochen nach Stellungnahme der Gemeinde am 14. Dezember 2021 die dreimonatige Frist für den Fiktionseintritt zu laufen begonnen habe, mithin am 4. Januar 2022. Nach Ablauf von drei Monaten von diesem Zeitpunkt an werde die Baugenehmigung zum 5. April 2022 fingiert. Die Bescheinigung über den Fiktionseintritt wurde der Klägerin am 12. April 2022 zugestellt.
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Am 25. April 2022 ließ die Klägerin Klage erheben und beantragen,
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Die fingierte Baugenehmigung für das Vorhaben „Aufstockung des Einfamilienhauses; Errichtung einer Garage“ auf dem Grundstück ... Str., ... N., Fl.Nr., Gem. ... (Az. des LRA in der Bescheinigung vom 05.04.2022: ...) wird aufgehoben.
8
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Anfechtungsklage zulässig und begründet sei. Die Fiktion der Baugenehmigung ersetze nicht ein von der Gemeinde versagtes Einvernehmen. Das Fehlen von Verfahrenshandlungen stehe zwar dem Eintritt der Fiktion aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegen, jedoch werde die Durchführung der Verfahrenshandlungen nicht fingiert, sodass ihr Fehlen zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führen würde. Eine Gemeinde könne somit bei Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens gerichtlich die Aufhebung der fingierten Baugenehmigung erwirken. Die der Gemeinde durch § 36 Baugesetzbuch (BauGB) bundesrechtlich garantierte Rechtsposition bei der Ausgestaltung des Baugenehmigungsverfahrens stehe nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers. Nachdem die Klägerin ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB form- und fristgerecht versagt habe und die Fiktion nicht auch die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens bewirkt habe, sei die fingierte Baugenehmigung aufzuheben. Im Übrigen sei die Baugenehmigung auch deswegen rechtswidrig, weil das Bauvorhaben aufgrund der geringen Abstände zum nördlichen Nachbarn keine gesunden Wohnverhältnisse mehr wahre und das Bauvorhaben für den nördlichen Nachbarn nicht zumutbar sei.
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Für den Beklagten beantragte das Landratsamt mit Schriftsatz vom 27. Mai 2022,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die vorliegende Fallkonstellation in der Rechtsprechung noch nicht aufgegriffen worden sei. Die Konstellation der gegebenenfalls das Einvernehmen ersetzenden Wirkung einer Fiktionsbescheinigung sei nicht geregelt. Zwar führe die Klägerin aus, dass § 36 BauGB als bundesrechtliche Vorschrift nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers stehe. Allerdings trete eine Relativierung durch die bayernweit regelmäßige Anwendung des Art. 67 Bayerische Bauordnung (BayBO) ein, welcher unstreitig dem Landesrecht zuzuordnen sei und auf § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB fuße. Im Zuge eines vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach Art. 59 BayBO sei es gesetzlich geboten, dass ein rechtswidrig verweigertes Einvernehmen nach § 36 BauGB durch die untere Bauaufsichtsbehörde ersetzt werde. Die Einführung der Genehmigungsfiktion nach Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V.m. § 9 Nr. 2 der Verordnung über die digitale Einreichung bauaufsichtlicher Anträge und Anzeigen (Digitale Bauantragsverordnung – DBauV) tue dieser Systematik grundsätzlich keinen Abbruch, da diese Rechtsvorschriften ausschließlich einen festen zeitlichen Abschluss für ein förmliches Genehmigungsverfahren vorsehen würden, sofern entsprechende Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt seien. Insbesondere sei hier die Entscheidung der Gemeinde über ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB hervorzuheben. Dabei bleibe es unbenommen, ob das gemeindliche Einvernehmen erteilt worden sei oder nicht. Dementsprechend sei der Eintritt der Genehmigungsfiktion im vorliegenden Fall nicht gleichzustellen mit der Fallkonstellation, in welcher die Baugenehmigungsbehörde gänzlich ohne Einschaltung der Gemeinde oder unter Missachtung eines rechtzeitig verweigerten Einvernehmens eine Baugenehmigung erteilt habe, da ohne eine Entscheidung der Gemeinde über das Einvernehmen keine Fiktion eintreten könne. Im vorliegenden Fall sei die Klägerin am 17. November 2021 elektronisch am Verfahren beteiligt worden. Sie habe damit die Möglichkeit gehabt, in Wahrnehmung ihrer Planungshoheit die materielle Rechtslage für die Beurteilung des Vorhabens mit Auswirkung auf die Genehmigungsentscheidung zu verändern und auf das Sicherungsinstrumentarium für die gemeindlichen Planungen in §§ 14 ff. BauGB zurückzugreifen. Hiervon habe die Klägerin keinen Gebrauch gemacht. Dementsprechend gehe der Eintritt der Genehmigungsfiktion, welcher in der vorliegenden Konstellation lediglich eine Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen und gerade nicht dessen positive Erteilung voraussetze, auch zulasten der Klägerin. Die Verweigerung der Mitwirkungshandlung sei kein genereller Fiktionsausschlussgrund, so dass die mitwirkungsberechtigte Behörde gegebenenfalls gegen die fingierte Genehmigung vorgehen könne. Das vorliegende Verfahren beweise, dass der Gemeinde keine Rechtsschutzmöglichkeiten abgeschnitten würden. Entgegen einiger Stimmen in der Literatur werde vorliegend nach Auffassung des Landratsamts auch das Ersetzen des gemeindlichen Einvernehmens mit fingiert. Die fingierte Baugenehmigung leide zwar insofern an formellen Mängeln, als die erforderliche Begründung und die Anhörung der Gemeinde unterblieben seien. Dies könne jedoch im Gerichtsverfahren nachgeholt werden. Insbesondere der sich aus Art. 67 BayBO ergebende Anhörungsmangel sei bereits durch Klageerhebung, Antragstellung und Begründung (konkludent) geheilt. Es wäre eine reine Förmelei, in diesem Fall die Bescheinigung des Fiktionseintritts aufzuheben und zugleich einen erneuten Genehmigungsbescheid desselben Inhalts mit ersetzender Wirkung zu erteilen. Dies würde den Verwaltungsaufwand unnötig erhöhen. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation sei die Bescheinigung des Fiktionseintritts nicht automatisch rechtswidrig, da die formellen Fehler nachholbar seien und es damit letztlich auf die materielle Rechtmäßigkeit der Fiktionsbescheinigung ankomme. Diese sei gegeben. Das Vorhaben füge sich hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, in die nähere Umgebung ein. Soweit sich die Klägerin im Rahmen ihrer Planungshoheit überhaupt auf die Wahrung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB berufen könne, seien diese jedenfalls gewahrt. Es sei ein ausreichender Zutritt von Licht, Luft und Sonne sowohl für das streitgegenständliche Vorhaben, als auch für das Gebäude auf Fl.Nr., jedenfalls durch ausreichende Abstände zur übrigen Umgebungsbebauung gewährleistet. Auch wenn zwischen dem Vorhaben und dem Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. ... im Norden nur wenige Meter Abstand bestünden, führe dies in der Gesamtschau der örtlichen Verhältnisse und Gegebenheiten, in die das streitgegenständliche Vorhaben hinein gebaut werde, nicht zu schlechthin untragbaren städtebaulichen Missständen. Insofern dränge sich der Eindruck auf, dass sich die Klägerin zur Sachwalterin privater Interessen mache. Das beantragte Vorhaben verletze auch das gebotene Maß der Rücksichtnahme nicht. Zwar seien die gesetzlichen Abstandsflächen zum Grundstück Fl.Nr. ... nicht eingehalten. Allerdings halte auch das Nachbargebäude selbst die erforderlichen Abstandsflächen zum streitgegenständlichen Grundstück nicht ein. Zudem hätten die Eigentümer dieser beiden Grundstücke durch Grunddienstbarkeiten gegenseitig den bestehenden Grenzabstand auch bei künftigen Um- und Erweiterungsbauten anerkannt. Aus diesen Gründen wäre das gemeindliche Einvernehmen nach Art. 67 BayBO zu ersetzen gewesen. Dieser Verfahrensschritt sei jedoch durch den Eintritt der Genehmigungsfiktion nicht mehr vorgenommen worden. Des Weiteren könne aus diesen Gründen eine Verlängerung der Fiktionsfrist nach Art. 42 a Abs. 2 Satz 3 Bayerisches Verwaltungs- und Verfahrensgesetz (BayVwVfG) aufgrund der teleologischen Auslegung des Art. 68 Abs. 2 BayBO im Hinblick auf das zu ersetzende Einvernehmen nicht in Betracht kommen.
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Mit Beschluss vom 26. April 2022 wurde die Bauherrin zum Verfahren beigeladen.
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Mit Schriftsatz vom 29. Mai 2022 trug der Bevollmächtigte der Beigeladenen vor, dass die Klägerin ihr Einvernehmen zwar ausdrücklich verweigert habe. Dies hindere jedoch den Eintritt der Genehmigungsfiktion nicht. Wenn andere Landesbauordnungen den Eintritt der Genehmigungsfiktion ausdrücklich für den Fall verneinen würden, dass das gemeindliche Einvernehmen versagt worden sei, müsse aus der geltenden Regelung nach Maßgabe der Art. 68 Abs. 2 BayBO und Art. 42a Abs. 1 BayVwVfG geschlossen werden, dass die Genehmigungsfiktion auch bei einer Verweigerung des Einvernehmens nach dem deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers bejaht werden müsse. Mit der vorliegenden fiktiven Genehmigung werde das verweigerte Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ersetzt. Es gehe vorliegend entgegen der Darstellung der Klägerin auch nicht um das Fehlen einer Verfahrenshandlung, deren Vornahme durch die fingierte Baugenehmigung nicht ersetzt werde, sondern um die Ersetzung eines tatsächlich verweigerten Einvernehmens. Bei Fehlen einer Verfahrenshandlung gebe es nichts zu ersetzen. Sei nämlich eine Gemeinde nicht eingeschaltet worden, komme es gerade nicht zu einem „Versagen des Einvernehmens“. Ein solcher Fall betreffe die gemeindliche Planungshoheit unmittelbar mit der Folge, dass für die Rechtmäßigkeit der fiktiven Genehmigung nichts spreche. Habe jedoch, wie hier, die Klägerin das Einvernehmen verweigert, lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB gerade vor. Ersetze in einem solchen Fall eine erteilte Baugenehmigung das gemeindliche Einvernehmen, gelte gleiches bei einer fiktiven Baugenehmigung nach Art. 42a BayVwVfG, dessen Formulierung mit § 42a Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) identisch sei. Das Problem bestehe bei Ersetzung des tatsächlich verweigerten Einvernehmens darin, dass bei einer fiktiven Genehmigung wegen Fristablaufs eine Ermessensausübung nach § 36 Abs. 2 BauGB ausfalle. Der Ausfall dieser Ermessensentscheidung könne jedoch für sich allein nicht ausreichen, um der Klägerin wegen Verletzung ihrer Planungshoheit ein Anfechtungsrecht zuzugestehen. Denn dann würden sämtliche fiktiven Baugenehmigungen in den Fällen eines versagten Einvernehmens mangels ausgeübten und auch dargestellten Ermessens rechtswidrig und anfechtbar. Dies habe zur Folge, dass die Klägerin gerade nicht die Genehmigungsfiktion mit Erfolg unabhängig davon anfechten könne, ob sie das Einvernehmen rechtmäßig verweigert habe. Entscheidend sei, dass eine Anfechtung aufgrund Verletzung der Planungshoheit der Klägerin nur dann Aussicht auf Erfolg haben könne, wenn die positive (fingierte) Ermessensentscheidung im konkreten Einzelfall die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschreite. Zwar berühre der mit der fingierten Genehmigung der Sache nach notwendig einhergehende Ermessensnichtgebrauch die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin könne mit ihrer Anfechtungsklage jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Verletzung ihres Beteiligungsrechts nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB darstelle, nämlich, dass die fingierte Ermessensentscheidung die Grenze des dem Beklagten zustehenden Ermessens überschreite. Allein der Ermessensausfall, der deshalb angenommen müsse, weil die Bescheinigung ohne eine inhaltliche, also auch materiell-rechtliche behördliche Prüfung ausgestellt werde, reiche nicht aus. Auch die weiteren, von der Klägerin vorgebrachten Gesichtspunkte würden die Rechtswidrigkeit der fiktiven Baugenehmigung nicht begründen. Die Behauptungen, aufgrund des geringen Abstands würden zum nördlichen Nachbarn keine gesunden Wohnverhältnisse mehr bestehen und das Bauvorhaben sei für diesen auch ansonsten unzumutbar, würden nicht näher dargestellt. Den Hintergrund bilde erkennbar allein der Umstand, dass die erteilte Baubescheinigung eine Unterschreitung der 3-m-Grenze gestatte. Die gestattete Unterschreitung betreffe das Bauordnungsrecht und nicht das Blauplanungsrecht und damit nicht die Planungshoheit der Klägerin. Ein ausdrücklicher Antrag werde seitens der Beigeladenen nicht gestellt.
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Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2022 ergänzte der Klägerbevollmächtigte das Klagevorbringen dahingehend, dass bereits der Wortlaut des Art. 68 BayBO eindeutig von der „Baugenehmigung“ spreche. Nur diese werde fingiert, nicht jedoch eine Einvernehmensersetzung als Ersatzvornahme. In systematischer Sicht zeige Art. 67 BayBO, dass ein Unterschied zwischen der Fiktion der Genehmigung und einer etwaigen Fiktion der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens bestehe. Hätte der Gesetzgeber mit der Baugenehmigungsfiktion auch die Ersetzung des Einvernehmens fingieren wollen, hätte es auch in Art. 67 BayBO eines Verweises auf Art. 42a BayVwVfG bedurft. Ein solcher fehle jedoch. Selbst für den Fall, dass man der Ansicht folge, eine fingierte Baugenehmigung ersetze zugleich das gemeindliche Einvernehmen, so wäre diese Baugenehmigung rechtswidrig und nicht heilbar. Es fehle die nach Art. 67 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO vorgesehene Begründung. Auch sei die betroffene Gemeinde entgegen Art. 67 Abs. 4 Satz 1 BayBO vor Erlass nicht angehört worden. Diese Fehler seien aber nicht heilbar und auch nicht unbeachtlich. Es handle sich um absolute Form- und Verfahrensfehler. Demnach sei die angegriffene fingierte Baugenehmigung rechtswidrig.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 4. Juli 2022 führte der Bevollmächtigte der Klägerin aus, dass das Vorhaben gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht wahre und damit auch rücksichtslos sei. Eine Unterschreitung der nach den landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften freizuhaltenden Abstandsflächen indiziere eine Beeinträchtigung der gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Auf diesen Verstoß könne sich die Klägerin auch berufen. Eine Abstandsflächenübernahme, die einen Verstoß gegen Abstandsflächenrecht ausschließen könne, liege nicht vor. Das Mindestmaß von 3 m sei ein gewichtiges Indiz dafür, ob die Belange von Belichtung, Belüftung, Besonnung und Wahrung des Wohnfriedens noch gewahrt seien. Eine Unterschreitung dieses Maßes indiziere eine Beeinträchtigung der gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Hinzu komme, dass das Bauvorhaben für den nördlichen Nachbarn dessen Südseite betreffe, also das von Süden kommende Sonnenlicht mindere. Durch den geringen Abstand zum nördlichen Nachbarn werde das dort ohnehin spärliche Sonnenlicht weiter reduziert oder gar ausgeschlossen. Im Ergebnis sei das gegenständliche Bauvorhaben deshalb auch rücksichtslos. Auf die weiteren Ausführungen in den Schriftsätzen vom 9. Juni 2022 und vom 4. Juli 2022 wird verwiesen.
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Auf Antrag der Klägerin vom 25. April 2022 ordnete das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss vom 5. Juli 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage an, weil die Erfolgsaussichten offen seien und im konkreten Fall das Suspensivinteresse das Interesse am sofortigen Vollzug der fingierten Baugenehmigung überwiege (Az. Au 5 S 22.1034).
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Der Bevollmächtigte der Beigeladenen führte mit Schriftsatz vom 25. August 2022 aus, dass die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorliegend gewahrt blieben. Die Reduktion der Abstandsfläche vor der nördlichen Außenwand des genehmigten Objekts erweise sich nicht als städtebaulicher Missstand. Die von der Klägerin diesbezüglich angeführte Indizwirkung wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsfläche von 3 m stehe dem nicht entgegen. Einen Erfahrungssatz, dass mit jeder Unterschreitung der gebotenen Abstandsfläche von 3 m gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht gewahrt seien, gebe es nicht. Es sei vorliegend zu berücksichtigen, dass sich die Abweichung über eine Länge von 9,85 m von 2,17 m auf 2,776 m verjünge, also gerade nicht eine einheitliche Unterschreitung von 0,83 m aufweise. Bei dem tatsächlich vorhandenen Abstand zwischen der Nordseite des genehmigten Objekts und der Südseite des Objekts auf Fl.Nr. ... und den freien Verhältnissen auf der Ost- und Westseite bestünden für das Objekt auf der Fl.Nr. ... ausreichende Belichtungs- und Belüftungsverhältnisse. Auch ein Verstoß gegen das planungsrechtlichen Rücksichtnahmegebot liege nicht vor. Hier sei auch zu berücksichtigen, dass auf dem Grundstück Fl.Nr. ... zugunsten der Fl.Nr. ... eine Grunddienstbarkeit des Inhalts laste, dass das Gebäude auf der Fl.Nr. ... auch bei künftigen Um- und Erweiterungsbauten im derzeit bestehenden Abstand zum Grundstück Fl.Nr. ... belassen werden könne. Diese Grunddienstbarkeitsbestellung habe Einfluss auf die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite des Rücksichtnahmegebots.
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Auf die weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 25. August 2022 wird verwiesen.
19
Am 3. April 2023 fand ein nichtöffentlicher Augenscheinstermin statt. Auf das hierüber angefertigte Protokoll und die Lichtbilder wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 5. April 2023 vertiefte der Bevollmächtigte der Beigeladenen nochmals seine Rechtsauffassung, wonach weder ungesunde Wohnverhältnisse entstünden noch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vorliege. Zwar werde durch die geplante Aufstockung die Verschattungswirkung auf der Südseite für das Objekt auf der Fl.Nr. ... intensiviert, hierdurch würden aber keine unzumutbaren, also ungesunden Wohnverhältnisse geschaffen. Dem Aspekt der Belüftung werde ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass das Objekt auf der Fl.Nr. ... ausreichend Fenster und Türen aufweise und die umstehende Bebauung eine ausreichende Belüftung nicht hindere. Nach dem Abschnitt 4.3 „Helligkeit“ der Neufassung der DIN 5034-1:2021-08 führe das Einhalten jeder Empfehlungsstufe an die Tageslichtversorgung der DIN EN 17037:2019-3 automatisch zum Erfüllen der Mindestanforderungen dieses Dokuments an die Helligkeit. Für das Objekt auf Fl.Nr. ... sei die Empfehlungsstufe „gering“ mit einer Besonnungsdauer von 1,5 Stunden erreichbar. Hierfür genüge die Besonnung im Osten und Westen sowie im Süden, wenn die Sonne einen entsprechenden Sonnenhöhenwinkel > 11° erreicht habe. Auch die Empfehlungsstufe „mittel“ mit 3 Stunden sei nach Auffassung der Beigeladenen erreichbar. Das Objekt auf der Fl.Nr. ... weise auf der Südseite drei Fenster auf, zwei im Erdgeschoss und eines im Dachgeschoss. Dachflächenfenster weise das Objekt nicht auf. Fenster und Türen seien im Erdgeschoss sowohl auf der West- als auch auf der Ostseite vorhanden. Die vorhandene Bebauung im Umfeld hindere eine Belichtung, Belüftung und Besonnung weder auf der Ost- noch auf der Westseite. Die Erhöhung des Bestandsobjekts auf der Fl.Nr. ... um ein Stockwerk und damit um ca. 2,75 m verstärke zwar die Verschattungswirkung auf der Südseite der Fl.Nr. .... Dies habe aber keine Auswirkung auf die Belüftung und die Auswirkungen auf die Belichtung und die Besonnung überstiegen nicht das Zumutbarkeitsmaß. Ungesunde Wohnverhältnisse würden hierdurch nicht geschaffen. Die Normanforderungen der DIN 5034-1:2021-08 in Verbindung mit der DIN EN 17037: 2019-03 bzw. in der Fassung 2022, Tageslicht in Gebäuden, werde eingehalten. Da sich das genehmigte Objekt mit einer Aufstockung um ein Geschoss im Rahmen der in der Umgebung vorhandenen, zweigeschossigen Bauweise halte, könne allein aus der Aufstockung keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots abgeleitet werden. Da bei der genehmigten Aufstockung zudem mindestens die Empfehlungsstufe „gering“ der genannten DIN-Normen eingehalten werde, würden die objektiven Zumutbarkeitsschranken eingehalten und nicht verletzt. Zusätzlich sei vorliegend zu berücksichtigen, dass das konkrete Rücksichtnahmeverhältnis durch die vorhandene Grunddienstbarkeit geprägt werde.
21
Auf die weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 5. April 2023 wird verwiesen.
22
Am 25. Mai 2023 fand die mündliche Verhandlung vor Gericht statt.
23
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der vom Beklagten vorgelegten Behördenakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Die streitgegenständliche, fingierte Baugenehmigung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihrer gemeindlichen Planungshoheit (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Sie war deshalb aufzuheben.
25
1. Die Klage ist zulässig.
26
Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG gelten für die fingierte Baugenehmigung die Vorschriften über das Rechtsbehelfsverfahren entsprechend. Auch die fingierte Baugenehmigung kann daher einer gerichtlichen Überprüfung, z.B. durch die Gemeinde, unterzogen werden (Decker in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Sept. 2021, Art. 68 Rn. 425).
27
Die Klägerin ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Die in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG), Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Bayerische Verfassung (BV) verankerte Planungshoheit der Gemeinde wird im Baugenehmigungsverfahren dadurch geschützt, dass nach § 36 Abs. 1 Satz 1 und 2 BauGB die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens nach den §§ 31 und 33 bis 35 BauGB grundsätzlich nur im Einvernehmen mit der Gemeinde bejaht werden darf. Gegen eine ohne ihren Willen erteilte Baugenehmigung kann die Gemeinde deshalb vor Gericht angehen (BVerwG, U.v. 7.2.1986 – 4 C 43/83 – BayVBl 1986, 729-731; BayVGH, U.v. 13.3.2002 – 2 B 00.3129 – juris Rn. 18; s. hierzu auch Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Auflage 2022, § 34 Rn. 24). Nichts Anderes kann für die Fiktion der Baugenehmigung gelten. Nachdem die Klägerin die Erteilung des Einvernehmens verweigert hat, kann sie eine mögliche Verletzung ihrer Planungshoheit geltend machen.
28
2. Die Klage ist auch begründet.
29
Die fingierte Baugenehmigung für das Vorhaben „Aufstockung des Einfamilienhauses; Errichtung einer Garage“ auf dem Grundstück ... Str., ... N., Fl.Nr., Gem. ... (Az. des LRA in der Bescheinigung vom 05.04.2022: 1...) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage ist bereits deshalb erfolgreich, weil die fingierte Baugenehmigung ohne Wahrung des nach § 36 BauGB, Art. 67 BayBO vorgesehenen Verfahrens zur Ersetzung und damit im Ergebnis ohne ordnungsgemäße Ersetzung des verweigerten gemeindlichen Einvernehmens zustande gekommen ist.
30
a) Zwar ist die Genehmigungsfiktion eingetreten. Dem Eintritt der Genehmigungsfiktion nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 42a BayVwVfG steht das fehlende gemeindliche Einvernehmen nicht entgegen.
31
Das Bauvorhaben liegt unstreitig im unbeplanten Innenbereich, § 34 Abs. 1 BauGB. Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB durfte deshalb über den Bauantrag nur im Einvernehmen mit der Klägerin entschieden werden. Der Bauausschuss der Klägerin hat das Einvernehmen mit Beschluss vom 9. Dezember 2021 jedoch versagt. Ohne dass es entscheidend darauf ankäme, wird darauf hingewiesen, dass eine erneute Beteiligung der Klägerin nach Eingang der Änderungsplanung vom 29. November 2021 nach Auffassung des Gerichts nicht erforderlich war, weil das Vorhaben dadurch nicht in einer Weise geändert wurde, die eine erneute Befassung der Klägerin mit der Einvernehmensfrage erfordern würde. Die Ergänzung des Bauantrags um eine Garage und eine Terrassenüberdachung verändert das Bauvorhaben nicht wesentlich und betrifft insbesondere nicht die von der Klägerin im Beschluss vom 9. Dezember 2021 angeführten Gründe für die Versagung des Einvernehmens sowie die weiteren planungsrechtlichen Voraussetzungen des § 34 BauGB.
32
Die Fiktion der Baugenehmigung ist jedoch trotz fehlendem Einvernehmen eingetreten. Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 42a BayVwVfG entfaltet die Genehmigungsfiktion die gleichen Wirkungen wie eine ordnungsgemäß zustande gekommene und bekannt gegebene Baugenehmigung. Dies gilt auch für die Fälle, in denen das gemeindliche Einvernehmen verweigert wurde (Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr v. 25.11.2021 zur BayBO 2021, S. 21; Decker in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Sept. 2021, Art. 68 Rn. 424; Greim-Diroll in BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, Stand: 15.03.2023, Art. 68 Rn. 35o). Das Fehlen von Verfahrenshandlungen steht dabei dem Eintritt der Fiktion aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegen. Gleiches gilt auch für die Fälle, in denen das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB verweigert wurde (s. hierzu auch OVG Saarl, U.v. 9.3.2006 – 2 R 8/05 – juris Rn. 34; Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 52). Einzige Voraussetzung für den Eintritt der Fiktion ist nämlich die Vollständigkeit des Bauantrags (Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG). Damit sind jedoch nicht die außerhalb des Einwirkungsbereichs des Bauherrn stehenden, verwaltungsinternen Beteiligungen etwa der Gemeinde oder die Herstellung des gemeindlichen Einvernehmens gemeint.
Dem Eintritt der Genehmigungsfiktion steht demnach nicht entgegen, dass das Einvernehmen verweigert wurde. Mit dem Eintritt der Fiktion tritt auch ein fiktiver Abschluss des Baugenehmigungsverfahrens ein (s. hierzu auch OVG Saarl, U.v. 9.3.2006 a.a.O. juris Rn. 29, 30, 35).
33
Soweit mit der Bescheinigung vom 5. April 2022 der Eintritt der Genehmigungsfiktion zum „9. September 2021“ bescheinigt wird, handelt es sich dabei um einen offensichtlichen Übertragungsfehler, wie der Beklagte im Schriftsatz vom 27. Mai 2022 (im Verfahren Au 5 S 22.1034) auch bestätigt hat. Der Eintritt der gesetzlich geregelten Genehmigungsfiktion mit Ablauf des 4. April 2022, also zum 5. April 2022, kann hierdurch ohnehin nicht gehindert werden.
34
b) Die fingierte Baugenehmigung erweist sich jedoch als rechtswidrig. Die Klägerin hat die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens zum Bauvorhaben der Beigeladenen verweigert. Ohne das Einverständnis der Gemeinde darf eine Baugenehmigung aber nicht erteilt werden, gegebenenfalls muss das Einvernehmen ersetzt werden. Wird ohne Beteiligung der Gemeinde bzw., ohne ein verweigertes Einvernehmen ordnungsgemäß ersetzt zu haben, positiv über die planungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens entschieden, wird die Gemeinde schon aus diesem Grund durch die Genehmigung in ihren Rechten verletzt (BVerwG, B.v. 11.8.2008 – 4 B 25.08 – BayVBl 2009, 27; Laser in Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 67 Rn. 13). So liegt der Fall auch hier, weil die Genehmigungsfiktion eingetreten ist, ohne dass das gemeindliche Einvernehmen ordnungsgemäß ersetzt wurde.
35
aa) Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB darf über die Zulässigkeit von Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren von der Baugenehmigungsbehörde nur im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden werden. Für den Fall der Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens enthält § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB eine Öffnungsklausel zugunsten landesrechtlicher Vorschriften, wonach die nach Landesrecht zuständige Behörde ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde ersetzen kann. Diese bundesrechtliche Regelung gibt demnach ausdrücklich vor, dass einem (rechtswidrig) verweigerten Einvernehmen nur mittels einer „Ersetzung“ begegnet werden kann. Die Ausgestaltung des konkreten Verfahrens zur Ersetzung des Einvernehmens ist dem Landesgesetzgeber vorbehalten. Die Möglichkeit eines gänzlichen Verzichtes auf das Einvernehmenserfordernis bei rechtswidriger Verweigerung ist jedoch im Landesrecht nicht möglich, weil damit der landesrechtliche Gesetzgeber durch die besondere Verfahrensgestaltung über das bundesrechtliche Einvernehmenserfordernis disponieren würde (s. hierzu auch Lang, Die Fiktion der Baugenehmigung nach Art. 68 Abs. 2 BayBO, BayVBl. 24/2021, S. 835). Der bayerische Landesgesetzgeber hat die Öffnungsklausel des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB in Art. 67 BayBO umgesetzt. Darin sind u.a. eine Anhörung der Gemeinde vor Erlass der Genehmigung (Art. 67 Abs. 4 Satz 1 BayBO) sowie eine Begründung (Art. 67 Abs. 3 Satz 1 BayBO) vorgesehen.
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bb) Nach Auffassung der Kammer ist in Art. 67 BayBO die einzige landesrechtliche Verfahrensregelung zur Umsetzung des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB zu sehen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der bayerische Gesetzgeber neben dem Verfahren zur Ersetzung nach Art. 67 BayBO mit den Regelungen in Art. 68 Abs. 2 BayBO zugleich eine zweite, gleichrangig neben Art. 67 BayBO stehende Variante zur Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens in den Fällen der Genehmigungsfiktion in Vollzug der Öffnungsklausel des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB eröffnen wollte.
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Dies ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Regelungen in Art. 67 und Art. 68 Abs. 2 BayBO noch aus der Gesetzessystematik oder den Vollzugshinweisen zu Art. 68 Abs. 2 BayBO. In Art. 67 Abs. 1 Satz Halbs. 2 BayBO wird ausdrücklich geregelt, dass in den Fällen des § 36 Abs. 1 Satz 1 und 2 BauGB das fehlende Einvernehmen nach Maßgabe von Abs. 2 bis 4 zu ersetzen ist. Diese Regelung ist abschließend formuliert, dient offenkundig der Umsetzung der in § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB eingeräumten Möglichkeit und bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass in den Fällen der fingierten Baugenehmigung etwas Anderes gelten solle. Ein Verweis auf Art. 42a BayVwVfG wurde nicht eingefügt. Systematisch ist Art. 67 BayBO dem Art. 68 Abs. 2 BayBO vorangestellt. Hätte der Landesgesetzgeber demnach in Art. 68 Abs. 2 BayBO abweichende Voraussetzungen für die Ersetzung des Einvernehmens in den Fällen der Fiktion statuieren wollen, hätte dies einer ausdrücklichen Regelung bedurft, entweder in Form einer Ergänzung des Art. 67 BayBO oder in Form entsprechender Regelungen unmittelbar in Art. 68 BayBO.
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Dass der bayerische Gesetzgeber den bloßen Zeitablauf im Falle des Eintritts der Genehmigungsfiktion als einen Akt des „Ersetzens“ i.S. des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ansehen wollte, ergibt sich demnach bei keiner Betrachtungsweise. Zudem würde bei einer „Mitfiktion“ des Einvernehmens die landesrechtliche Regelung über das bundesrechtliche Einvernehmenserfordernis des § 36 BauGB gestellt. Im Übrigen ist fraglich, ob eine derartige Form des „Ersetzens“ den bundesrechtlichen Vorgaben im Falle eines rechtswidrig verweigerten Einvernehmens ausreichend Rechnung tragen würde. Die Regelungen in § 36 Abs. 1 und 2 BauGB sind Ausdruck der gemeindlichen Planungshoheit und damit des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts. Entscheidet sich die nach Landesrecht zuständige Behörde dafür, das Einvernehmen zu ersetzen, so stellt diese Entscheidung einen in die Planungshoheit der betroffenen Gemeinde eingreifenden Verwaltungsakt dar. Rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht es, in Fällen dieser Art die Gemeinde vorher anzuhören (HessVGH, B.v. 20.12.2006 – 9 UE 1572/06 – juris Rn. 41). Die verfahrensrechtlichen Schritte zur Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens müssen der betroffenen Gemeinde letztlich die Möglichkeit geben, ihre die Herstellung des Einvernehmens ablehnende Entscheidung noch einmal zu überdenken bzw. im Lichte des Risikos einer Ersetzung dieser Entscheidung durch die Bauaufsichtsbehörde vertieft zu rechtfertigen (HessVGH, B.v. 20.12.2006 a.a.O. Rn. 41). Diese Möglichkeit würde der betroffenen Gemeinde bei einer „Mitfiktion“ des Einvernehmens genommen. Die nach Art. 67 Abs. 4 Satz 1 BayBO vorgesehene Anhörung entfiele ebenso wie die nach Art. 67 Abs. 3 Satz 1 BayBO vorgesehene Begründung. Damit ist der Fall vergleichbar mit den Fällen, in denen die Bauaufsichtsbehörde eine förmliche, dem Einvernehmenserfordernis unterliegende Genehmigungsentscheidung gänzlich ohne Einschaltung der Gemeinde oder unter Missachtung eines (rechtzeitig) verweigerten Einvernehmens erteilt hat. Ein derartiger Rechtsverstoß begründet einen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung, ohne dass es darauf ankommt, ob das Einvernehmen zu Recht oder zu Unrecht verweigert wurde (OVG Saarland, U.v. 9.3.2006, a.a.O. Rn. 37; so auch HessVGH, B.v. 20.12.2006 a.a.O. Rn. 42).
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Auch mit Blick auf den Beschleunigungsgedanken, der den Regelungen des Art. 68 Abs. 2 BayBO zugrunde liegt, ergibt sich nichts Anderes. Zwar ist dem Beklagten darin zuzustimmen, dass es in Fällen des verweigerten gemeindlichen Einvernehmens in Fallkonstellationen wie der vorliegenden sogar eher zu einer Verfahrensverzögerung als zu einer Beschleunigung kommen kann. Wenn die fingierte Baugenehmigung allein wegen der fehlenden Durchführung des Verfahrens nach Art. 67 BayBO aufgehoben werden muss, hat der Bauherr ein zweites Genehmigungsverfahren durchzuführen, obwohl ihm möglicherweise ein Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung zusteht und das gemeindliche Einvernehmen in rechtswidriger Weise verweigert wurde. Allein diese Überlegungen rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer „Mitfiktion“ des Einvernehmens unter Verzicht auf ein Ersetzungsverfahren. Einer längeren Verfahrensverzögerung kann von Seiten des Bauherrn zum einen dadurch begegnet werden, dass er im Falle der Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 BayBO auf den Eintritt der Genehmigungsfiktion verzichtet. Zudem wurde in § 9 DBauV vom 2. Februar 2021, in Kraft ab 1. Mai 2023, geregelt, dass Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO mit der Maßgabe gilt, dass die Frist für die Entscheidung frühestens drei Wochen nach Zugang der Entscheidung der Gemeinde über ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB bei der Bauaufsichtsbehörde beginnt. Die Verlängerung der Frist spricht dafür, dass bis zum Eintritt der Genehmigungsfiktion noch ein ausreichender Zeitraum zur Verfügung gestellt werden sollte, um eine Anhörung der Gemeinde durchzuführen. Die mit der Einführung des Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO auch verbundene Verfahrenserleichterung für die Baugenehmigungsbehörden wird dadurch zwar teilweise wieder aufgehoben. Dies ist jedoch nach Auffassung der Kammer mit Blick auf die letztlich verfassungsrechtlich garantierte Stellung der Gemeinde im Baugenehmigungsverfahren zur Sicherung ihrer Planungshoheit und unter Berücksichtigung der bundesrechtlichen Vorgaben in § 36 Abs. 1 und 2 BauGB hinzunehmen.
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Die Wirkungen der Fiktionsgenehmigung können zudem nicht weiter reichen, als diejenigen einer im formalen Verfahren erteilten Baugenehmigung. Nach Art. 67 Abs. 3 Satz 1 BayBO gilt die Baugenehmigung zwar zugleich als Ersatzvornahme. Dies gilt jedoch nur, wenn die Genehmigungsbehörde das Fehlen des Einvernehmens erkannt und daraufhin das Anhörungsverfahren durchgeführt hat (Dirnberger in Busse/Kraus, a.a.O., Art. 67 Rn. 122). Nichts Anderes kann demnach für die fingierte Baugenehmigung gelten, die in ihren Wirkungen einer förmlich erteilten Baugenehmigung gleichsteht, aber auch nicht darüber hinaus reichen kann. Ist die Anhörung demnach, wie vorliegend, nicht durchgeführt worden, ist die auf diesem Verstoß beruhende (Fiktions-)Genehmigung rechtswidrig. Die unterbliebene Anhörung wird auch nicht nach Art. 46 BayVwVfG unbeachtlich (Dirnberger in Busse/Kraus, a.a.O., Art. 67 Rn. 108; Laser in Schwarzer/König, a.a.O., Art. 67 Rn. 23). Die Missachtung des gesetzlich gewährleisteten Rechts einer Gemeinde führt deshalb zur Aufhebung der fingierten Baugenehmigung, einer materiell-rechtlichen Überprüfung der Rechtslage bedarf es nicht (s. hierzu auch BayVGH, U.v. 20.10.1998 – 20 A 98.40022 – juris Rn. 34; BayVGH, U.v. 13.3.2002 – 2 B 00.3129 – juris Rn. 18). Nichts Anderes kann nach Auffassung der Kammer in den Fällen der fingierten Baugenehmigung gelten, wenn ein Anhörungsverfahren nicht durchgeführt wurde.
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3. Nach alledem verletzt die mit der Klage angefochtene fingierte Baugenehmigung für das Bauvorhaben der Beigeladenen die Klägerin in ihren Rechten, ohne dass es auf die Frage ankommt, ob das gemeindliche Einvernehmen zu Recht verweigert wurde. Die Klage erweist sich deshalb als erfolgreich, die zum 5. April 2022 fingierte Baugenehmigung zugunsten der Beigeladenen war aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da die Beigeladene keinen eigenen Antrag gestellt hat und sich mithin auch nicht dem Prozessrisiko ausgesetzt hat, hat sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
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Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 Abs. 2 VwGO, 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
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5. Die Berufung war nach § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen, weil der Rechtssache nach Auffassung der Kammer grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Sie wirft konkrete Rechtsfragen auf, deren Klärung im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung geboten ist.