BayObLG, Beschluss v. 31.05.2023 – 207 StRR 135/23
Titel:
Reichweite der negativen Beweiskraft des Protokolls bei Hinweisen nach § 265 StPO
Normenkette:
StPO § 265 Abs. 1, Abs. 2, § 273 Abs. 1, § 274
Leitsatz:
Bei dem Hinweis nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO ist, so dass der Hinweis und sein wesentlicher Inhalt nach § 274 StPO nur durch das Sitzungsprotokoll nachgewiesen werden können. Wenn das Protokoll aber ersichtlich nicht den genauen Wortlaut des Hinweises wiedergibt oder seine Angaben erkennbar unvollständig sind (insbesondere hinsichtlich der Erläuterung der zugrundeliegenden Tatsachen), kann das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises feststellen, welchen genauen Inhalt der Hinweis hatte und welche Tatsachen zusammen mit ihm vom Gericht angesprochen wurden. (Rn. 6 – 7) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Hinweispflicht, Protokollierungspflicht, Beweiskraft des Protokolls, negative Beweiskraft des Protokolls, Freibeweis
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Urteil vom 28.10.2022 – J Ns 12 Js 11726/18 jug
Fundstellen:
LSK 2023, 14176
BeckRS 2023, 14176
NStZ 2023, 765
Tenor
I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 28. Oktober 2022 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin im Revisionsverfahren zu tragen.
Gründe
1
1. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revision hat keine durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
Zum Revisionsvorbringen (auch in den Schriftsätzen vom 24. Mai 2023) sind folgende Bemerkungen veranlasst:
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a) Die allein per Fax übersandte Revisionsbegründung des Rechtsanwaltes Z. vom 19. Januar 2023 entspricht nicht den Formanforderungen der §§ 345 Abs. 2, 32d S. 2 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 32d Rdn. 2). Diese enthält allerdings nur Ausführungen zur Sachrüge und beeinträchtigt damit die Zulässigkeit der Revision des Angeklagten aufgrund der zur Verfahrens- und Sachrüge ausführenden formgerechten Revisionsbegründung des weiteren Verteidigers insgesamt nicht.
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b) Die Verfahrensrüge der Verletzung von § 265 Abs. 1 und 2 StPO hat keinen Erfolg, weil ein entsprechender Verstoß nicht nachgewiesen ist.
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Die Revision führt zwar zutreffend aus, dass eine gerichtliche Hinweispflicht nicht nur bei Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes, sondern auch bei einer wesentlich veränderten Sachlage besteht (vgl. auch § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO n. F.), zu welcher eine Verurteilung wegen eines anderen Sachverhaltes als dem in der Anklageschrift genannten zweifellos zählt.
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Ebenso trifft zu, dass der Hinweis nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO ist, so dass der Hinweis und sein wesentlicher Inhalt nach § 274 StPO nur durch das Sitzungsprotokoll nachgewiesen werden können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 265 Rdn. 33 m. w N.). Wenn das Protokoll aber ersichtlich nicht den genauen Wortlaut des Hinweises wiedergibt oder seine Angaben erkennbar unvollständig sind (insbesondere hinsichtlich der Erläuterung der zugrundeliegenden Tatsachen), kann das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises feststellen, welchen genauen Inhalt der Hinweis hatte und welche Tatsachen zusammen mit ihm vom Gericht angesprochen wurden (vgl. BGH, Urteil vom 08.10.1963, 1 StR 553/62, BGHSt 19, 141, 143; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg (LR-StPO), StPO, 27. Aufl., § 265 Rdn. 82 und 83).
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Um die letztgenannte Sachverhaltskonstellation handelt es sich auch hier: insbesondere durch den Hinweis auf eine andere Strafvorschrift und die Bezugnahme auf die Aussage der Zeugin A. war der protokollierte Inhalt der tatsächlichen Hinweise des Gerichts ersichtlich unvollständig, so dass der Senat zur Ermittlung seines vollständigen Inhalts auf die dienstlichen Stellungnahmen der erkennenden Richter und des Sitzungsstaatsanwaltes zurückgreifen konnte. Danach hat das Gericht darauf hingewiesen, dass eine Strafbarkeit des Angeklagten aufgrund der Spermaspuren am T-Shirt des Opfers auch durch Onanieren vor diesem in Betracht komme, was auch mit dem (protokollierten) Hinweis auf § 174 Abs. 3 Nr. 1 StGB zwanglos vereinbar ist. Dies führt ungeachtet des fortdauernden Bestreitens durch die Verteidigung dazu, dass der Verfahrensverstoß nicht bewiesen ist, so dass die Rüge erfolglos bleibt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 337 Rdn. 12 m. w. N.).
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c) Auch die Sachrüge deckt Rechtsfehler des Schuld- oder Strafausspruches nicht auf. Insoweit wird zur Begründung zunächst auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 4. April 2023 Bezug genommen. Ergänzend ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die weiteren Ausführungen der Revision zur Betreuerbestellung für den Angeklagten im Schriftsatz vom 22. Februar 2023 urteilsfremd und damit dem Revisionsverfahren nicht zugrunde zu legen sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 337 Rdn. 22).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Sätze 1 und 2 StPO.