VGH München, Beschluss v. 18.04.2023 – 2 CS 22.2126
Titel:
Begriff des Doppelhauses bei grenzständiger Bebauung
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO § 22 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Mit dem wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bei einer Bebauung als Doppelhaus oder Hausgruppe eine besondere Rücksichtnahmeverpflichtung verbunden, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den durch ein Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet und der Doppelhauscharakter durch die Änderung entfällt. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kein Doppelhaus bilden zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden. Demnach liegt eine bauliche Einheit vor, wenn die einzelnen Gebäude einen harmonischen Gesamtkörper bilden, der nicht den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Doppelhaus- bzw. Hausgruppencharakter, Baugenehmigung, Nachbarklage, Innenbereich, grenzständige Bebauung, Rücksichtnahmegebot, Einfügen, Doppelhaus, Begriff
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 05.09.2022 – M 8 SN 22.3423
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10146
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Beigeladene hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg, weil die dargelegten Gründe keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO rechtfertigen (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO).
2
Mit dem Verwaltungsgericht ist nach einer einem Eilverfahren wie diesem angemessenen summarischen Prüfung (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009. 581) davon auszugehen, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung die Antragsteller voraussichtlich in nachbarschützenden Rechten verletzt. Die Kammer hat entscheidungstragend darauf abgehoben, dass das geplante Vorhaben gegen das Rücksichtnahmegebot in seiner besonderen Ausprägung der Grundsätze der sogenannten Doppelhaus- bzw. Hausgruppenrechtsprechung (im Folgenden Doppelhausrechtsprechung) des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris) verstößt: Das streitgegenständliche Vorhaben befinde sich – abgesehen von dem übergeleiteten Bauliniengefüge – im unbeplanten Innenbereich. Sei dieser – wie hier – in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinn von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, füge sich ein grenzständiges Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, wenn es grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus oder eine Hausgruppe zu bilden. Dies sei im hier zu entscheidenden Fall nicht mehr gewährleistet, nachdem ein Teil des geplanten Gebäudes zwar an die Gebäudeflucht des benachbarten Gebäudes der Antragsteller anschließe, dann aber in einem Abstand von jeweils ca. 3 m zur Grundstücksgrenze nach Norden um 5,11 m und nach Süden um 4,57 m vor- bzw. zurückspringe. Der geplante Baukörper habe insgesamt eine Tiefe von 18,21 m und sei damit mehr als doppelt so tief wieder Baukörper der Antragsteller (ca. 8,6 m). Insgesamt würde ein Baukörper entstehen, der anders als das Gebäude der Antragsteller ausgerichtet sei und insoweit selbst als Doppelhaus in Erscheinung trete. Dies würde den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus hervorrufen.
3
Auch in Ansehung der Beschwerdebegründung teilt der Senat diese Ansicht der Kammer. Nach der sogenannten Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der Senat angeschlossen hat (U.v. 11.12.2014 – 2 BV 13.789 – juris), ist mit dem wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bei einer Bebauung als Doppelhaus oder Hausgruppe eine besondere Rücksichtnahmeverpflichtung verbunden. Danach bindet dieser Verzicht die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessensausgleichs ein, wodurch die Baufreiheit zugleich erweitert und beschränkt wird. Einerseits wird durch die Möglichkeit des Grenzanbaus die bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke erhöht, was aber durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, erkauft wird. Diese Interessenlage rechtfertigt es, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den durch ein Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet und der Doppelhauscharakter durch die Änderung entfällt.
4
Ein Doppelhaus im Sinne von § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden. Demnach liegt eine bauliche Einheit vor, wenn die einzelnen Gebäude einen harmonischen Gesamtkörper bilden, der nicht den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt. Voraussetzung ist insoweit zwar nicht, dass die Einzelhäuser gleichzeitig und deckungsgleich errichtet werden müssen. Ein einheitlicher Gesamtbaukörper kann auch dann vorliegen, wenn etwa aus gestalterischen Gründen die gemeinsame vordere und/oder rückwärtige Außenwand des einheitlichen Baukörpers durch kleine Vor- und Rücksprünge aufgelockert wird. Zu fordern ist jedoch, dass die einzelnen Gebäude zu einem wesentlichen Teil (quantitativ) und in wechselseitig verträglicher und harmonischer Weise (qualitativ) aneinandergebaut sind. In quantitativer Hinsicht können bei der Beurteilung der Verträglichkeit des Aneinanderbauens insbesondere die Geschosszahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und -breite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen sein. In qualitativer Hinsicht kommt es unter anderem auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an. Bei den quantitativen Kriterien ist eine mathematisch-prozentuale Festlegung nicht möglich, vielmehr ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls anzustellen. Es ist qualitativ insbesondere die wechselseitig verträgliche Gestaltung des Gebäudes entscheidend; auf die umgebende Bebauung kommt es insoweit nicht an. Die beiden Haushälften können auch zueinander versetzt oder gestaffelt an der Grenze errichtet werden, sie müssen jedoch zu einem wesentlichen Teil aneinandergebaut sein. Kein Doppelhaus entsteht danach, wenn ein Gebäude gegen das andere an der gemeinsamen Grundstücksgrenze so stark versetzt wird, dass ein vorderer oder rückwärtiger Versprung den Rahmen eine wechselseitigen Grenzbebauung überschreitet, den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt und dadurch einen neuen Bodennutzungskonflikt auslöst.
5
Hier ist es offensichtlich, dass die Errichtung des geplanten Bauvorhabens das nachbarliche Austauschverhältnis aus dem Gleichgewicht bringen würde. Eine Abstimmung des geplanten Vorhabens mit dem Gebäude der Antragsteller ist aufgrund der erheblichen Erweiterungen des abzubrechenden bzw. abgebrochenen Baukörpers in nördlicher und südlicher Richtung, der Dachgeschosserweiterungen, einer mit dem Nachbargebäude nicht mehr vergleichbaren Grundfläche und dem insgesamt hieraus resultierenden Baukörpervolumen nicht mehr erkennbar. Das Bauvorhaben hat im Erdgeschoss eine Grundfläche von etwa 156 m², wohingegen das Gebäude der Antragsteller eine Grundfläche von nur etwa 60 m² aufweist. Ein in etwa gleiches Missverhältnis besteht unter Berücksichtigung der Gesamtbaukörper, wobei hinzukommt, dass das Dachgeschoss des geplanten Gebäudes aufgrund von vier geplanten Dachgauben sowie der etwas größeren Gesamthöhe des geplanten Gebäudes viel deutlicher als zusätzliches Geschoss in Erscheinung tritt, nachdem das Gebäude der Antragsteller im Dachgeschoss nur über Dachliegefenster verfügt. Schließlich steht der größere Teil des geplanten Baukörpers nun nicht mehr – wie das Gebäude der Antragsteller und das bisherige Gebäude – mit der Traufe zu Erschließungsstraße, sondern mit der Giebelseite. Demgegenüber kann die Beschwerdebegründung – insoweit in leichter Abweichung zur Berechnung des Erstgerichts – nicht mit Aussicht auf Erfolg einwenden, der geplante Baukörper solle zu etwa 54% an das Bestandsgebäude angebaut werden. Selbst wenn dies zuträfe, bliebe insgesamt dennoch ein deutliches Missverhältnis bestehen. Entgegen der Zulassungsbegründung kommt es qualitativ auch nicht auf die sonstige Umgebungsbebauung an (vgl. oben). Schließlich führt ein Verstoß gegen die gegenseitige Rücksichtnahme ohne weiteres zu bodenrechtlichen Spannungen (BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – juris).
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Auf die Ausführungen der Zulassungsbegründung, das genehmigte Bauvorhaben würde entgegen der Meinung der Antragsteller die notwendigen Abstandsflächen einhalten, kommt es deshalb nicht mehr an. Gleiches gilt für die Ausführungen zum Nichtvorliegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme im Übrigen. Die Ansicht des Erstgerichts, der bestandskräftige Vorbescheid vom 20. Dezember 2018, der ein teilweise vergleichbares Vorhaben zum Gegenstand habe, stehe der Anfechtung der Baugenehmigung durch die Antragsteller nicht entgegen, da er aufgrund der dortigen Fragestellung keine Bindungswirkung für die Frage des Verstoßes des aktuellen Vorhabens gegen das Gebot der Rücksichtnahme entfalte, tritt die Beschwerdebegründung nicht substantiiert entgegen. Sie beschränkt sich darauf, für die zeitliche Fortdauer der Bindungswirkung des Vorbescheids zu argumentieren, ohne auf die inhaltliche Bindungswirkung einzugehen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.