FG Nürnberg, Urteil v. 30.03.2022 – 3 K 783/21
Titel:

Kindergeld für Kinder einer rumänischen Saison-Arbeitnehmerin

Normenkette:
EStG § 1 Abs. 3, § 31 S. 3, § 52 Abs. 50 S. 1,§ 62 Abs. 1 S. 1, § 63, § 67, § 70 Abs. 1 S. 2
Leitsatz:
Die Trennung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren ist für jede Steuerart verbindlich, soweit ein Einzelsteuergesetz nicht ausdrücklich anderes regelt (vgl. BFH-Urteile vom 14.11.1986 VI R 214/83, BStBl. II 1987, 198).  (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anspruch, Abrechnungsbescheid, Kindergeld, Einspruchsentscheidung, Erhebungsverfahren, Familienkasse, Fiktionswirkung, Heimatland, Kindergeldgewährung, Nachzahlung
Rechtsmittelinstanz:
BFH München, Urteil vom 08.08.2024 – III R 19/22
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 7828

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist das Kindergeld für B (geb.: ...2013) und C (geb.: ...2015) von Juni 2017 bis August 2017, Juni 2018 bis August 2018 und April 2019.
2
Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige, die im Klagezeitraum als Saison-Arbeitnehmerin in Deutschland beschäftigt war. Die Kinder lebten im Klagezeitraum in Rumänien.
3
Die früheren Bevollmächtigten der Klägerin beantragten mit formlosen Schriftsatz vom 15.11.2019 die Festsetzung von Kindergeld für B und C und zwei andere Kinder für das Jahr 2019 und die Folgejahre. Diesem Antrag waren weder ein Steuerbescheid, noch sonstige Unterlagen beigefügt. Bei Antragstellung erfolgte keine Angabe der Monate, für welche Kindergeld beansprucht werde.
4
Mit verschiedenen weiteren Schreiben (z.B. vom 27.11.2020) legten die damaligen Bevollmächtigten Geburtsurkunden der Kinder, eine Heiratsurkunde der Eltern (beides in rumänischer Sprache), das ausgefüllte Formblatt E 411, eine Familienstandsbescheinigung in rumänischer und deutscher Sprache, Arbeitgeberbescheinigungen, Ausdrucke der deutschen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für 2017 bis 2019 mit der Angabe des Beschäftigungszeitraums, einen förmlichen Antrag auf deutsches Kindergeld und Einkommensteuerbescheide des Finanzamts für die Klägerin für 2017, 2018 und 2019 vom 19.01.2021, bei denen in den Erläuterungen ausgeführt wird, dass eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt wurde, vor.
5
Mit Bescheid vom 23.04.2021 setzte die Familienkasse Kindergeld u.a. für die beiden Kinder B und C für den Zeitraum von Juni 2017 bis August 2017, von Juni 2018 bis August 2018 und von April bis Oktober 2019 in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten der Klägerin fest. Im selben Bescheid verfügte die Familienkasse unter der Überschrift „Nachzahlung“, dass sich hieraus eine Nachzahlung erst für die Zeit ab Mai 2019 ergebe. Zur Erläuterung ist ausgeführt:
„Auf Grund der gesetzlichen Änderung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG können Anträge, die nach dem 18.07.2019 eingehen, unabhängig vom festgesetzten Zeitraum rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrages bei der Familienkasse führen. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibt von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt. Ihr Antrag vom 15.11.2019 ist am 15.11.2019 eingegangen.“
6
Den Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 als unbegründet zurück.
7
Die Prozessbevollmächtigten haben Klage erhoben.
8
Zur Begründung haben sie im Wesentlichen vorgetragen:
9
Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Auszahlung des Differenzkindergeldes für die genannten Monate zu, denn die Kinder B (geb. am 13.02.2013) und C (geb. am 11.05.2015) seien nach Inkrafttreten der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EG 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 und der Verordnung EG 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009 (01.05.2010) geboren. Bei beiden Kindern sei im Heimatland bei deren Geburt ein Kindergeldantrag gestellt worden. Dieser Kindergeldantrag sei ausreichend für die Beantragung von Kindergeld nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Auf den weiteren, in Deutschland gestellten, Kindergeldantrag komme es somit nicht an.
10
Würde man nur auf den zuletzt in Deutschland gestellten Antrag abstellen, werde der Zweck der VO 833/2004 unterlaufen, der schließlich darin bestehe, erworbene Ansprüche zu sichern. Der BFH habe ausgeführt, dass eine unterbliebene Weiterleitung nicht die Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst b Halbsatz 2, Art. 81 der VO Nr. 883/2004 hindere und es unerheblich sei, ob im Zeitpunkt der Antragsstellung bereits ein Anlass zur Weiterleitung bestanden habe. Eine entsprechende Einschränkung sähen die genannten Verordnungen nämlich nicht vor. Soweit die Beklagte in ihrer Einspruchsentscheidung darauf abstelle, dass die Beantragung von rumänischem Kindergeld keine Auswirkung auf die gesetzliche Frist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG haben könne, gehe dies rechtlich fehl (BFH-Urteil vom 09.12.2020 III R 73/18, BFH/NV 2021, 882).
11
So führe der BFH im Urteil vom 09.12.2020 III R 73/18 aus, dass „die Koordinierungsregelung des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 im Streitfall anwendbar ist, obwohl das Verfahren zur Weiterleitung des im nachrangig zuständigen Staat gestellten Kindergeldantrags an den vorrangig zuständigen, wie es in Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004, Art. 81 der VO Nr. 987/2009 vorgesehen ist, nicht eingehalten wurde. (…) Eine unterbliebene Weiterleitung hindert nicht die Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst, b Halbsatz 2, Art. 81 der VO Nr. 883/2004. Eine entsprechende Einschränkung sehen die genannten Verordnungen nicht vor. Ein in einem nachrangig zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellter Antrag auf Familienleistungen löst die Fiktionswirkung, wonach er zugleich als im vorrangig zuständigen Staat gestellt gilt, auch dann aus, wenn der Träger, bei dem der Antrag gestellt wird, keine Kenntnis davon hat, dass ein Sachverhalt mit Auslandsbezug vorliegt, z.B., weil der Kindergeldberechtigte -wie im Streitfalleine Auslandstätigkeit aufgenommen hat, ohne die Familienkasse hiervon zu informieren. Die Wirkung tritt somit auch dann ein, wenn zu dem Zeitpunkt, als der Kindergeldantrag gestellt wurde, noch gar kein Anlass bestand, ihn an einen ausländischen Träger von Familienleistungen weiterzuleiten.“
12
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sei daher europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass es ausreichend sei, dass die Klägerin überhaupt einen Antrag im Heimatland gestellt habe, auch wenn die deutsche Familienkasse hiervon keine Kenntnis gehabt hatte. Einen zeitlich fristwahrenden Antrag habe die Klägerin auch schon vor Aufnahme der Beschäftigung stellen können. So werde das Prinzip der europaweiten Antragstellung verwirklicht.
13
Der Prozessbevollmächtigte beantragt, unter teilweiser Aufhebung des Kindergeldbescheides vom 23.04.2021 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld für ihre Kinder B und C für die Zeiträume von Juni 2017 bis August 2017, von Juni 2018 bis August 2018 sowie für April 2019 in Höhe von gesamt 2.694,70 € auszuzahlen.
14
Die Vertreterin der beklagten Familienkasse beantragt, die Klage abzuweisen.
15
Beide Beteiligte beantragen für den Fall des Unterliegens die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung, da eine höchstrichterliche Entscheidung zu § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG und insbesondere für nach dem 01.05.2010 geborene Kinder noch nicht vorliegt.
16
Die Familienkasse führt zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die Auszahlung für den Klagezeitraum zu Recht nicht vorgenommen worden sei. Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG in der Fassung vom 18.07.2019 könnten Anträge, die nach diesem Tag eingingen, rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags bei der Familienkasse führen. Die Klägerin habe am 15.11.2019 die Festsetzung des Kindergeldes beantragt. Damit bestehe für die Klägerin kein Auszahlungsanspruch für die Monate vor Mai 2019.
17
Anträge auf Familienleistungen, die im Heimatland vor Aufnahme der Tätigkeit in Deutschland gestellt würden, könnten nicht als in Deutschland gestellte Anträge gelten. Zwar werde durch die Beantragung im Heimatland das Koordinierungsverfahren nach Art. 68 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 883/2004 in Gang gesetzt. Damit bestehe gegebenenfalls mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Deutschland ein vorrangiger Anspruch auf Familienleistungen in Deutschland. Die Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 81 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 führe aber nicht dazu, dass die jeweiligen nationalen Festsetzungs- bzw. Zahlungsfristen außer Kraft gesetzt würden. Zu unterscheiden sei die Frage der vorrangigen Zuständigkeit eines Mitgliedstaats von der Frage, ob ein Anspruch auf Festsetzung bzw. Auszahlung von Familienleistungen bestehe.
18
Zudem könne die Fiktionswirkung der im EU-Ausland gestellten Anträge nur dann gelten, wenn diese zu einem Zeitpunkt eingereicht würden, in dem bereits ein Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat bestehe. Denn nur dann könne überhaupt von vorrangig und nachrangig zuständigen Mitgliedstaaten gesprochen werden. Wenn bei Einreichung des Antrags kein Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat bestehe, gebe es ohnehin nur einen zuständigen Mitgliedstaat. Werde Jahre später in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung aufgenommen und werde dieser Mitgliedstaat deshalb vorrangig zuständig, könne dies nicht dazu führen, dass die Antragstellung im damals allein zuständigen Mitgliedstaat auch als Antragstellung im erst später zuständig gewordenen Mitgliedstaat zu werten sei. Sinn und Zweck der Verordnungen (EG) 883/2004 und 987/2009 sei es, in verschiedenen Mitgliedstaaten bestehende Ansprüche zu koordinieren, nicht Ansprüche zu begründen. Eine Koordinierung von Ansprüchen sei aber nur dann erforderlich und möglich, wenn in mindestens zwei Mitgliedstaaten ein Anspruch auf Leistungen bestehe. Im Streitfall habe bis zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit in Deutschland kein Anspruch auf deutsches Kindergeld bestanden.
19
Im Übrigen sei ein in einem anderen Mitgliedstaat gestellter Antrag, über den in diesem Mitgliedstaat bereits entschieden worden sei, verbraucht und könne nicht als offener Antrag für etwaige spätere Ansprüche angesehen werden.
20
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen, die Sitzungsniederschrift sowie die von der Familienkasse vorgelegte elektronisch geführte Kindergeldakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

21
Die Klage hat keinen Erfolg.
22
Der Bescheid der Familienkasse vom 23.04.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
23
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Auszahlung von Kindergeld für den Klagezeitraum.
24
1. Der von der Klägerin angefochtene Bescheid vom 23.04.2021 stellt jedenfalls in der Gestalt, die er durch die Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 gefunden hat, einen Abrechnungsbescheid i.S. des § 218 Abs. 2 AO dar.
25
Im laufenden Kalenderjahr wird Kindergeld nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung monatlich gezahlt. Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) sind die Steuerbescheide, die Steuervergütungsbescheide, die Haftungsbescheide und die Verwaltungsakte, durch die steuerliche Nebenleistungen festgesetzt werden (§ 218 Abs. 1 Satz 1 AO). Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche im Sinne des Absatzes 1 betreffen, entscheidet die Finanzbehörde nach § 218 Abs. 2 Satz 1 AO durch Abrechnungsbescheid.
26
Die Familienkasse regelte mit der Verfügung vom 23.04.2021 gegenüber der Klägerin den Zeitraum, für den nach ihrer Auffassung ein Auszahlungsanspruch bestand. Durch den dagegen gerichteten Einspruch entstand auch eine Streitigkeit zwischen der Familienkasse und der Klägerin, über welche die Familienkasse durch die Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 entschied. Unerheblich ist dabei, dass die Familienkasse ihre Entscheidung nicht ausdrücklich als Abrechnungsbescheid oder als Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO bezeichnete (BFH-Urteile vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl. II 2020, 704; III R 70/18, BStBl. II 2020, 707 und III R 38/19, BFH/NV 2020, 1065 m.w.N.).
27
2. Zwar liegen die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die beiden Kinder für den Zeitraum von Juni 2017 bis August 2017, von Juni 2018 bis August 2018 und für April 2019 vor. Für Kinder i.S.d. § 63 EStG hat gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
28
Das Finanzamt hat für die Klägerin mit Einkommensteuerbescheiden für 2017, 2018 und 2019 vom 19.01.2021 eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt.
29
3. Jedoch hat die Klägerin keinen Anspruch auf Auszahlung von Kindergeld für den Klagezeitraum, da nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine rückwirkende Auszahlung nur noch für 6 Monate vor dem Monat der Antragstellung möglich ist.
30
Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG (eingeführt durch Art. 9 Nr. 9 des Gesetzes vom 11.07.2019; BGBl. I 2019, 1066 mit Wirkung vom 18.07.2019) erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibt von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt (§ 70 Abs. 1 Satz 3 EStG). Satz 2 ist erstmals auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen (§ 52 Abs. 50 Satz 1 EStG).
31
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung des festgesetzten Kindergelds für den Klagezeitraum, da § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG das Erhebungsverfahren betrifft und damit eine Auszahlung ausschließt.
32
b) Die Geltendmachung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erfolgt grundsätzlich in zwei Stufen: Der abstrakte, durch Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands entstehende Anspruch wird auf einer ersten Stufe durch Verwaltungsakt festgesetzt, während seine Erfüllung auf der zweiten Stufe Gegenstand des Erhebungsverfahrens ist (BFH-Urteil vom 12.08.1999 VII R 92/98, BStBl. II 1999, 751; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 218 AO Rn. 1, 2). Die Trennung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren ist für jede Steuerart verbindlich, soweit ein Einzelsteuergesetz nicht ausdrücklich anderes regelt (BFH-Urteile vom 14.11.1986 VI R 214/83, BStBl. II 1987, 198; vom 14.11.1986 VI R 226/83, BFH/NV 1987, 287). Unbeschadet der Befugnis der Familienkasse, verschiedene Verwaltungsakte äußerlich zusammenzufassen, ist auch für das Kindergeldrecht nach den §§ 62 ff EStG zwischen den Regelungen im Festsetzungsverfahren und im Erhebungsverfahren zu unterscheiden (BFH-Beschlüsse vom 24.10.2000 VI B 144/99, BFH/NV 2001, 423; und vom 11.12.2013 XI B 33/13, BFH/NV 2014, 714 m.w.N.). Im Festsetzungsverfahren wird grundsätzlich abschließend darüber entschieden, ob und in welcher Höhe ein Steuer- oder Erstattungsanspruch im Sinne des § 37 Abs. 1 AO - und damit auch ein Kindergeldanspruch - besteht.
33
c) Eine Auslegung der Norm des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesetz führt dazu, die Regelung dem Erhebungsverfahren zuzuordnen. Bereits die Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a.F., die bis zum 18.07.2019 galt, sah eine Begrenzung für die Auszahlung des Kindergeldes auf die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats vor, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Nach § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz -StUmgBG-) vom 23.06.2017 (BGBl. I 2017, 1682) wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a.F. betraf jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren (BFH-Urteile vom 09.09.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 und vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl. II 2020, 704 m.w.N.).
34
d) Der Wortlaut der neuen Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG mit der Verwendung des Begriffs „Auszahlung“ weist auf das Erhebungsverfahren hin. Während der Gesetzgeber den Begriff „gezahlt“ teilweise dem Erhebungs- und teilweise dem Festsetzungsverfahren zuordnet, verwendet er üblicherweise die Begriffe „ausgezahlt“ oder „Auszahlung“, wenn er den dem Erhebungsverfahren zuzuordnenden Auszahlungsvorgang beschreiben will, so etwa in § 70 Abs. 1 Satz 1, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 4 EStG (BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 70/18, BStBl. II 2020, 707 m.w.N.; Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 28.07.2021 3 K 1589/20; so auch Finanzgericht Münster, Urteile vom 21.05.2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg).
35
e) Für die Zuordnung zum Erhebungsverfahren sprechen auch die Entstehungsgeschichte und die Gesetzesbegründung. Die Änderung erfolgte nach der Entwurfsbegründung (Bundestags-Drucksache 19/8691, 65ff), weil in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum die Auffassung vertreten wurde, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen sei. Durch den neuen Standort und den veränderten Wortlaut sollte deutlich gemacht werden, dass die Vorschrift nicht dem Festsetzungssondern dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist (Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 7; Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG 20. Aufl. 2021, § 70 EStG, Rn. 2; Schmidt/Weber-Grellet, EStG 40. Auflage, § 70 Rz. 3; Brandis/Heuermann/Selder, EStG § 70 Rz. 20; so auch Finanzgericht Münster, Urteile vom 21.05.2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg). Für eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren spricht damit der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers. Dies wird durch § 70 Abs. 1 Satz 3 EStG noch verdeutlicht, denn danach bleibt der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt.
36
4. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm oder deren Vereinbarkeit mit Europarecht bestehen nach der Überzeugung des Senats nicht. Solche wurden von der Klägerseite auch nicht geltend gemacht.
37
a) Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen (BFH-Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 Tz. 13 zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. und zur Festsetzung). Diese verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nach dem Dafürhalten des Senats nicht davon ab, ob die Frist dem Festsetzungs- oder dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
38
b) Der Senat kann auch nicht erkennen, dass die Norm zu einer mittelbaren Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten führt. Die Norm gilt für alle Kindergeldberechtigten, also solche mit Wohnsitz im Inland oder auch in anderen EU-Mitgliedstaaten (so auch FG Nürnberg, Urteile vom 28.07.2021 3 K 1589/20; und vom 08.05.2019 3 K 193/19 zur Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F.). Zur Wahrung der 6-Monatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist allein ein „schriftlicher“ Antrag i. S. d. § 67 Satz 1 EStG erforderlich. Weitere Unterlagen sind im Rahmen der wirksamen Antragstellung für die Wahrung der Frist nicht notwendig und können dann im Verwaltungsverfahren - wie auch im Streitfall - nachgereicht werden.
39
5. Da der Kindergeldantrag bei der Familienkasse am 15.11.2019 einging, hat diese zutreffend keine Kindergeldauszahlung für den Klagezeitraum vorgenommen, denn § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist anzuwenden. Nach § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG ist die Vorschrift auf Anträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen.
40
a) Der Kindergeldantrag der Klägerin ist bei der nach § 67 EStG sachlich und örtlich zuständigen Familienkasse erst am 15.11.2019 eingegangen. Hinsichtlich des Eingangs des Antrags ist grundsätzlich auf die Behörde des Landes abzustellen, von der Kindergeld begehrt wird. Zuständige Familienkasse (§ 67 EStG) ist die Familienkasse. Ob - anders als bei § 66 Abs. 3 EStG a.F. (s. dazu z.B. BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R 65/99, BStBl. II 2001, 109: materielle-rechtliche Ausschlussfrist; so auch Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 7) - bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zuzulassen wäre, bedarf keiner Erörterung, weil Gründe hierfür nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich waren.
41
b) Ein vor dem 15.11.2019 gestellter Antrag ergibt sich auch nicht aus Art. 81 oder 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 60 Abs. 3 oder einer anderen Bestimmung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EG 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 oder der Verordnung EG 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009. Zwar sind nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe einer in Anspruch genommenen Behörde unverzüglich der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaates zuzuleiten; der Tag des Eingangs gilt dann auch als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaates.
42
c) Die Klägerseite hat jedoch keinen im EU Ausland gestellten Antrag, der nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 der deutschen Familienkasse vorzulegen gewesen wäre, benannt. Ein bei Geburt der Kinder wegen der Gewährung von Familienleistungen in Rumänien mutmaßlich dort gestellter Antrag auf Familienleistungen wäre jedoch kein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. der §§ 67 Satz 1, 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Eine Weiterleitung des in Rumänien gestellten Antrags auf Kindergeld an die in Deutschland zuständige Stelle hat nach Auffassung des Senats nur bei dem Zusammentreffen von Familienleistungen mehrerer Mitgliedstaaten zu erfolgen (ähnlich: Brandis/Heuermann/Selder, EStG § 67 Rz. 19). Der Zweck der Regelung über die Antragsweiterleitung durch den nachrangigen Träger besteht nach höchstrichterlicher Rechtsprechung darin, den Antragsteller davor zu bewahren, dass ihm durch die Antragstellung bei der nur nachrangig zuständigen Stelle und durch die sich aus der Weiterleitung ergebende zeitliche Verzögerung des Antragseingangs bei der vorrangig zuständigen Behörde materielle Nachteile entstehen. Das Koordinierungsverfahren erfordert in dieser Konstellation vielmehr nur für den Fall eines möglichen Differenzanspruchs eine Mitteilung des vorrangig zuständigen Trägers an den nachrangigen Träger, wie er über den Antrag entschieden hat und in welcher Höhe Familienleistungen gezahlt wurden (Art. 60 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 987/2009; BFH-Urteil vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl. II 2018, 717, Rn. 34). Diesen Grundsätzen folgend ist eine Weiterleitung des bei Geburt im Heimatland gestellten Kindergeldantrages an die Familienkasse eines anderen EU-Mitgliedstaates oder eine Fiktionswirkung nur dann veranlasst, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits ein Bezug zu diesem anderen Mitgliedstaat besteht. Andernfalls müsste eine Weiterleitung des Antrags an weitere 26 EU-Mitgliedstaaten erfolgen. Nur bei einem bei Antragstellung vorliegenden Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedstaat kann überhaupt von vorrangig und nachrangig zuständigen Mitgliedstaaten gesprochen werden. Wenn bei Einreichung des Antrags kein Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat besteht, gibt es ohnehin nur einen zuständigen Mitgliedstaat.
43
Im Streitfall bestand bei erstmaliger Anmeldung anlässlich der Geburt der Kinder für die Behörde des EU-Mitgliedsstaates Rumänien keine Veranlassung zur Weiterleitung, denn eine Aufnahme der Beschäftigung in Deutschland im Februar 2013 oder Mai 2015 ist nicht vorgetragen.
44
d) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den BFH-Urteilen vom 09.12.2020 (III R 73/18 BFH/NV 2021, 882; III R 31/18, BFH/NV 2021, 771). Die genannten Urteile des BFH ergingen bezüglich von Kindern, die vor dem 01.05.2010 geboren waren. Sie betrafen die Anrechnung der in den Niederlanden gewährten Familienleistung auf deutsches Kindergeld. In den dem BFH vorliegenden Sachverhalten war deutsches Kindergeld gewährt und vom Kindergeldberechtigten die Aufnahme einer nichtselbständigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat verspätet angezeigt worden.
45
Diese BFH-Entscheidungen betreffen die Prioritäts- und Anrechnungsregelungen beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedsländer. Im vorliegenden Streitfall geht es aber nicht um Anrechnungsregelungen. Zudem enthalten die BFH-Urteile keine Entscheidung zu der Kindergeldgewährung im vorrangigen Staat (hier: Niederlande) oder der bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG vorliegenden materiell-rechtlichen Ausschlussfrist. Der Kindergeldberechtigte muss sich um seine Kindergeldangelegenheit kümmern, wenn seine persönlichen Verhältnisse sich so verändern, dass ein Bezug zu einem anderen EU-Ausland eintritt. Tut er das nicht, so muss er damit rechnen, dass die Familienkasse eine Auszahlungsbeschränkung geltend macht oder den Anspruch auf die in seinem Staat vorgesehenen Familienleistungen als verjährt ansieht (so auch Selder in jurisPR-Steuerrecht 24/2021).
46
Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und eine höchstrichterliche Entscheidung zu § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG insbesondere für nach dem 01.05.2010 geborene Kinder noch nicht vorliegt.
47
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.