OLG Bamberg, Beschluss v. 16.12.2022 – 11 U 148/22
Titel:

Überprüfung der Fristenberechnung und -eintragung bei Vorlage der Handakte

Normenkette:
ZPO § 85 Abs. 2, § 233 S. 1, § 234 Abs. 1 S. 2, Abs. 2
Leitsätze:
1. Ein Anwalt hat die Berechnung einer Frist, ihre Notierung auf den Handakten, ihre Eintragung im Fristenkalender, die Bestätigung der Kalendereintragung durch einen Erledigungsvermerk auf den Handakten sowie die Einhaltung seiner darauf bezogenen Anweisungen stets zu prüfen, wenn ihm die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden. Grundsätzlich erstreckt sich die Pflicht zur Prüfung insbesondere darauf, ob das (zutreffend errechnete) Fristende im Fristenkalender notiert worden ist. Allerdings kann er sich grundsätzlich auf die Prüfung des Erledigungsvermerks in der Handakte beschränken. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Prozessbevollmächtigter darf dann nicht auf die Bewilligung einer Fristverlängerung vertrauen, wenn er selbst die nicht rechtzeitige Stellung des Fristverlängerungsantrags durch ein eigenes Versehen schuldhaft veranlasst hat. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Lässt sich dem Sachvortrag des Anwalts im Wiedereinsetzungsgesuch nicht entnehmen, dass die Erledigung der Eintragung im Fristenkalender auch in der Handakte vermerkt worden ist, kann keine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gewährt werden. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsanwalt, Fristenkalender, Aktenvorlage, Eintragung, Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen, Ausreichende Vorfrist, Eigenverantwortliche Prüfung, Wiedereinsetzung, Nachschieben von Gründen
Vorinstanz:
LG Bamberg, Endurteil vom 22.08.2022 – 22 O 223/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 17.05.2023 – XII ZB 533/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 49048

Tenor

1. Der Antrag des Beklagten und Berufungsklägers vom 07.11.2022 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.
2. Die Berufung des Beklagten und Berufungsklägers gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 22.08.2022, Aktenzeichen 22 O 223/21 Miet, wird als unzulässig verworfen.
3. Der Beklagte und Berufungskläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 37.990,52 € festgesetzt.

Gründe

1
Mit seiner Klage machte der Kläger Forderungen gegen den Beklagten aus der Nutzung von Gewerberäumlichkeiten geltend. Er hatte zuletzt beantragt, an den Kläger 19.872,35 € nebst gestaffelter Zinsen und einen weiteren Betrag in Höhe von 35.665,95 € nebst Zinsen zu bezahlen sowie den Kläger von der Gebührenforderung für die außergerichtliche Anwaltstätigkeit in Höhe von 2.417,90 € nebst Zinsen freizustellen. Außerdem hatte er beantragt, festzustellen, dass der Beklagte dem Kläger gegenüber verpflichtet ist, die infolge der Kündigung beim Kläger noch eintretenden Mietausfallschäden ab dem Monat August 2022 bis zum 31.12.2023 zu ersetzen.
2
Mit Urteil vom 22.08.2022, dem Beklagtenvertreter zugestellt am 23.08.2022, hat das Landgericht den Beklagten zur Zahlung in Höhe von 19.872,35 € nebst gestaffelter Zinsen sowie zur Zahlung eines weiteren Betrages in Höhe von 18.118,17 € nebst Zinsen verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Bamberg vom 22.08.2022 (Bl. 98/109 d. A.) Bezug genommen.
3
Gegen dieses Urteil legte der Beklagte am 23.09.2022 Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 28.10.2022, eingegangen am gleichen Tag (Bl. 136/138 d. A.) beantragte der Beklagten- und Berufungsklägervertreter die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat. Daraufhin teilte der Vorsitzende dem Beklagten- und Berufungsklägervertreter mit Verfügung vom 31.10.2022 (Bl. 139 d. A.), zugestellt am 03.11.2022 mit, dass der Fristverlängerungsantrag möglicherweise verspätet gestellt und die Berufung unzulässig sein könnte.
4
Mit Schriftsatz vom 07.11.2022 nebst Anlagen, eingegangen am gleichen Tage (Bl. 140/146 d. A.), beantragte der Beklagten- und Berufungsklägervertreter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags trägt er im Wesentlichen vor, dass die seit 10 Jahren in seiner Kanzlei tätige Rechtsanwaltsfachangestellte ... auf dem zugestellten erstinstanzlichen Urteil die Berufungsbegründungsfrist (vorsorglich sogar mit Datum 21.10.2022) notiert, aufgrund eines erstmaligen Fehlers jedoch unter dem 28.10.2022 im händisch geführten Fristenkalender notiert habe. Der Beklagten- und Berufungsklägervertreter habe die handschriftlich auf der Urteilsabschrift notierte Fristberechnung auf ihre Richtigkeit kontrolliert und sei hinsichtlich der Übertragung in den Fristenkalender von einer, wie in der Vergangenheit immer erfolgten, korrekten Übertragung ausgegangen. Der Kanzleiangestellten sei ihr – erstmaliger – Übertragungsfehler versehentlich nicht aufgefallen. Über die Regelungen der Fristenkontrolle und deren Bedeutung belehre er das Kanzleipersonal und kontrolliere es regelmäßig.
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Die Kanzleiangestellte bestätigte in einer dem Wiedereinsetzungsantrag anliegenden eidesstattlichen Versicherung vom 07.11.2022 diese Angaben, bekundete, dass sie die Frist, die sie zuvor richtig berechnet und auf der Urteilsabschrift zutreffend notiert habe, falsch in den Fristenkalender übertragen habe, sprach von einem Augenblicksversagen, das ihr noch nie passiert sei und bekundete allgemein, dass sie über die Fristeintragung und -kontrolle regelmäßig belehrt worden sei und sich an die entsprechenden Anweisungen gehalten habe.
6
Dem Wiedereinsetzungsantrag beigefügt war eine Kopie der Abschrift der ersten Seite des erstinstanzlichen Urteils, auf dem neben dem Kanzleieingangsstempel vom 23.08.2022 folgende handschriftliche Eintragung notiert ist:
Tatbestand: 06.09.2022
Berufung: 23.09.2022
Begründung 21.10.2022
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Weitere Eintragungen seitens der Rechtsanwaltskanzlei, insbesondere einen Erledigungsvermerk, enthält das Schriftstück nicht.
8
Mit Schriftsatz vom 18.11.2022, eingegangen bei Gericht am gleichen Tag, hat der Beklagten- und Berufungsklägervertreter die von ihm eingelegte Berufung begründet. Der Schriftsatz wurde noch nicht an die Berufungsbeklagtenseite zugestellt.
9
Der Kläger- und Berufungsbeklagtenvertreter hat mit Schriftsatz vom 02.12.2022 beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag abzuweisen, da die Berufungsklägerseite keinen Sachverhalt vorgetragen habe, der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 Satz 1 ZPO begründen könne.
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Mit Schriftsatz vom 12.12.2022 trägt der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers nunmehr vor, dass er im Zuge seiner Büroorganisation seit Jahren die Anweisung erteilt habe, dass immer und unter allen Umständen zuerst die Fristen berechnet und im Kalender eingetragen werden müssen und erst danach ein entsprechender Vermerk (Fristeintrag auf Schriftsatz, Beschluss oder Urteil) eingetragen werden kann. Mit der handschriftlichen Notierung der Frist auf dem jeweiligen Schriftsatz bzw. Urteil bestätige die Kanzleikraft und bringe zum Ausdruck, dass die berechnete Frist im Terminskalender so notiert worden sei. Die Notierung auf der Entscheidung stelle daher bereits den Erledigungsvermerk dar. Zur Bekräftigung dieses Vortrags legt der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers eine eidesstattliche Versicherung der Kanzleiangestellten ...vor.
II.
11
1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht begründet, da weder fristgemäß vorgetragen noch glaubhaft gemacht wurde, dass die Berufungsbegründungsfrist ohne Verschulden des Berufungsklägers bzw. seines Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) versäumt wurde (§ 233 ZPO). Die Beweislast dafür, dass er bzw. sein Prozessbevollmächtigter die Frist schuldlos versäumte, trägt der Berufungskläger.
12
a) In rechtlicher Hinsicht gilt folgendes:
13
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH Beschluss vom 22.01.2008 – VI ZB 46/07 [bei juris] = NJW 2008, 1670 m.w.N.; s. auch Zöller/Greger ZPO 34. Aufl. § 233 Rn. 23.15 Stichwort: Fristenkontrolle m.w.N.) hat ein Anwalt die Berechnung einer Frist, ihre Notierung auf den Handakten, ihre Eintragung im Fristenkalender, die Bestätigung der Kalendereintragung durch einen Erledigungsvermerk auf den Handakten sowie die Einhaltung seiner darauf bezogenen Anweisungen stets zu prüfen, wenn ihm die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden. Grundsätzlich erstreckt sich die Pflicht zur Prüfung insbesondere darauf, ob das (zutreffend errechnete) Fristende im Fristenkalender notiert worden ist. Allerdings kann sich der Rechtsanwalt grundsätzlich auf die Prüfung des Erledigungsvermerks in der Handakte beschränken. Ist die Erledigung der Eintragung im Fristenkalender ordnungsgemäß in der Handakte vermerkt (Anm. Hervorhebung durch den Senat) und drängen sich an der Richtigkeit insoweit keine Zweifel auf, braucht der Rechtsanwalt nicht noch zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich (korrekt) im Fristenkalender eingetragen ist. Andernfalls würde die Einschaltung von Bürokräften in die Fristenüberwachung weitgehend sinnlos, die jedoch aus organisatorischen Gründen erforderlich und deshalb zulässig ist.
14
In weiteren Entscheidungen (vgl. etwa BGH Beschluss vom 12.06.2018 – II ZB 23/17 [bei juris Rn. 11 m.w.N.] = NJW 2018, 2895) hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass ein Rechtsanwalt nur dann von einer eigenständigen Prüfung des Fristenkalenders befreit ist, wenn die Büroorganisation die klare Anweisung erhält, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender eingetragen werden müssen, bevor ein entsprechender Vermerk in der Akte eingetragen werden kann. Sonst besteht nämlich die Gefahr, dass der Erledigungsvermerk in der Handakte bereits vor der Eintragung in den Kalender angebracht wird die Gegenkontrolle versagt.
15
b) Ein Prozessbevollmächtigter darf dann nicht auf die Bewilligung einer Fristverlängerung vertrauen, wenn er selbst die nicht rechtzeitige Stellung des Fristverlängerungsantrag durch ein eigenes Versehen schuldhaft veranlasst hat (OLG München Beschluss vom 24.06.2015 – 32 U 718/15 [bei juris]). Dies kann, nach den vorgelegten Erklärungen im Schriftsatz vom 07.11.2022 und in der eidesstattlichen Versicherung vom gleichen Tage gerade nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
16
Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers, sowie die eidesstattliche Versicherung seiner Kanzleiangestellten vom 07.11.2022 führen nicht dazu, dass die schuldlose Fristversäumung glaubhaft gemacht wurde, denn beide beschränken sich darauf mitzuteilen, dass der Rechtsanwalt die handschriftlich auf der Urteilsabschrift notierte Fristberechnung kontrolliert und hinsichtlich der Übertragung in den Fristenkalender von einer korrekten Übertragung ausgegangen sei. Nicht behauptet wurde hingegen konkret, dass die Erledigung der Eintragung im Fristenkalender auch in der Handakte vermerkt worden sei. Dass die allgemeine Anweisung an das Büropersonal bestanden habe, zuerst die Fristen zu berechnen, sie dann im Kalender einzutragen und erst danach ein entsprechender Vermerk anzubringen, lässt sich der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags und der Eidesstattlichen Versicherung vom 07.11.2022 nicht entnehmen.
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Damit steht auf Basis des Vortrags des Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers, sowie der Eidesstattliche Versicherung seiner Kanzleiangestellten vom 07.11.2022 gerade nicht fest, dass der Rechtsanwalt auf die (korrekte) Übertragung berechneten Frist in den Fristenkalender vertrauen durfte und seiner Pflicht enthoben gewesen wäre, eigenständig zu überprüfen, ob das Fristende auch (korrekt) im Fristenkalender notiert wurde.
18
c) Das Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers in seinem Schriftsatz vom 12.12.2022 ist nicht innerhalb der Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO erfolgt, nachdem dieser am 03.11.2022 auf die Fristversäumung hingewiesen worden und damit das Hindernis behoben war (§ 234 Abs. 2 ZPO). Das Nachschieben der Gründe war nicht zulässig.
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aa) Die vollständige Begründung des Wiedereinsetzungsantrags muss innerhalb der Frist des § 234 ZPO vorgelegt werden. Ein Nachschieben neuer Gründe ist nicht möglich, es sei denn, diese wären – wie im vorliegenden Fall nicht – aktenkundig. Zulässig ist zwar auch nach Ablauf der Frist die Ergänzung fristgerechter Angaben, d. h. solcher, die erkennbar unklar oder unvollständig sind. Lässt das Vorbringen dagegen keinen Ergänzungsbedarf erkennen, ist das Nachschieben unzulässig, und zwar erst recht, wenn die ursprüngliche Darstellung falsch oder unschlüssig war. Auf einen Ergänzungsbedarf hat das Gericht nach § 139 ZPO hinzuweisen (Zöller-Greger ZPO 34. Aufl. § 236 Rn. 6a m.w.N.).
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bb) Die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers in seinem Schriftsatz vom 07.11.2022 waren unschlüssig und nicht etwa erkennbar unklar oder unvollständig, weshalb auch ein Hinweis des Senats nach § 139 ZPO entbehrlich war.
21
Die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Organisation des Fristenwesens stellt, sind bekannt und müssen einem Anwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein (BGH Beschluss vom 12.06.2018 – II ZB 23/17 [bei juris Rn. 16] = NJW 2018, 2895). Tragen die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags gemachten Angaben diesen Anforderungen nicht Rechnung – lässt sich insbesondere dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsverfahren nicht entnehmen, dass in seinem Büro konkrete, die zeitliche Abfolge der Eintragungen festlegende, organisatorischen Anweisungen bestanden haben – deutet das nicht auf Unklarheiten oder Lücken des Vortrags hin, die aufzuklären oder zu füllen wären, sondern erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (BGH a.a.O.; Beschluss vom 06.02.2018 – II ZB 14/17 [bei juris]).
22
2. Die Berufung war nach Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht rechtzeitig, d. h. nicht innerhalb der Zweimonatsfrist seit Zustellung des vollständigen Urteils, begründet wurde (§ 522 Abs. 1, § 520 Abs. 2 ZPO).
III.
23
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
24
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung des § 3 ZPO, § 47 GKG bestimmt.