VG Würzburg, Urteil v. 13.09.2022 – W 1 K 22.50248
Titel:

keine Rücküberstellung nach Ungarn (Dublin-Verfahren)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 12 Abs. 1, Abs. 4, Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1
Leitsatz:
Nach Ungarn rücküberstellten Schutzsuchenden droht aufgrund systemischer Mängel im Asylverfahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Ungarn, fehlender Zugang zum Asylverfahren, insbesondere für aus Afghanistan evakuierte Personen, systemische Mängel, Grundrechtsverletzung, europäisches Asylsystem, Refoulement-Verbot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.03.2023 – 24 ZB 22.50039
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45627

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juni 2022 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger zu 1) wurde eigenen Angaben zufolge am ... 1990 in B. … geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volke der Hazara und schiitischen Glaubens. Die Klägerin zu 2), Ehefrau des Klägers zu 1), sei am ... 1995 geboren. Sie sei afghanische Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Die am ... 2011, ... 2014, ... 2018 und ... 2021 geborenen Kläger zu 3) bis 6) seien die gemeinsamen Kinder der Kläger zu 1) und 2) und ebenfalls afghanische Staatsangehörige vom Volke der Hazara und schiitischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge verließen die Kläger ihr Heimatland am 23. oder 24. August 2022 und reisten über Afghanistan, Usbekistan und Ungarn am 5. Oktober 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie Asylgesuche äußerten, von denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch behördliche Mitteilung am selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Förmliche Asylanträge wurden am 4. November 2021 gestellt.
2
Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 13. Dezember 2021 gaben die Kläger an, sie hätten Einreisedokumente für Ungarn erhalten. Einen Asylantrag hätten sie jedoch nicht gestellt. Ungarn habe sie nicht annehmen wollen. Ausländer würden sehr schlecht behandelt und die Zustände seien noch schlimmer als in Afghanistan. Von der Regierung habe es keine Hilfe gegeben. Die Organisation Malta habe ihnen versprochen, sie zwölf Monate lang finanziell zu unterstützen, es sei jedoch nichts geschehen. Sie hätten nicht genügend zu essen gehabt und die Klägerin zu 2) sowie eines der Kinder seien krank gewesen, es habe jedoch keinerlei medizinische Versorgung gegeben. Für die Kinder sei die Situation besonders schwer gewesen. Wenn der Kläger zu 1) mit ihnen die Unterkunft verlassen habe, um sie auf andere Gedanken zu bringen, seien sie häufig von Ungarn angesprochen worden, die ihnen sagten, sie seien hier nicht erwünscht.
3
Am 29. Dezember 2021 wurde ein Übernahmeersuchen nach der Dublin-III-Verordnung an Ungarn gerichtet. Mit Schreiben vom 18. Februar 2022 stimmten die ungarischen Behörden dem Übernahmeersuchen zu und erklärten ihre Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO. Die Kläger seien mit einem ungarischen Militärflug aus Afghanistan evakuiert worden und hätten eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 29. Dezember 2021, die automatisch bis zum 30. Juni 2022 verlängert worden sei.
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Mit Beschied vom 8. Juni 2022, den Klägern zugestellt am 13. Juni 2021, lehnte das Bundesamte die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Weiterhin wurde die Abschiebung nach Ungarn angeordnet und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1
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AufenthG auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sei unzulässig, da Ungarn auf Grund der ungarischen Aufenthaltstitel gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-Verordnung für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei.
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Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 20. Juni 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erhoben und gleichzeitig Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung gestellt (W 1 S 22.50249). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass Asylverfahren in Ungarn weise systemische Mängel auf. Darüber hinaus drohe den Klägern als sechsköpfiger Familie eine Verletzung von Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh infolge der Aufnahmebedingungen in Ungarn. Die Kläger gehörten zum Personenkreis der vulnerablen Personen. Es fehle an der Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Eine Unterstützung durch NGOs oder kirchliche Organisationen in einem entsprechenden Umfang sei aktuell nicht mehr gewährleistet.
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Die Kläger beantragen schriftsätzlich:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juni 2022, zugestellt am 13. Juni 2022, wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage wurde mit Beschluss vom 4. Juli 2022 angeordnet.
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Mit Beschluss vom 7. September 2022 ist der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die dem Gericht vorliegende Akte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2022 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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I. Die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig ist rechtswidrig. Rechtsgrundlage der in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides getroffenen Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist vorliegend im Hinblick auf Ungarn nicht der Fall. Der Zuständigkeit Ungarns steht entgegen, dass die Kläger infolge seiner Überstellung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würde, dort aufgrund systemischer Schwachstellen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh zu erfahren.
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1. Vorliegend ergibt sich die grundsätzliche Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-Verordnung. Besitzt danach ein Antragsteller einen Aufenthaltstitel, der weniger als zwei Jahre zuvor abgelaufen ist, aufgrund dessen er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so ist Abs. 1 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. Nach Art. 12 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzstufe zuständig. Den Klägern wurde nach den Mitteilungen der ungarischen Behörden in den beiden Schreiben vom 18. Februar 2022 jeweils eine Erlaubnis zum vorübergehenden Aufenthalt in Ungarn, gültig bis 29. Dezember 2021, ausgestellt, die sich automatisch bis zum 30. Juni 2022 verlängert haben soll. Nachdem die Kläger von Ungarn aus über Österreich nach Deutschland eingereist sind, haben sie auch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen. Mit Schreiben vom 8. Februar 2022 haben die ungarischen Behörden auf die gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-Verordnung vom Bundesamt fristgerecht gestellten Aufnahmegesuche ihre Zustimmung zur Überstellung sowie Verantwortung zur Aufnahme der Kläger erklärt, Art. 22 Abs. 1 Dublin III-Verordnung. Ungarn ist somit grundsätzlich nach Art. 18 Abs. 1a) Dublin III-Verordnung zur Aufnahme der Kläger verpflichtet.
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Eine Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich auch nicht aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung, da die dort geregelte 6-monatige Überstellungsfrist nach Ungarn derzeit ersichtlich noch nicht abgelaufen ist.
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2. Die Beklagte ist jedoch gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung für die Prüfung des Asylantrages der Kläger zuständig. Denn die erkennende Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass den Klägern bei einer Rücküberstellung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 106) bzw. dem übereinstimmenden Art. 3 EMRK (vgl. Nds OVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 26) aufgrund systemischer Mängel im Asylverfahren droht.
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Bei der Prüfung, ob ein Mitgliedsstaat hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzsuchenden gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Denn nach dem Konzept, welches Art. 16a Abs. 2 GG und §§ 26a, 29 Abs. 1, 34a AsylG zu Grunde liegt, ist davon auszugehen, dass unter anderem in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist und daher dort einem Schutzsuchenden keine politische Verfolgung droht sowie keine für Schutzsuchende unzumutbare Bedingungen herrschen („Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“, vgl. auch EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-173/17 – juris Rn. 82, und U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 –, NVwZ 2012, 417; BVerwG, U.v. 9.1.2019 – 1 C 36.18 – juris Rn. 19; Nds. OVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (ABl. 2013, L 180/96), die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (ABl. 2011, L 337/9) oder die Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU (ABl. 2013, L 180/60) genügen, um die Überstellung eines Schutzsuchenden an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Kann einem Mitgliedstaat hingegen nicht unbekannt sein, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in dem zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden, hat eine Überstellung zu unterbleiben (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17, juris Rn. 85; vgl. auch BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Systemische Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92). Das Gericht muss auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte (in einem Klageverfahren) feststellen, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 98). Der Nachweis obliegt dem Schutzsuchenden (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 163/17 – juris Rn. 95).
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Der BayVGH hat in mehreren Verfahren festgestellt, dass eine Abschiebung nach Ungarn deshalb unzulässig ist, weil das Asylverfahren auch für Dublin-Rückkehrer an systemischen Mängeln leidet (vgl. BayVGH, U.v. 31.1.2018 – 9 B 17.50039; B.v. 29.1.2018 – 20 B 16.50000; U.v. 23.3.2017 – 13a B 16.30951 – alle bei juris). Der BayVGH hat dies mit der gesetzlichen und tatsächlichen Entwicklung in Ungarn seit 2013 begründet, u.a. mit der Gefahr für Asylbewerber, bis zu 60 Tagen in Asylhaft genommen zu werden bei unklaren Voraussetzungen und fehlendem effektiven Rechtsschutz sowie auch wegen der Gefahr von Verstößen gegen das Refoulment-Verbot.
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Die Situation in Ungarn hat sich seitdem auf der Grundlage der vorliegenden aktuellen Erkenntnisse nicht grundlegend zugunsten der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer geändert: Zwar wurden die sogenannten Transit-Zonen nach der grundlegenden Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU u.a.) mit Wirkung ab dem 21. Mai 2020 geschlossen. Seit dem 26. Mai 2020 können jedoch nur noch solche Asylbewerber in Ungarn einen Asylantrag stellen, die zuvor bei den ungarischen Botschaften in Kiew (was mittlerweile aus Gründen des Krieges in der Ukraine ausscheiden dürfte) oder Belgrad eine sogenannte Absichtserklärung abgegeben hatten und sodann eine Einreisegewährung erhalten haben (AIDA, Country Report: Hungary, 2021 Update, April 2022, S. 13). Die europäische Kommission leitete auch hinsichtlich der neuen Regelungen ein Vertragsverletzungsverfahren ein (Amnesty International, Report Ungarn, Stand: 7.4.2021). Auch für Dublin-Rückkehrer finden sich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Stellung eines Asylantrages keine gesetzlichen Ausnahmen von den oben genannten Verfahren; lediglich in einem einzigen Fall einer syrischen Frau ist bekannt, dass es dieser erlaubt wurde, nach Rücküberstellung nach Ungarn dort direkt einen Asylantrag zu stellen (AIDA, a.a.O. S. 48; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; Ungarn, Stand: 9.3.2020, S. 6; Human Rights Watch, Hungary, Stand: 1.1.2022). Es ist demzufolge bei einer Überstellung nach Ungarn noch nicht einmal sichergestellt, dass die Kläger dort überhaupt internationalen Schutz beantragen können, geschweige denn, dass sie dies unter rechtsstaatlichen mit EU-Recht zu vereinbarenden Bedingungen tun können.
21
Aus den beiden Schreiben, mit denen die ungarische Dublin-Unit vorliegend ihr Einverständnis zur Überstellung der Kläger erklärt hat, ergibt sich, dass diese in Ungarn noch keinen Asylantrag gestellt haben, ohne dass ersichtlich wäre, warum dies bei einer Aufenthaltsdauer von ca. 30 Tagen nicht möglich gewesen sein soll. Dies deckt sich auch mit den eigenen Angaben der Kläger, dass sie in Ungarn keinen Asylantrag gestellt hätten. Vielmehr ergibt sich aus den beiden Schreiben der ungarischen Dublin-Unit vom 18. Februar 2022, dass den Klägern eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung zu anderen Zwecken erteilt worden ist, was mit aktuellen Erkenntnismitteln übereinstimmt. Danach hätten von Ungarn aus Afghanistan evakuierte Personen – wie die Kläger – in Ungarn eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten, es sei ihnen jedoch kein Zugang zum Asylverfahren ermöglicht worden (AIDA, a.a.O., S. 15, 89 f.). Die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. einer Schutzgewährung aus anderweitigen Gründen ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht von rechtlichem Belang, zumal hier die erteilte „vorübergehende Aufenthaltserlaubnis“ lediglich bis zum 29. Dezember 2021 befristet war und im Übrigen durch die Ausreise aus Ungarn ihre Gültigkeit verloren hat (die ungarischen Behörden haben mit Schreiben vom 18. Februar 2022 eine befristete Verlängerung aufgrund der Notfalllage infolge der Pandemie bis 30. Juni 2022 mitgeteilt, falls die Erlaubnis nicht zwischenzeitlich aus individuellen Gründen widerrufen wurde, wozu im vorliegenden Einzelfall keine weiteren Ausführungen erfolgt sind). Vielmehr zeugt die Verweigerung des Zugangs der aus Afghanistan evakuierten Personen zum Asylverfahren in Ungarn, von der auch die hiesigen Kläger betroffen sind, abermals davon, dass dort nach wie vor systemische Mängel in Bezug auf das Asylsystem bestehen, nämlich bereits beim Zugang zum Asylverfahren, vgl. Art. 6 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU.
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Soweit das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid mehrfach auf die Entscheidung des VG Halle vom 19. April 2021 (4 B 254/21 HAL – juris) Bezug genommen hat, wonach dann, wenn in Ungarn noch kein Asylantrag gestellt worden sei, hierzu bei Rückkehr die Möglichkeit bestehe, so vermag dies die vorstehenden Ausführungen bereits deshalb nicht infrage zu stellen, da das VG Halle seine Einschätzung auf den Bericht von AIDA aus dem Jahre 2019 gestützt hat. Diese Erkenntnisse sind jedoch unter Berücksichtigung der zitierten Inhalte des aktuellen Berichts dieser Organisation als überholt anzusehen, weshalb weder sie noch die darauf gestützte Entscheidung des VG Halle im entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch als tragend herangezogen werden können.
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Auch das von der ungarischen Dublin-Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 18. Februar 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung der Kläger führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-Verordnung nur das Einverständnis für die Überstellung der Kläger zur Feststellung des Asylgesuchs („for determination of the asylum application“) bzw. die Verantwortung für die Übernahme der Kläger („accepts responsibility for taking charge of the applicants“) erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass die Kläger in Ungarn einen Asylantrag stellen können, beinhaltet diese Erklärung nicht (so auch: VG Aachen, B.v. 24.3.2022 – 5 L 199/22.A – juris Rn. 90 – 91).
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Das Bundesamt weist zwar unter Bezugnahme auf den EASO Asylum Report 2021, 29. Juni 2021, S. 97 darauf hin, zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, wenn diese nach der Dublin-Überstellung ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten. Es erschließt sich hieraus jedoch nicht, ob dies tatsächlich bedeutet, dass Dublin-Überstellte in Ungarn untergebracht werden und das Asylverfahren dort durchgeführt wird oder ob „nur“ das o.g. Botschaftsverfahren in Gang gesetzt wird (vgl. VG Aachen, B.v. 24.3.2022 – 5 L 199/22.A – juris Rn. 90 – 91).
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Unabhängig davon lässt sich dem aktuellsten Bericht von AIDA – wie oben ausgeführt – gerade entnehmen, dass jedenfalls der Gruppe der von Ungarn aus Afghanistan evakuierten Personen ein Zugang zum Asylverfahren nicht ermöglicht wird, worauf zusätzlich der Inhalt der beiden Schreiben der ungarischen Behörden vom 28. Januar 2022 hindeutet, wonach den Klägern nach ihrer Evakuierung eine Aufenthaltsgenehmigung „aus anderen Gründen“ gewährt worden sei und Ungarn „aufgrund dessen“ die Verantwortung für die Übernahme der Kläger erkläre.
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Abweichendes ergibt sich schließlich auch nicht aus den vom Bundesamt von den ungarischen Behörden angeforderten „Zusicherungen“ betreffend die Behandlung der Kläger in Ungarn in Übereinstimmung mit den Standards des EU-Rechts, insbesondere der Asylverfahrensrichtlinie sowie der Aufnahmerichtlinie. Denn aus den daraufhin übersandten Papieren, die weder Datum noch Unterschrift tragen und die überdies keinerlei Bezug zum konkreten Fall der Kläger aufweisen, wird lediglich darüber informiert, dass ein Antrag auf internationalen Schutz „in jedem unabhängigen Fall“ in Übereinstimmung mit der Asylverfahrensrichtlinie sowie der Aufnahmerichtlinie bearbeitet werde. Nach dem Dafürhalten des Gerichts bietet dieses vollkommen pauschal gehaltene und jede Individualität vermissen lassende Dokument keine Garantie dafür, dass die Kläger bei ihrer Rückkehr nach Ungarn dort Asylanträge stellen können und während des Asylverfahrens tatsächlich richtlinienkonform behandelt werden.
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Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob den Klägern ein systemischer Mangel im ungarischen Asylverfahren – falls ein solches entgegen vorstehenden Ausführungen eröffnet werden sollte – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch aus dem Grunde droht, dass Antragsteller auf internationalen Schutz auch nach Abschaffung der Transitzonen entgegen Art. 8 der EU-Aufnahmerichtlinie regelmäßig für einen Zeitraum von vier Wochen nach der Registrierung ihres Asylantrages inhaftiert werden können ohne die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung, wenngleich bislang noch keiner der Antragsteller im Rahmen des seit 26. Mai 2020 geltenden Asylantragsverfahrens via Botschaft in Kiew oder Belgrad inhaftiert worden ist, was jedoch angesichts von bislang lediglich zwölf derartigen Antragstellern wenig aussagekräftig ist (AIDA, a.a.O., S. 93, 13).
28
Vor dem oben beschriebenen Hintergrund kann darüber hinaus im vorliegenden Verfahren auch offenbleiben, ob den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung auch wegen der für den Personenkreis der internationalen Schutzberechtigten in Ungarn zu erwartenden Lebensbedingungen droht. Hierfür spricht jedoch jedenfalls im Hinblick auf die Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen, wie auch die vorliegenden Kläger mit mittlerweile vier minderjährigen Kindern, unter Berücksichtigung der Erkenntnismittellage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs einiges. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass der ungarische Staat seit 2016 alle Integrationsleistungen für international Schutzberechtigte eingestellt hat und die Kapazität von Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen Organisationen zur Versorgung dieses Personenkreises mit dem zum Lebensunterhalt Notwendigen erheblich beschränkt ist. Denn diese Organisationen können derartige Dienstleistungen nur für eine geringe Zahl von Schutzberechtigten anbieten und müssen notwendigerweise viele ohne jede Hilfe lassen (vgl. AIDA, a.a.O., S. 15), wobei sich deren Kapazität zur Hilfeleistung im Zuge der Aufnahme von derzeit knapp 520.000 Flüchtlingen aus der Ukraine infolge des dortigen Krieges weiter erheblich verschärft haben dürfte (https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine – Stand: 29.4.2022). Überdies dürfte nicht zu erwarten sein, dass der Kläger zu 1) durch eine – etwaige – Erwerbstätigkeit alleine (die Klägerin zu 2 dürfte bereits durch die notwendige Kinderbetreuung hieran gehindert sein) den Lebensunterhalt der gesamten 6-köpfigen Familie würde sicherstellen können (vgl. zum Ganzen: VG Aachen, B.v. 24.3.2022 – 5L 199/22.A – juris; VG Aachen, U.v. 7.3.2022 – 5K 1494/18.A – juris).
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III. Hat das Bundesamt den Asylantrag zu Unrecht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG als unzulässig abgelehnt und ist der Bescheid insoweit aufzuheben, liegen auch die Voraussetzungen für die Folgeentscheidungen über das Bestehen von nationalen Abschiebungsverboten, der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht vor (vgl. BVerwG, U.v. 26.1.2021 – 1 C 42/20 – juris Rn. 29; U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 25). Die Unzulässigkeitsentscheidung ist Grundlage für diese Folgeentscheidungen. Erweist sich die Unzulässigkeitsentscheidung als rechtswidrig, sind auch die Folgeentscheidungen aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris Rn. 20).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.