VG München, Urteil v. 26.07.2022 – M 4 K 19.357
Titel:
rechtmäßige Rücknahme eines zuvor durch Täuschung erschlichenen Aufenthaltstitels
Normenketten:
BayVwVfG Art. 48
AufenthG § 25b, § 51 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Maßgeblich für die Rücknahme eines rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitels ist Art. 48 BayVwVfG; für eine Anlehnung an strafrechtliche Verjährungs- oder Tilgungsfristen ist daneben kein Raum. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine nachhaltige Integration iSd § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG ist trotz Vorliegens aller Regelvoraussetzungen zu verneinen, wenn die Integrationsleistungen des Ausländers auf einem durch langjährige falsche Identitätsangaben erreichten Aufenthalt im Bundesgebiet beruhen. (Rn. 86) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltstitel, Niederlassungserlaubnis, Rücknahme, Täuschung, nachhaltige Integration, Ermessen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 01.03.2023 – 10 ZB 23.132
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44718
Tenor
I. Soweit die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der erteilten Aufenthaltstitel und begehrt hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG.
2
Der Kläger wurde am ... in P. in Pakistan geboren.
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Er reiste Ende Juni 1996 nach Deutschland ein. Sein Asylverfahren führte er ohne Vorlage von Identitätsnachweisen als am ... in L.N. in Afghanistan geborener afghanischer Staatsbürger namens S. S. (im Folgenden: Aliasidentität). Den Asylantrag des Klägers lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 2. September 1996 als offensichtlich unbegründet ab. Der Kläger habe zur Begründung seines Asylantrags im Wesentlichen angegeben, dass sein Bruder neun Monate zuvor durch die Taliban mitgenommen worden sei. Dieser habe zur Partei von Najibullah gehört. Weil er Angst gehabt habe, dass ihm das gleiche zustoße, habe er Afghanistan verlassen. Jedoch sei der Kläger nicht in der Lage gewesen, einfachste Fragen im Zusammenhang mit Dingen des täglichen Lebens in Afghanistan zu beantworten und habe auch von den örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan keine Kenntnisse. Dem Kläger hätte der afghanische Kalender bekannt sein müssen und er habe außer der Heimatprovinz N. keine weitere Provinz gekannt. Er sei nicht in der Lage gewesen, eine Stadt der Provinz N. außer J. zu benennen. Die Einlassungen des Klägers in der persönlichen Anhörung ließen nur den Schluss zu, dass er – entgegen seiner Behauptung – nicht afghanischer Staatsangehöriger sei und die behauptete Verfolgungsfurcht auf „reiner Erfindung“ beruhe.
4
Die hiergegen erhobene Klage (Az. W 7 K 96.32022) wurde mit Urteil vom 7. April 1998 abgewiesen, Rechtskraft trat am 13. Mai 1998 ein.
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Der Aufenthalt des Klägers wurde erstmals ab 27. April 1998 bis 15. Mai 1998 gemäß § 55 Abs. 2 AuslG a.F. geduldet. Die Duldung wurde bis 22. Mai 1998 verlängert.
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Nach Vorlage eines am 7. Mai 1998 von der Afghanischen Botschaft in Bonn ausgestellten afghanischen Reisepasses für die Aliasidentität erhielt der Kläger am 28. Mai 1998 erneut eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG a.F., die bis zum 27. November 1998 gültig war. Ausweislich eines Aktenvermerks vom 15. Juli 1998 (Bl. 62 d. BA) wurde diese Duldung nach § 55 AuslG a.F. erteilt, da die Ausreispflicht zu der Zeit nicht habe durchgesetzt werden können, da eine Abschiebung nach Afghanistan wegen der ungeklärten Abschiebewege – faktischer Abschiebestopp – nicht möglich gewesen sei und auf Schreiben des Bayerischen Innenministeriums vom 4. Juli 1991, 9. August 1994 und 30. April 1997 verwiesen. Die Duldung wurde in der Folge laufend verlängert, zuletzt bis 3. Mai 2000.
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Auf Antrag vom 2. Mai 2000 und unter Vorlage des afghanischen Reisepasses auf die Aliasidentität wurde dem Kläger am 3. Mai 2000 eine Aufenthaltsbefugnis für ein Jahr unter seiner Aliasidentität erteilt. Zu seinen Eltern gab der Kläger in den Anträgen jeweils an, dass diese afghanische Staatsangehörige seien und in L., Afghanistan wohnten. Ausweislich der Behördenakte handelte es sich dabei um Aufenthaltsbefugnisse an afghanische/somalische Staatsangehörige, deren Asylanträge abgelehnt worden sind. Die Aufenthaltsbefugnis wurde am 27. April 2001, 26. April 2002 und 29. Juli 2003 jeweils um ein Jahr verlängert.
8
Im Rahmen einer sicherheitsrechtlichen Befragung am 22. April 2003 gab der Kläger unter anderem an, sich bislang in einem anderen Staat aufgehalten zu haben, dies seien drei Tage in Pakistan gewesen sowie außer der afghanischen keine andere Staatsangehörigkeit zu besitzen. Der Kläger wurde bei der Sicherheitsbefragung darüber belehrt, dass gemäß § 47 Abs. 2 Nr. 5 AuslG a.F. ein Ausländer in der Regel auszuweisen ist, der in einer solchen Befragung der Ausländerbehörde gegenüber u.a. frühere Aufenthalte in anderen Staaten verheimlicht. Er wurde weiter darüber unterrichtet, dass gemäß § 46 Nr. 1 AuslG a.F. falsche Angaben zum Zwecke der Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung oder einer Duldung ebenso zur Ausweisung führen können.
9
Am 1. April 2010 stellte die Afghanische Botschaft in Berlin dem Kläger einen afghanischen Reisepass auf seine Aliasidentität mit Gültigkeit bis zum 1. April 2015 aus (Bl. 309 f. d. BA). Auf seinen Antrag vom 4. Mai 2004 und unter Vorlage dieses Reisepasses erhielt der Kläger am 13. Juli 2004 unter seiner Aliasidentität eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die ab dem 10. Dezember 2010 als Niederlassungserlaubnis fortgalt (vgl. Bl. 5 d. BA).
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Mit Schreiben vom ... Januar 2016 teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit, dass der Kläger tatsächlich … … heiße und legte zum Nachweis eine Fotokopie seiner pakistanischen Geburtsurkunde und seines am 11. Februar 2011 auf die Identität, unter der der Kläger das vorliegende Verfahren führt, ausgestellten pakistanischen Personalausweises vor. Das afghanische Generalkonsulat München habe den Reisepass seines Mandanten eingezogen. Der Bevollmächtigte bat, die Identität des Klägers zu „berichtigen“ und beantragte, die Niederlassungserlaubnis auf die pakistanischen Personalien neu auszustellen (Bl. 200 ff. d. BA).
11
Mit Schreiben vom … April 2016 legte der Bevollmächtigte des Klägers auf Nachfrage den Mietvertrag, eine Arbeitgeberbestätigung, nach der der Kläger seit dem 1. Januar 2001 im ... … beschäftigt sei, aktuelle Gehaltsnachweise sowie den Rentenversicherungsverlauf vor. Der Kläger habe nie öffentliche Leistungen bezogen, und sei seit August 1997 durchgehend beschäftigt. Er sei zwar tatsächlich pakistanischer Staatsangehöriger, entstamme jedoch einer afghanischen Minderheit, die dort im Grenzgebiet zu Afghanistan lebe.
12
Mit Schreiben vom … August 2016 legte der Bevollmächtigte des Klägers den am 18. Juli 2016 ausgestellten und bis zum 17. Juli 2021 gültigen pakistanischen Reisepass des Klägers vor. Auf Seite zwei des Reisepasses ist die Nummer des vorhergehenden Reisepasses vermerkt.
13
Am 3. August 2017 stellte die Beklagte Strafanzeige gegen den Kläger wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels und hörte ihn mit Schreiben vom 4. August 2017 zu den beabsichtigten ausländerrechtlichen Maßnahmen an.
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Mit Schreiben vom … September 2017 nahm der Bevollmächtigte des Klägers dahingehend Stellung, die Rücknahme der Aufenthaltstitel sei unverhältnismäßig. Der Lebensunterhalt des Klägers sei dauerhaft gesichert und er sorge für das Alter vor. Der Kläger verfüge seit 2004 über einen unbefristeten Aufenthaltstitel, die Rücknahme sei ein schwerer wirtschaftlicher und persönlicher Eingriff in das Leben des Klägers. Er habe zwar seinen Aufenthalt im Bundesgebiet durch die Täuschung über seine Staatsangehörigkeit erschlichen. Dies sei jedoch kein Einzelfall und die Täuschung strafrechtlich verjährt. Das unbefristete Aufenthaltsrecht habe der Kläger nur aufgrund seiner Integrationsleistungen erlangt. Sein weiterer Aufenthalt unterfalle dem Schutz des Artikels 8 EMRK. Im Rahmen der Abwägung durch die Behörde sei zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst die Unrichtigkeit seiner Angaben offenbart habe (Bl. 312 ff. d. BA).
15
Das Strafverfahren wegen Erschleichens von Aufenthaltstiteln wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 23. November 2017 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt (Bl. 342 d. BA).
16
Mit Schriftsatz vom … Januar 2019, bei Gericht eingegangen am 25. Januar 2019, ließ der Kläger Klage erheben mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger seine Niederlassungserlaubnis auf die Personalien … …, geb. ... in P., pakistanischer Staatsangehöriger, neu auszustellen.
17
Mit Bescheid vom 25. Februar 2019, nahm die Beklagte die am 2. Mai 2000, 27. April 2001, 26. April 2002, 29. Juli 2003 und 13. Juli 2004 erteilten Aufenthaltstitel jeweils mit ursprünglicher Wirkung zurück (Ziff. 1), wies den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und untersagte die Wiedereinreise für die Dauer von drei Jahren (Ziff. 2), setzte eine Ausreisefrist von einem Monat nach der Vollziehbarkeit des Bescheides und drohte die Abschiebung nach Pakistan oder einen anderen zur Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat an (Ziff. 3) und verpflichtete den Kläger, den am 10. Dezember 2010 ausgestellten Aufenthaltstitel unverzüglich nach Bestandskraft des Bescheids ungültig stempeln zu lassen (Ziff. 4).
18
Die erteilten Aufenthaltstitel würden gemäß Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Sämtliche dem Kläger erteilten Aufenthaltstitel seien von Anfang an rechtswidrig gewesen seien, da er diese lediglich aufgrund der falschen Angaben zu seiner Person erhalten habe. Bei Kenntnis der richtigen Personalien hätte der Kläger das Bundesgebiet unverzüglich verlassen müssen, gegebenenfalls in Form einer Abschiebung nach Pakistan. Auch wenn dem Kläger kein Asylstatus oder Abschiebungshindernisse zugesprochen worden seien, liege dennoch eine sogenannte Kausalität hinsichtlich der Identitätstäuschung und der erteilten Aufenthaltstitel vor. Auch die Duldungen seien ihm damals lediglich erteilt worden, da er sich beharrlich als afghanischer Staatsangehöriger ausgegeben habe, und für diesen Personenkreis habe die Ausreise nach Afghanistan wegen des faktischen Abschiebestopps nicht durchgesetzt werden können. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, da er die Verwaltungsakte durch arglistige Täuschung erwirkt habe, und wegen der arglistigen Täuschung stehe auch die in Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG genannte Jahresfrist nicht entgegen.
19
Im Rahmen des Ermessens berücksichtigte die Beklagte folgende Gesichtspunkte: Es stehe dem öffentlichen Interesse entgegen, positive Rechtsfolgen von rechtswidrigem Verhalten zuzulassen. Eine Rechtsordnung, die sich ernst nehme, dürfe nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Das herausgehobene legitime öffentliche Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der geklärten Identität eines Ausländers vor Erteilung eines Aufenthaltstitels spiegele sich auch in der Ausgestaltung als vor die Klammer gezogene allgemeine Erteilungsvoraussetzung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) wieder. Umso mehr sei zu berücksichtigen, dass der Kläger die Erteilung des unbefristeten Aufenthaltstitels, der einer Niederlassungserlaubnis entspreche, abgewartet habe, um seine echte Identität preiszugeben, da er wohl davon ausgegangen sei, dass ihm aufgrund des höheren aufenthaltsrechtlichen Schutzes keine ausländerrechtlichen Maßnahmen mehr drohen würden. Von einer gelungenen Integration könne im Fall des Klägers nicht ausgegangen werden, da hierfür auch und insbesondere die Kenntnis über die geltenden Gesetze und ein entsprechendes rechtstreues Verhalten vorausgesetzt werden, welches der Kläger bereits von Anfang an durch die konsequenten Falschangaben unterlaufen habe. Erschwerend komme hinzu, dass er die Falschangaben durch Vorlage eines afghanischen Reisepasses untermauert habe. Die persönlichen Interessen seien bei der Entscheidung über die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnisse berücksichtigt worden. Diese seien allerdings nicht derart gewichtig, dass sie sich gegenüber den gewichtigen öffentlichen Interessen durchsetzen könnten. Zugunsten des Klägers sei berücksichtigt worden, dass er bereits seit dem 1. Januar 2001 beim selben Arbeitgeber beschäftigt sei und die deutsche Sprache beherrsche. Weitergehende Integrationsleistungen gebe es nicht. Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigende familiäre Bindungen im Bundesgebiet lägen nicht vor.
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Nach Abwägung überwiege daher das öffentliche Interesse an der Rücknahme. Die Rücknahme sei mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgt, da gerade im Ausländer- und auch Staatsangehörigkeitsrecht ein gesteigertes Interesse daran bestehe, dass die zurückgelegten Aufenthaltszeiten auch wirklich im Einklang mit der Rechtsordnung stünden und den Rechtsschein eines rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitels zu beseitigen. Die Beklagte habe jeden Anschein zu vermeiden, dass Täuschungshandlungen in irgendeiner Form honoriert oder toleriert werden bzw. positive Auswirkungen haben können, verkenne dabei aber nicht, dass eine Rücknahme einschneidende Folgen für die privaten Interessen des Klägers habe. Im Rahmen der Abwägung überwiege das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände. Durch die Rücknahme der Aufenthaltstitel habe der Kläger keine Voraufenthaltszeiten erworben, die dem Kläger in weiteren ausländerrechtlichen Verfahren in positiver Weise anzurechnen wären. Die Pflicht, den zuletzt am 10. Dezember 2010 ausgestellten Aufenthaltstitel ungültig stempeln zu lassen, ergebe ich sich aus § 48 Abs. 1 AufenthG.
21
Mit Schriftsatz vom 18. März 2019 beantragte die Beklagte,
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die Klage abzuweisen.
23
Mit Schriftsatz vom ... April 2019 ließ der Kläger zusätzlich beantragen, den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019 aufzuheben.
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Zur Begründung trug der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 3. Mai 2019 im Wesentlichen vor, der Bescheid verletze den Kläger in seinen Rechten insbesondere aus Art. 8 EMRK und Art. 14 GG. Nachdem die Niederlassungserlaubnis bereits 2004 erteilt worden sei, habe der Kläger auf die Wirksamkeit seiner Integrationsleistungen und seiner Lebensentscheidungen vertrauen können. Es sei nicht richtig, dass der Aufenthalt des Klägers ohne die Täuschung sicher beendet worden wäre. Auch unter Offenbarung seiner pakistanischen Staatsangehörigkeit wäre er tatsächlich voraussichtlich nicht abgeschoben worden. Nach Pakistan seien regelmäßig nur Straftäter abgeschoben worden, dies wäre auch aktuell so. In der Vergangenheit hätte der Kläger von der pakistanischen Auslandsvertretung möglicherweise keinen Pass bekommen und dann weder freiwillig ausreisen noch abgeschoben werden können. Im Übrigen habe es kein Rückübernahmeabkommen mit Pakistan gegeben, so dass eine Abschiebung des Klägers auch hieran gescheitert wäre. Wesentlich sei, ob die Behörde ohne die Täuschung tatsächlich vom Erlass des Verwaltungsakts, wie dieser ergangen sei, abgesehen hätte. Angesichts des langen und beanstandungsfreien Aufenthalts in Deutschland sei die Rücknahme der Aufenthaltstitel auch unverhältnismäßig. Zu seinem Arbeitgeber bestehe ein freundschaftliches Verhältnis, wie auch zu vielen weiteren Personen im Bundesgebiet. Die drohende Aufenthaltsbeendigung wirke sich mittlerweile nicht nur psychisch schwer, sondern auch auf sein körperliches Befinden aus, dies beweise ein vorgelegtes Attest. Die hinter den falschen Angaben liegende Straftat liege lange zurück und sei verjährt, der Kläger habe mit der Berichtigung auch Reue gezeigt. Die Eltern des Klägers seien tatsächlich Afghanen, lebten jedoch in Pakistan. Der Kläger habe die falschen Angaben aus Angst vor einer Abschiebung gemacht.
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Die Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 13. Juni 2019, dass der Kläger lediglich aufgrund der Tatsache, dass er die afghanische Staatsangehörigkeit belegt hatte, in den Besitz einer Aufenthaltsbefugnis gelangt sei und verwies hierzu auf das Schreiben des Bayerischen Innenministeriums vom 17. Juli 1998 (Az. …). Für pakistanische Staatsangehörige habe es keine vergleichbare Regelung gegeben. Es seien auch Heimreisedokumente für pakistanische Staatsangehörige ausgestellt worden und einen Abschiebungsstopp für Pakistan habe es nicht gegeben. Sofern der Kläger ohne pakistanische Reisedokumente nach Pakistan hätte zurückgeführt werden müssen, wären Heimreisedokumente beantragt und Abschiebungsmaßnahmen eingeleitet worden.
26
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragte bei der Beklagten mit Schreiben vom … Oktober 2020 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, insbesondere nach § 25b AufenthG (Bl. 409 d. Restakte).
27
Mit Schriftsatz vom … Oktober 2020 verwies der Bevollmächtigte des Klägers ergänzend auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Pakistan vom 12. März 1999, wonach Heimreisedokumente durch die pakistanische Botschaft in Berlin „schleppend“ ausgestellt würden sowie auf ein Schreiben vom 21. Mai 1999, laut dem die pakistanische Einreisebehörde in letzter Zeit, pakistanischen Staatsangehörigen, die aus der Bundesrepublik abgeschoben werden sollten und über keine pakistanischen Reisedokumente verfügten, die Einreise verweigert habe. Im Rahmen des Ermessens bei der Entscheidung über die Rücknahme sei auch der Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er durch die Norm des § 25b AufenthG Ausdruck finde. Der Gesetzgeber wolle von dieser Regelung gemäß § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur andauernde Täuschungshandlungen ausschließen. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Er verfüge, unter Verweis auf eine Bestätigung der … Volkshochschule vom ... November 2020, mündlich über das Sprachniveau A2 und damit über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse. Ausweislich eines fachärztlichen Attests vom 19. August 2020 seien beim Kläger mittlerweile u.a. eine schwere depressive Episode diagnostiziert worden und diese werde medikamentös behandelt.
28
Der Kläger erhielt am 3. November 2020 eine Duldung, die laufend verlängert wurde.
29
Am … Oktober 2021 legte der Bevollmächtigte des Klägers einen pakistanischen Reisepass, der am 11. Februar 2021 ausgestellt wurde, vor.
30
Mit Schriftsatz vom … September 2021 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben und dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG zu erteilen, höchst hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag des Klägers vom 30. Oktober 2020 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und über die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, weiter hilfsweise, die Befristung desselben zu entscheiden.
31
Zur Begründung trug der Bevollmächtigte des Klägers insbesondere vor, aufgrund der langen beanstandungsfreien Voraufenthaltszeit sei ein Ausnahmefall, der eine Abweichung von der Regelerteilung vorsehen würde, hier nicht gegeben.
32
Mit Schriftsatz vom ... Mai 2022 legte der Bevollmächtigte des Klägers ein fachärztliches Attest vom 27. April 2022 vor, ausweislich dem der Kläger seit dem 27. März 2019 in Behandlung sei und unter einer schweren reaktiven depressiven Episode mit Anpassungsstörungen sowie Ein- und Durchschafstörungen leide. Es bestehe kein Anhalt für eine Selbstgefährdung. Aus fachärztlicher Sicht werde dringend eine Stabilisierung des Aufenthaltsstatus des Patienten im Sinne einer längeren Aufenthaltsgenehmigung, insbesondere zur Verhinderung einer weiteren Chronifizierung der psychischen Erkrankung des Patienten befürwortet. Es ergebe sich ein längerfristig behandlungsbedürftiges Krankheitsbild, welches sich unter der jeweils drohenden Abschiebung im Erleben des Patienten verstärke. Der Kläger sei mit den Medikamenten Mirtazapin, Sertralin, Amitriptylin, Quetiapin und Trazodon behandelt worden, zuletzt seien Sertralin, Amitriptylin und Quetiapin verordnet worden.
33
Die Beklagte ergänzte mit Schriftsatz vom 24. Juni 2022 ihre Ermessenserwägungen dahingehend, dass ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25b AufenthG nicht ersichtlich sei, da die durch Täuschung ermöglichte Aufenthaltsdauer des Klägers nicht schutzwürdig sei. Der Kläger habe durch die jahrelange Identitätstäuschung einen schwerwiegenden Rechtsverstoß begangen, welcher eine akute Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle. Das Ausweisungsinteresse, begründet durch die bestehende Wiederholungsgefahr, stehe der Erteilung des humanitären Aufenthaltstitels entgegen. Ob der Kläger über hinreichende Deutschkenntnisse verfüge, sei nicht bekannt. Zudem sei durch die Täuschung der zwingende Versagungsgrund des § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels komme nicht in Betracht, auch hier würde die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstehen. Derzeit sei der Kläger im Besitz einer Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG.
34
Mit Schriftsatz vom .... Juli 2022 trug der Bevollmächtigte des Klägers vor, dass bei den Erteilungsvoraussetzungen des § 25b AufenthG die gesamte Aufenthaltszeit des Klägers zu berücksichtigen sei, ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der „Schutzwürdigkeit“ sei abzulehnen. Jedenfalls beruhe der Aufenthalt während des Asylverfahrens und seit der Offenlegung der wahren Identität, somit mehr als acht Jahre, nicht auf der Täuschung. Der Kläger sei bereit, ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzugeben und habe die hinreichenden mündlichen Sprachkenntnisse nachgewiesen. Nachdem die Identität des Klägers feststehe, bestehe auch keine Wiederholungsgefahr mehr. Ein aktuelles Täuschungsverhalten, das § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verlange, sei nicht gegeben. Das Gewicht seiner Integrationsleistungen werde durch die Täuschung nicht beseitigt.
35
Die Beklagte ergänzte ihre Ermessenserwägungen mit Schriftsatz vom 26. Juli 2022 weiter. Bei der Entscheidung über die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sei in der Regel auch zu prüfen, wie sich die Rücknahme auf die Anrechnung von Voraufenthaltszeiten für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG auswirke. Es bestehe, wie auch § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zeige, ein bedeutendes öffentliches Interesse an einer geklärten Identität des Ausländers, bevor diesem ein Aufenthaltstitel erteilt werde und, dass zurückliegende Aufenthaltszeiten im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung stünden. Das private Interesse habe hier hinter dem hohen öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände zurückzustehen.
36
In der mündlichen Verhandlung trug der Kläger vor, er wisse seit längerer Zeit, dass er Afghane sei. Sein Vater sei Afghane gewesen. Nach dessen frühem Tod sei er mit seiner Mutter nach Pakistan umgezogen. Die Afghanische Konsulat habe später eine Tazkira verlangt, um einen Reisepass auszustellen, die er nicht habe herschaffen können. Auf der Grundlage der Papiere der Mutter habe er schließlich pakistanische Dokumente bekommen.
37
Die Beklagte hob in der mündlichen Verhandlung den Bescheid vom 25. Februar in Ziff. 2 auf. Der Bevollmächtigte des Klägers erklärte daraufhin im Einvernehmen mit dem Kläger unter Übernahme der Kosten insoweit das Verfahren für erledigt. Die Beklagte stimmte der Erledigung zu.
38
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragte zuletzt,
39
den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger seine Niederlassungserlaubnis auf die Personalien … …, geboren am … in P., pakistanischer Staatsangehöriger, neu auszustellen. Hilfsweise wird beantragt, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG zu erteilen. Höchst hilfsweise wird beantragt, die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers vom 30. Oktober 2020 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
40
Die Beklagte beantragte,
41
die Klage abzuweisen.
42
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
43
Die Klage hat, soweit sie nicht übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, keinen Erfolg.
44
I. Die Klage ist, soweit sie aufrechterhalten wurde, zulässig.
45
1. Der Kläger ließ zunächst eine zulässige Klage auf „Neuausstellung“ der Niederlassung auf die offengelegten pakistanischen Personalien erheben. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei allerdings nicht um eine Verpflichtungsklage im Form einer Untätigkeitsklage, sondern um eine allgemeine Leistungsklage. Die begehrte „Neuausstellung“ der Niederlassungserlaubnis hat keine Regelungswirkung, da der Kläger bereits seit Juli 2004 im Besitz der Niederlassungserlaubnis war.
46
2. Mit Schriftsatz vom ... April 2019 ließ der Kläger den Bescheid vom 25. Februar 2019, mit dem sämtliche Aufenthaltstitel (bzw. früher: Aufenthaltsgenehmigungen) mit ursprünglicher Wirkung zurückgenommen wurden, in die Klage miteinbeziehen. Es kann offenbleiben, ob damit der Klageantrag ohne Änderung des Klagegrundes erweitert wurde, was nach § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO ohne weiteres zulässig ist, oder ob es sich um eine „echte“ Klageänderung im Sinne des § 91 VwGO handelt. Denn auch eine nach § 91 VwGO zu beurteilende Klageänderung war zulässig. Zum einen hat sich die Beklagte in ihren Schriftsätzen vom 13. Juni 2019, 24. Juni 2022 und 26. Juli 2022 zu der erweiterten Klage eingelassen und zum anderen ist die Klageerweiterung auch sachdienlich. Eine Klageänderung ist in der Regel als sachdienlich anzusehen, wenn sie der endgültigen Beilegung des sachlichen Streits zwischen den Beteiligten im laufenden Verfahren dient und der Streitstoff bei Würdigung des Einzelfalls im Wesentlichen derselbe bleibt (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.1980 – IV C 61.77 – juris Rn. 23). Dies ist hier der Fall. Mit der Entscheidung darüber, ob der Rücknahmebescheid rechtmäßig war oder nicht, wird zugleich auch die Frage, ob dem Kläger die Niederlassungserlaubnis „neu“ auszustellen ist, endgültig geklärt. Beide Anträge beziehen sich im Wesentlichen darauf, ob dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis zusteht.
47
II. Soweit die Klage in Bezug auf Nr. 2 des Bescheides vom 25. Februar 2019 übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
48
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Rücknahme ist rechtmäßig (1.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Neuausstellung der Niederlassungserlaubnis (2.) oder auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. Verbescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (3.).
49
1. Die Rücknahmen der Aufenthaltstitel mit ursprünglicher Wirkung in Ziff. 1 des angegriffenen Bescheids sind rechtmäßig.
50
Nach Art. 48 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BayVwVfG kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
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1.1. Die dem Kläger am 2. Mai 2000, 27. April 2001, 26. April 2002 und 29. Juli 2003 erteilten Aufenthaltsbefugnisse sind rechtswidrig, da deren Erteilungsvoraussetzungen nach § 30 Abs. 4 Ausländergesetz (AuslG) a.F. nicht vorgelegen haben.
52
1.1.1. Rechtsgrundlage für die Erteilungen war § 30 Abs. 4 AuslG a.F.. Danach kann einem Ausländer, der seit mindestens zwei Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig ist und eine Duldung besitzt, abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, es sei denn, der Ausländer weigert sich, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen.
53
Das Bayerische Innenministerium erließ am 17. Juli 1998 eine Weisung zu Aufenthaltsbefugnissen für afghanische Staatsangehörige, deren Asylanträge abgelehnt worden sind (Az. …). Diese ist gerichtsbekannt. Ausweislich der Weisung sei die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan, deren Aufenthalt geduldet werde, bisher nach unterschiedlichen Kriterien erfolgt. Im Zusammenhang mit Rundschreiben über Verbleiberegelungen auf der Grundlage des § 32 AuslG a.F. sei bereits mehrfach darauf hinwiesen worden, dass zwischen Bund und Ländern nach wie vor unterschiedliche Auffassungen über den Umfang und die Fortgeltung des 1991 einmal angeordneten Abschiebestopps nach § 54 AuslG bestünden. Da die kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan fortdauerten, ein Ende nicht absehbar sei und auch heute noch – wegen der nach wie vor ungeklärten Abschiebungswege – praktisch ein „faktischer“ Abschiebungsstopp bestehe, der vom Einvernehmen des Bundesministeriums des Innern nach § 54 AuslG a.F. nicht berührt werde und somit die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslGa. F. rechtfertige, sollten künftig afghanischen Staatsangehörigen, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, Aufenthaltsbefugnisse nach § 30 Abs. 4 AuslG a.F. erteilt werden. Die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen sei u.a. ausgeschlossen bei der Möglichkeit der Einreise und des längerfristigen Aufenthalts in einem Drittstaat.
54
Der Kläger hat bei seinen Anträgen, eingegangen am 2. Mai 2000, 27. April 2001, 26. April 2002 und 22. April 2003, falsche Angaben über seinen Namen, Geburtsort und Geburtsdatum gemacht und sich als afghanischer Staatsangehöriger ausgegeben, bekräftigt mit einem auf die falschen Personalien ausgestellten afghanischen Reisepass. Als pakistanischem Staatsangehörigen wären dem Kläger die Aufenthaltsbefugnisse nach § 30 Abs. 4 AuslG a.F. in Verbindung mit der Weisung des Bayerischen Innenministeriums nicht erteilt worden.
55
Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger tatsächlich afghanischer Staatsangehöriger ist. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge kam zu dem Schluss, dass der Kläger – entgegen seiner Behauptung – nicht afghanischer Staatsangehöriger sei und die behauptete Verfolgungsfurcht auf reiner Erfindung beruhe. Der Kläger sei nicht in der Lage gewesen, einfachste Fragen im Zusammenhang mit Dingen des täglichen Lebens in Afghanistan zu beantworten und habe auch von den örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan keine Kenntnisse gehabt. Im Januar 2016 ließ der Kläger selbst mitteilen, dass das afghanische Generalkonsulat seien – auf seine Aliasidentität ausgestellten – Reisepass eingezogen habe sowie die zutreffenden Personalien und dass er die pakistanische Staatsangehörigkeit habe. Zum Nachweis legte er eine pakistanische Geburtsurkunde sowie einen pakistanischen Personalausweis, ausgestellt am 11. Februar 2011, vor. Soweit der Kläger erstmals mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom ... April 2019 vorgetragen hat, seine Eltern seien Afghanen bzw. in der mündlichen Verhandlung selbst vorgetragen hat, sein Vater sei Afghane gewesen und er wisse seit längerer Zeit, dass er Afghane sei, hat er hierüber keine Nachweise erbracht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass er sich – unter seinen nunmehr geltend gemachten Personalien – um Nachweise, wie etwa eine Tazkira, bemüht hat. In der mündlichen Verhandlung trug der Kläger weiter vor, die afghanische Botschaft habe später auch eine Tazkira verlangt, um einen Reisepass auszustellen, die er nicht habe beibringen können. Deshalb habe er schließlich auf Grundlage der Papiere der Mutter seine pakistanischen Dokumente bekommen. Tatsächlich verfügte der Kläger aber bereits im Februar 2011 über einen auf seine nunmehr geltend gemachten Personalien ausgestellten pakistanischen Personalausweis, der auch Angaben zur bisherigen Ausweisnummer enthält. Somit verfügte der Kläger auch vor 2011 bereits über einen pakistanischen Personalausweis. Auch der pakistanische Reiseausweis von 2017 enthält die bisherige Ausweisnummer des vorhergehenden pakistanischen Reiseausweises (Bl. 241 d. BA). Darüber hinaus sind sowohl auf der Geburtsurkunde, dem pakistanischen Personalausweis und dem pakistanischen Reisepass der Name des Vaters vermerkt, somit hatten die pakistanischen Behörden die Möglichkeit, Informationen über die Staatsangehörigkeit des Vaters einzuholen. Das Gericht ist deshalb überzeugt, dass der Kläger die pakistanische Staatsangehörigkeit besitzt und ihm dies bei Stellung der Anträge auf Erteilung der Aufenthaltsbefugnisse auch bekannt war. Schließlich hat der Kläger seinen „Berichtigungsantrag“ im Jahr 2016 gerade mit dem Besitz der pakistanischen Staatsangehörigkeit begründet.
56
Selbst wenn der Kläger neben der pakistanischen auch die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen würde, wäre ihm die Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 Abs. 4 AuslG a.F. rechtswidrig erteilt worden, da ihm die Einreise und der längerfristige Aufenthalt in einem Drittstaat, nämlich Pakistan, möglich gewesen wäre. In einem solchen Fall war eine Erteilung ausgeschlossen.
57
1.1.2. Damit dann dahinstehen, ob aufgrund der Täuschung auch ein Ausweisungsgrund vorliegt und die Aufenthaltsbefugnisse deshalb in der Regel nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG a.F. zu versagen gewesen wären. Ebenfalls dahinstehen kann, ob derartige Versagungsgründe nach der Weisung des Bayerischen Innenministeriums vom 17. Juli 1998 hätten außer Betracht bleiben sollen. Laut der Weisung ist die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen ausgeschlossen bei Straftätern mit einer Verurteilung zu mehr als 50 Tagessätzen. Außer Betracht bleiben – ungeachtet des Strafmaßes – Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Ausländer- und Asylverfahrensgesetz, außer Beihilfe zur illegalen Einreise bei Schleusungen.
58
1.2. Die am 13. Juli 2004 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die seit dem 10. Dezember 2010 gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgalt, ist ebenfalls rechtswidrig erteilt worden.
59
1.2.1. Rechtsgrundlage für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis war § 35 Abs. 1 AuslG a.F. Danach kann einem Ausländer, der seit acht Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzt, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 24 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 AuslG a.F. bezeichneten Voraussetzungen vorliegen und sein Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit oder eigenem Vermögen gesichert ist. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltsbefugnis vorangegangenen Asylverfahrens sowie Zeiten einer Duldung gemäß § 55 Abs. 2 AuslG a.F. auf der Grundlage des § 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6 AuslG a.F. oder des § 54 AuslG a.F., soweit sie die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis nicht übersteigen, werden angerechnet.
60
Unter Anrechnung der Dauer des Asylverfahrens, das mit Stellung des Asylantrags am 1. Juli 1996 begann und mit Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg am 13. Mai 1998 endete, sowie den ab dem 28. Mai 1998 bis 3. Mai 2000 erteilten Duldungen und ab dem 2. Mai 2000 bis 28. Juli 2004 erteilten Aufenthaltsbefugnissen sind die notwendigen Aufenthaltszeiten zwar grundsätzlich zunächst erfüllt. Wegen der rechtmäßigen Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse mit Wirkung für die Vergangenheit erfüllt der Kläger die notwendigen Aufenthaltszeiten jedoch nicht, weshalb die unbefristete Aufenthaltserlaubnis rechtswidrig erteilt wurde.
61
1.2.2. Die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war auch deshalb rechtswidrig, weil die Erteilungsvoraussetzung nach § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG a.F. nicht erfüllt war, da Ausweisungsgründe vorlagen.
62
1.2.2.1. Der Kläger hatte in der sicherheitsrechtlichen Befragung am 22. April 2003 angegeben, nur drei Tage in Pakistan gewesen zu sein. Tatsächlich wurde er in Pakistan geboren und zog auch nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach dem frühen Tod des Vaters mit seiner Mutter nach Pakistan. Der Kläger wurde vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Möglichkeit der Ausweisung hingewiesen (vgl. Bl. 188 d. BA). Er erfüllt damit den Regelausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 Nr. 5 AuslG a.F. Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber u.a. frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht. Die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen falscher oder unrichtiger Angaben hingewiesen wurde. Dies ist hier der Fall.
63
1.2.2.2. Im Rahmen der sicherheitsrechtlichen Befragung gab der Kläger außerdem einen falschen Namen, Geburtsdatum und Geburtsort an und, dass er keine andere als die afghanische Staatsangehörigkeit besitze. Er erfüllte damit auch den Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 1 AuslG a.F.. Nach dieser Vorschrift kann nach § 45 Abs. 1 AuslG a.F. insbesondere ausgewiesen werden, wer u.a. in Verfahren nach diesem Gesetz falsche Angaben zum Zwecke der Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung gemacht hat, wobei die Ausweisung auf dieser Grundlage nur zulässig ist, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf die Rechtsfolgen falscher oder unrichtiger Angaben hingewiesen wurde. Darauf, ob dem Ausländer der begehrte Aufenthaltstitel auch aus anderen Gründen und damit unabhängig von seinen Falschangaben ein Aufenthaltstitel hätte erteilt werden müssen, kommt es nicht an (Hailbronner in Hailbronner Kommentar, Ausländerrecht, Stand August 2022, § 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG, Rn. 154 der der früheren Regelung in § 46 Nr. 1 AuslG a.F. weitgehend entspricht mit Verweis auf OVG NW, B.v. 22.6.2004 – 18 B 876/04 – juris). Das Gericht hat keinen Zweifel, dass der Kläger die unzutreffenden Angaben über seine Identität zur Erlangung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gemacht hat. Bei Offenlegung der zutreffenden Identität hätte er bereits damals ausländerrechtliche und darüber hinaus etwaige strafrechtliche Konsequenzen wegen der bereits erfolgten Täuschungshandlungen befürchten müssen. Zu Beginn der sicherheitsrechtlichen Befragung wurde der Kläger ausdrücklich darüber belehrt, dass falsche Angaben zum Zwecke der Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung zur Ausweisung führen können (vgl. Bl. 188 d. BA).
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1.2.2.3. Damit kann dahinstehen, ob der Kläger darüber hinaus auch den Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 2 AuslG a.F. in Verbindung mit Strafnormen wie etwa dem Straftatbestand des § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG a.F. erfüllt und ob diese Norm neben § 46 Nr. 1 AuslG a.F. anwendbar war. Gemäß § 46 Nr. 2 AuslG a.F. kann nach § 45 Abs. 1 AuslG a.F. insbesondere ausgewiesen werden, wer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat.
65
1.3. Der Kläger kann sich nicht auf Vertrauensschutz im Sinne des Art. 48 Abs. 1 S. 2 Abs. 2 BayVwVfG berufen, weil er die begünstigenden Verwaltungsakte durch arglistige Täuschung erwirkt hat.
66
Für begünstigende Verwaltungsakte, wie die Erteilung von Aufenthaltstiteln, gelten hinsichtlich der Möglichkeit der Rücknahme Einschränkungen gemäß Art. 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BayVwVfG. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 BayVwVfG jedoch nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat sowohl die Aufenthaltsbefugnisse als auch die unbefristete Aufenthaltserlaubnis (bzw. Niederlassungserlaubnis) durch arglistige Täuschung erwirkt.
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Um eine arglistige Täuschung handelt es sich, wenn der Adressat des Verwaltungsaktes durch Angaben, deren Unrichtigkeit ihm bewusst waren oder deren Unrichtigkeit er für möglich hielt, jedoch in Kauf nahm, bei Behördenmitarbeitern einen Irrtum in dem Bewusstsein hervorruft, diese durch Täuschung zu einer für ihn günstigen Entscheidung zu bestimmen (VGH BW, B.v. 14.8.2015 – 2 S 384/14 – juris Rn. 28). Der Kläger machte bewusst falsche Angaben, indem er sowohl im Asylverfahren als auch mehrfach gegenüber der Beklagten eine unzutreffende Identität und Staatsangehörigkeit angab. Mittels der arglistigen Täuschung wollte der Kläger für sich Aufenthaltstitel erwirken, auf die er ohne die arglistige Täuschung keinen Anspruch gehabt hätte. Weder die o.g. Aufenthaltsbefugnisse für afghanische Staatsangehörige noch im Anschluss die unbefristete Aufenthaltserlaubnis wären in Kenntnis der wahren Identität und Staatsangehörigkeit des Klägers im jeweiligen Erteilungszeitpunkt erteilt worden.
68
Anders als vom Bevollmächtigten des Klägers vorgetragen, ist es für die Ursächlichkeit der Täuschung unerheblich, ob der Kläger unter Offenbarung seiner pakistanischen Staatsangehörigkeit von Anfang an möglicherweise nicht abgeschobenen worden wäre. Maßgeblich ist, ob der Kläger die Erteilung der Aufenthaltstitel durch Täuschung erwirkt hat. Hypothetische Erwägungen bleiben außer Betracht (VGH BW, B.v. 13.10.2008 – 9 S 494/08 – juris Rn. 8). Das von der Klageseite herangezogene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2017 (Az. 1 C 16/16 – juris) handelte von einer Einbürgerung, die nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht an einer Identitätstäuschung scheitern darf, wenn die Ausländerbehörde hieraus keine Konsequenzen gezogen hat. Der Sachverhalt ist somit nicht vergleichbar.
69
1.4. Die zeitliche Begrenzung der Möglichkeit von Rücknahmen durch die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 S. 1 BayVwVfG steht einer Rücknahme der Aufenthaltstitel des Klägers vorliegend nicht entgegen, da die Jahresfrist in Fällen der arglistigen Täuschung – wie hier – nicht gilt, Art. 48 Abs. 4 S. 2 BayVwVfG.
70
1.5. Die Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse und der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erfolgte ermessensfehlerfrei. Das Gericht überprüft die Entscheidung der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 11) lediglich auf das Vorliegen von Ermessensfehlern, § 114 S. 1 VwGO.
71
1.5.1. In Fällen, in denen der Betroffene sich – wie hier – nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann, weil er den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren, wird der Verwaltungsakt in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (BayVGH B.v. 29.3.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 70).
72
1.5.2. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Es ist weder ein Ermessensausfall, -defizit noch eine Ermessensfehlgewichtung erkennbar. Sie begründete ihre Entscheidung insbesondere damit, dass es dem öffentlichen Interesse entgegenstehe, positive Rechtsfolgen von rechtswidrigem Verhalten zuzulassen. Eine Steuerung der Einreise und Aufenthalt von Ausländern sei nicht möglich, wenn man erlauben und billigen würde, dass die ausländerrechtlichen Bestimmungen durch Falschangaben unterlaufen würden. Die Beklagte hat auch zugunsten des Klägers sprechende Umstände, nämlich, dass der Kläger bereits seit dem 1. Januar 2001 beim selben Arbeitgeber beschäftigt ist und die deutsche Sprache beherrscht, berücksichtigt. Allerdings lägen keine weitergehenden Integrationsleistungen vor, die über den Erwerb der deutschen Sprachkenntnisse und die durchgängige Erwerbstätigkeit hinausgingen. Die persönlichen Interessen des Klägers würden das öffentliche Interesse, positive Rechtsfolgen von rechtswidrigem Verhalten zuzulassen, nicht überwiegen. Eine Ermessensfehlgewichtung ist hierin nicht zu sehen. Die Beklagte hat damit die maßgeblichen Umstände hinreichend berücksichtigt, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind nicht überschritten.
73
Im Klageverfahren trug der Bevollmächtigte des Klägers weiter vor, dass sich die drohende Aufenthaltsbeendigung auch gesundheitlich auswirke. Ausweislich des zuletzt vorlegten fachärztliches Attest vom 27. April 2022 leide der Kläger unter einer schweren reaktiven depressiven Episode mit Anpassungsstörungen sowie Ein- und Durchschafstörungen. Den Vortrag hat die Beklagte ohne Ermessensfehler nicht zum Anlass genommen, ihre Ermessensentscheidung zugunsten des Klägers abzuändern; eine entscheidende Rolle spielt dies erst auf Vollstreckungsebene. Auch das vorgetragene freundschaftliche Verhältnis des Klägers zu seinem Arbeitgeber, wie auch zu vielen weiteren Personen im Bundesgebiet – wobei diese nicht näher bezeichnet wurden – sind keine derart gewichtigen Interessen, dass die Ermessensentscheidung deshalb abzuändern gewesen wäre. Dass mit den falschen Angaben verwirklichte Straftaten möglicherweise verjährt sind, hat die Beklagte zu Recht nicht zu Gunsten des Klägers berücksichtigt. Maßgeblich für die Rücknahme der rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitel ist Art. 48 BayVwVfG. Für eine Anlehnung an strafrechtliche Verjährungs- oder Tilgungsfristen ist daneben kein Raum (OVG Saarlouis, U.v. 11.3.2010 – 2 A 491/09 – juris Rn. 33).
74
Die Beklagte hat die Aufenthaltstitel des Klägers auch ermessensfehlerfrei mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Zu Recht stellte sie darauf ab, dass jeder Anschein zu vermeiden sei, dass Täuschungshandlungen in irgendeiner Form honoriert oder toleriert würden bzw. positive Auswirkungen haben könnten. Gerade im Ausländer- und auch Staatsangehörigkeitsrecht bestehe ein gesteigertes Interesse daran, dass die zurückgelegten Aufenthaltszeiten auch wirklich im Einklang mit der Rechtsordnung stünden und den Rechtsschein eines rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitels zu beseitigen. Sie verkenne nicht, dass die Rücknahme für die Vergangenheit einschneidende Folgen für die privaten Interessen des Klägers habe, weil bisher mit Aufenthaltstitel zurück gelegte Aufenthaltszeiten wegfielen; dennoch durfte die Beklagte auch hier dem öffentlichen Interesse an der rückwirkenden Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände den Vorzug vor den persönlichen Interessen des Klägers geben. 75 Die Beklagte berücksichtigte bei der Rücknahmeentscheidung zulässiger Weise ergänzend weiter, dass sich diese auf die Anrechnung von Voraufenthaltszeiten für eine in Betracht kommende Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG auswirkt (so gefordert von OVG SH B.v. 3.5.2022 – 4 MB 5/22 – juris Rn. 19). Das private Interesse habe jedoch hinter dem hohen öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände zurückzustehen. Es bestehe ein bedeutendes öffentliches Interesse an einer geklärten Identität des Ausländers, bevor diesem ein Aufenthaltstitel erteilt werde und, daran, dass zurückliegende Aufenthaltszeiten im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung stünden.
75
1.5.3. Die Rücknahme der Aufenthaltstitel des Klägers mit Wirkung für die Vergangenheit ist auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil der Kläger einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines gleichwertigen Aufenthaltstitels hätte. Zwar darf ein Aufenthaltstitel, der dem Ausländer aus anderen Rechtsgründen sogleich wieder erteilt werden müsste, nicht widerrufen oder mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden (VG München, U.v. 23.4.2015 – M 12 K 15.631 Rn. 43 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 18 und BayVGH, U.v. 11.6.2013 – 10 B 12.1493 – juris Rn. 32). Diese Rechtsprechung bezieht sich aber schon nicht auf den hier vorliegenden Fall der Rücknahme eines Aufenthaltstitels mit Wirkung für die Vergangenheit.
76
1.5.3.1. Unabhängig davon hat die Beklagte zutreffend festgestellt, dass dem Kläger auch kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25b AufenthG zusteht. Nach § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat.
77
1.5.3.2. Der Kläger ist seit dem 3. November 2020 im Besitz einer sogenannten Verfahrensduldung, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Duldung im Sinne des § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG darstellt (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 28).
78
1.5.3.3. Eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland (§ 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG) setzt gemäß § 25b Abs. 1 S. 2 AufenthG regelmäßig voraus, dass der Ausländer die dort unter Nr. 1 bis 5 aufgezählten Voraussetzungen erfüllt. Diese sind vorliegend jedoch nicht erfüllt.
79
Der Kläger sichert zwar seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit und verfügt ausweislich des mit Schriftsatz vom … Oktober 2020 vorgelegten Zertifikats der … Volkshochschule mündlich über das Sprachniveau A2. Die Voraussetzungen in Nr. 3 und 4 sind damit erfüllt.
80
Durch die rechtmäßige Rücknahme der Aufenthaltstitel für die Vergangenheit fehlt es jedoch an dem in § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG geforderten ununterbrochenen, geduldeten, gestatteten oder erlaubten Voraufenthalt von mindestens acht Jahren. Der geforderte Mindestaufenthalt kann nur durch Voraufenthaltszeiten, die von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt gedeckt sind oder in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unzulässig ist, gedeckt werden (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 41; BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 35.22 – juris Rn. 8, 13). Berücksichtigt werden können deshalb nur die ab dem 3. November 2020 ausgestellten Verfahrensduldungen. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf eine Duldung, Gestattung oder Aufenthaltserlaubnis ist nicht ersichtlich. Damit erfüllt der Kläger die notwendigen Voraufenthaltszeiten nicht.
81
Auch die in § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AufenthG genannten Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Er hat bislang nur die Bereitschaft erklärt, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu bekennen, das Bekenntnis aber nicht abgelegt und Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ebenfalls nicht nachgewiesen. Der erforderliche Nachweis von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet wird im Allgemeinen durch den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses, die Absolvierung des bundeseinheitlichen Orientierungstests oder mindestens eines Abschlusses einer deutschen Hauptschule. Bei Analphabeten wäre zumindest eine mündliche Prüfung möglich (so Kabis in Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis,1. Auflage 2019, § 8 Aufenthaltsverfestigung, Rn. 89).
82
1.5.3.4. Allerdings müssen die Voraussetzungen in Nr. 1 bis 5 nur „regelmäßig“ gegeben sein, es kann deshalb von einer nachhaltigen Integration im Einzelfall auch dann auszugehen sein, wenn sie nicht vollständig erfüllt werden, der Ausländer aber besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht erbracht hat oder einzelne benannte Integrationsvoraussetzungen „übererfüllt“, und dadurch das nicht vollständig erfüllte „Regelmerkmal“ kompensiert wird. Dies kann etwa ein herausgehobenes soziales Engagement sein. In derartigen Fällen ist grundsätzlich eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 32 mit Verweis auf BT-Drs. 18/4097, S. 42). Allerdings führt auch die Gesamtschau vorliegend nicht dazu, dass der Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG hätte.
83
Für den Kläger spricht zwar insoweit, dass er seit dem Jahr 2001 bei demselben Arbeitgeber, zuletzt als Küchenchef, angestellt ist. Auch davor war er, mit Beginn am 5. August 1997, weitgehend sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Voraussetzung in Nr. 3 könnte damit als übererfüllt anzusehen sein. Jedoch vermöchte auch dies die fehlenden Erteilungsvoraussetzungen nicht aufzuwiegen. Dabei ist insbesondere zu sehen, dass der Kläger die Voraussetzung in Nr. 1 nicht nur nicht vollständig, sondern kaum erfüllt. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 26. Juli 2022 waren Voraufenthaltszeiten von rund einem Jahr und neun Monaten berücksichtigungsfähig, erforderlich wären jedoch acht Jahre. Die Voraussetzung in Nr. 2 erfüllt der Kläger insgesamt nicht. Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass er darüber hinaus besondere Integrationsleistungen, wie etwa ein herausgehobenes soziales Engagement, erbracht hat. Er verfügt über keinen Schulabschluss oder eine berufliche Ausbildung. Die Sprachkenntnisse gehen nicht über die Mindestanforderung in Nr. 4 hinaus, schriftlich hat der Kläger nach dem vorgelegten Zertifikat das Niveau A1 nicht erreicht.
84
1.5.3.5. Ohne dass es hierauf entscheidungserheblich darauf ankommt, wäre beim Kläger darüber hinaus auch deshalb eine nachhaltige Integration im Sinne des § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG zu verneinen, weil der größte Teil der Integrationsleistungen bis zur Offenlegung der wahren Identität des Klägers durch Mitteilung des Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom ... Januar 2016 unter Täuschung über die Identität und Staatsangehörigkeit erbracht wurden.
85
Nach der überzeugenden Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs erfordert die Prüfung der nachhaltigen Integration des Ausländers i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Prüfung aller Integrationsleistungen sowie aller Integrationsdefizite. Eine Gesamtschau ist also nicht nur im Falle fehlender Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG vorzunehmen. Selbst wenn alle Regelvoraussetzungen vorliegen, kann die Regelvermutung der nachhaltigen Integration wegen im Einzelfall festgestellter Integrationsdefizite widerlegt sein (BayVGH B.v. 15.10.2019 – 19 CS 18.164 – juris Rn. 10 ff.).
86
Mit Beschluss vom 15. Oktober 2019 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Eilverfahren nach summarischer Prüfung bei einem Ausländer eine nachhaltige Integration i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG trotz Vorliegens aller Regelvoraussetzungen verneint, da die Integrationsleistungen des Ausländers auf einem durch langjährige falsche Identitätsangaben erreichten Aufenthalt im Bundesgebiet beruhten (Az. 19 CS 18.164 – juris Rn. 10 ff.).
87
Nach anderen Auffassungen werden in der Vergangenheit spielende Täuschungshandlungen auf der Rechtsfolgenseite oder unter Umständen als Ausweisungsinteresse i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berücksichtigt. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage bislang nicht entschieden. In seinem Urteil vom 18. Dezember 2019 (Az. 1 C 34.18 – juris) hat das Bundesverwaltungsgericht in einer die Entscheidung nicht tragenden Erwägung zwar nur die beiden letztgenannten Auffassungen erwähnt, die Auffassung des BayVGH und weiterer Oberverwaltungsgerichte aber nicht eindeutig abgelehnt (auf Tatbestandsebene weiter berücksichtigend NdsOVG, B.v. 3.6.2021 – 8 ME 39/21 – juris Rn. 10 ff.).
88
Entsprechend der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wäre vorliegend eine nachhaltige Integration des Klägers auch deshalb zu verneinen, weil sämtliche Integrationsleistungen unter Täuschung erbracht wurden.
89
1.5.3.6. Zugunsten des Klägers geht das Gericht im Übrigen davon aus, dass ein Anspruch gemäß § 25b AufenthG nicht schon daran scheitert, dass der zwingende Versagungsgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vorliegt. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer die Aufenthaltsbeendigung durch vorsätzlich falsche Angaben, durch Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit oder Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert. Die Norm setzt ein aktuelles Fehlverhalten des Ausländers voraus. Dies folgt aus der im Wortlaut der Reglung verwendeten Präsensform („verhindert oder verzögert“) und entspricht dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 44 sowie BVerwG U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 56). Möglicherweise hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung unrichtige Angaben gemacht und damit ein aktuelles Fehlverhalten im Sinne der Vorschrift begangen; dies berücksichtigt das Gericht zu Gunsten des Klägers nicht. Ein solches aktuelles Fehlverhalten schließt aber jedenfalls nicht aus, in der Vergangenheit liegende Täuschungshandlungen an anderer Stelle zu berücksichtigen (siehe oben unter 1.5.3.5.). Aber auch hierauf kommt es nicht entscheidungserheblich an, weil der Anspruch des Klägers bereits aus anderen Gründen scheitert (s.o.).
90
1.5.3.7. Nachdem die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25b AufenthG nicht vorliegen, kann auch dahinstehen, ob der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wegen der Täuschungen ggf. ein Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegensteht und ob die Beklagte gemäß § 5 Abs. 3 S. 2 im Wege des Ermessens von der Anwendung der Vorschrift absieht.
91
1.5.4. Die Ermessensausübung verstößt auch nicht gegen Art. 8 EMRK (bzw. Art. 6 oder 14 GG). Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, in das nur eingegriffen werden darf, soweit dies in einer demokratischen Gesellschaft für die öffentliche Sicherheit notwendig ist (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Die hierfür wesentlichen Gesichtspunkte hat die Beklagte in ihre Gesamtbewertung eingestellt, insbesondere, dass im Bundesgebiet keine Familienangehörigen leben, der Kläger langjährig bei demselben Arbeitgeber beschäftigt ist und deutsche Sprachkenntnisse erworben hat. Der Aufbau einer neuen Existenz im Heimatland, in dem der Kläger mit seiner Muttersprache aufgewachsen sei, ist nach Auffassung der Beklagten zumutbar. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Ohne, dass es für die Entscheidung darauf ankommt, wird darauf verwiesen, dass nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts eine nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schützenswerte Verwurzelung eines Ausländers grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht kommt (BayVGH, B.v. 27.5.2021 – 19 ZB 20.1976 – juris Rn. 41 mit Verweis auf mehrere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts).
92
2. Da die Niederlassungserlaubnis durch Rücknahme erloschen ist (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), besteht auch kein Anspruch, diese auf die pakistanischen Personalien „neu“ auszustellen. Weiter bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen die Verpflichtung in Ziff. 4 des Bescheids, den am 10. Dezember 2010 ausgestellten Aufenthaltstitel in Form eines Etiketts unverzüglich nach Bestandskraft des Bescheids ungültig stempeln zu lassen, da damit das Erlöschen des Titels dokumentiert wird.
93
3. Der außerdem mit Schriftsatz vom … September 2021 hilfsweise erhobene Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG in Form einer Untätigkeitsklage und höchst hilfsweise auf Verbescheidung hat ebenfalls keinen Erfolg. Da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25b AufenthG nicht vorliegen (siehe oben unter Ziff. 1.5.3.) ist der hierauf gerichtete Hilfsantrag sowie der höchst hilfsweise erhobene Antrag auf Verbescheidung jedenfalls unbegründet. Es kann damit offen bleiben, ob die Klageerweiterung zulässig war.
94
III. Soweit die Klage übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, beruht die Kostenentscheidung auf der Kostenübernahmeerklärung des Klägers, § 161 Abs. 1, Abs. 2 VwGO. Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 1 VwGO.
95
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 704, 708 ff. ZPO.