AG Landshut, Beschluss v. 04.08.2022 – 2 F 476/21
Titel:

Teilentzug der elterlichen Sorge und Anordnung eines Ergänzungspflegers

Normenkette:
BGB § 1666, § 1666a, § 1909
Leitsatz:
Den sorgeberechtigten Eltern sind die aus der Entscheidung ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zur Abwendung der bestehenden Gefahr für das Kind S2 zu entziehen, §§ 1666, 1666a BGB. Ergänzungspflegschaft ist anzuordnen . Darüber hinaus sind die Eltern gemäß § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB zur Installierung einer Sozialpädagogischen Familienhilfe zu verpflichten. Weiterhin erklärt das Gericht in Ersetzung der entsprechenden Erklärungen durch die Eltern den Teilwiderruf der von den Eltern ausgestellten Vollmachten für § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Jugendamt, Anordnung, Ergänzungspflegers, Kindeswohl, Unterbringung, Therapie, elterliche Sorge, Aufenthaltsbestimmung
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 21.02.2023 – 16 UF 963/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44160

Tenor

1. Den sorgeberechtigten Eltern wird das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zu Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Zuführung zu medizinischen Behandlungen, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII und das Recht zur Regelung des Umgangs für das Kind ..., geboren am ... 2008, entzogen.
2. Soweit die Rechte den Eltern entzogen wurden, wird die Ergänzungspflegschaft angeordnet und die entzogenen Rechte übertragen auf das Stadtjugendamt  ...
3. Die sorgeberechtigten Eltern werden verpflichtet, unverzüglich beim Stadtjugendamt ... eine Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII in Anspruch zu nehmen und mit dieser offen zusammenzuarbeiten. Sie dürfen die Maßnahme nicht eigenmächtig beenden.
4. Die von der Kindsmutter N ... dem Beteiligten C. K. am 2 F 476/21 - Seite 2 - 16.06.2021 ausgestellte Vollmacht wird teilweise widerrufen, nämlich dahingehend, dass Herr C. K. ab sofort nicht mehr befugt ist, die Kindsmutter in sorgerechtlichen Angelegenheiten betreffend deren Kinder zu vertreten. Die Vollmacht bleibt nur noch in Bezug auf die Vertretung der Kindsmutter N. A. M. zur Klärung ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten aufrecht erhalten.
5. Die von dem Kindsvater A. B. S. dem Beteiligten C. K. am 30.08.2021 ausgestellte Vollmacht wird teilweise widerrufen, nämlich dahingehend, dass Herr C. K. ab sofort nicht mehr befugt ist, den Kindsvater in sorgerechtlichen Angelegenheiten betreffend dessen Kinder zu vertreten. Die Vollmacht bleibt nur noch in Bezug auf die Vertretung des Kindsvaters A. B. S. zur Klärung seiner wirt- schaftlichen Angelegenheiten aufrecht erhalten.
6. Die Kindseltern werden verpflichtet, alle mit ihren Kindern befassten Stellen (Schule, Kindergarten, Hort, Ärzte, Therapeuten etc.) unverzüglich von dem teilweisen Vollmachtswiderruf gemäß Ziffern 4 und 5 in Kenntnis zu setzen, und dies dem Stadtjugendamt ... innerhalb einer Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft dieser Entscheidung schriftlich nachzuweisen.
7. Dem sonstigen Beteiligten C. K. wird untersagt, in Angelegenheiten der elterlichen Sorge der Kindseltern N. A. M. und Ab. S. betreffend deren Kinder in irgendeiner Form mitzuwirken. Davon ausgenommen ist die Übermittlung von Informationen die Kinder betreffend an das Stadtjugendamt ...
8. Von der Erhebung der Gerichtskosten des Verfahrens wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.
9. Die Beteiligten werden darüber belehrt, dass bei schuldhafter Zuwiderhandlung gegen vor- stehende Verpflichtungen gegen den jeweils Verpflichteten Ordnungsgeld bis zu 25.000,-- € oder für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft bis zu 6 Monaten angeordnet werden kann. Verspricht die Anordnung von Ordnungsgeld keinen Erfolg, kann sofort Ordnungshaft angeordnet werden.
10. Der Verfahrenswert wird auf 4.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten .. und ... sind die verheirateten Eltern der sechs Betroffenen Kinder
- S. F., offizielles Geburtsdatum ... 2008, wahrscheinlich tatsächliches Geburtsdatum ... 2006,
- S. N., geboren am ... 2009,
- S. M., geboren am ... 2010,
- S. Y., geboren am ... 2014,
– S. R., geboren am ... 2016, und
– S. R., geboren am ... 2020.
2
Die Kinder leben mittlerweile wieder alle im Haushalt der Kindseltern.
3
Mit den Beteiligten waren in der Vergangenheit bereits folgende Verfahren beim Amtsgericht Landshut anhängig:
- wegen elterlicher Sorge, Prüfung Kindeswohlgefährdung: Mit Beschluss vom 26.03.2021 wurde von sorgerechtsbeschränkenden Maßnahmen abgesehen, nachdem sich die Kindsmutter im Termin vom 18.02.2021 verpflichtet hatte, künftig mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, eine Anbindung an das Haus International in die Wege zu leiten, sowie ein Kontaktverbot gegenüber dem Kindsvater zu erwirken, nachdem seinerzeit der dringende Verdacht körperlicher Übergriffe gegenüber der ältesten Tochter sowie des Versuchs der Kindesentführung bestand.
- wegen einstweiliger Anordnung nach §§ 1, 2 GewSchG: Mit Beschluss vom 12.02.2021 wurde der Kindsmutter die gemeinsame Wohnung zugewiesen sowie gegenüber dem Kindsvater ein Kontaktverbot ausgesprochen, nachdem glaubhaft gemacht worden war, dass der Kindsvater versucht hatte, vier der sechs Kinder ins Ausland zu verbringen, sowie die älteste Tochter F. mit dem Tode bedroht hatte und Drohungen körperlicher Gewalt gegenüber Kindsmutter und Kindern ausgesprochen hatte.
- wegen einstweiliger Anordnung elterliche Sorge, Prüfung Kindeswohlgefährdung: Mit Beschluss vom 04.06.2021 wurde den Kindseltern vorläufig die elterliche Sorge entzogen und das Stadtjugendamt ... als Vormund bestellt. Grund war der Wiedereinzug des Kindsvaters in die gemeinsame Wohnung, dies zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin, die er trotz bestehender Ehe mit der Kindsmutter nach islamischem Recht geheiratet hatte. Mit dem Wiedereinzug nahmen die starken Belastungen vor allem bei der ältesten Tochter wieder deutlich zu. Nach Anhörung der Beteiligten am 17.06.2021 und Anhörung der Kinder am 29.06.2021 wurde die Entscheidung mit Beschluss vom 20.07.2021 bestätigt. Mit Beschluss vom 20.10.2021 wurde die Entscheidung durch das Oberlandesgericht München aufgehoben, und die elterliche Sorge auf die Kindseltern rückübertragen.
- wegen einstweiliger Anordnung elterliche Sorge, Prüfung Kindeswohlgefährdung: Aufgrund Mitteilung des Jugendamts, wegen des Wirkens des privaten Helfers in der Familie S. erneut bzw. nach wie vor keinen Zugang zur Familie zu haben, sowie Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung bei der ältesten Tochter zu sehen, wurde erneut ein Verfahren wegen einstweiliger Anordnung elterliche Sorge eingeleitet. Im anberaumten Termin vom 12.05.2022 empfahl das Gericht den Kindseltern, die dem Beteiligten erteilte Generalvollmacht zu widerrufen, ihn aus Angelegenheiten der elterlichen Sorge herauszuhalten, die Erziehungsbeistandschaft für die älteste Tochter F. fortzuführen, eine Sozialpädagogische Familienhilfe zu installieren, sowie der Tochter F. eine Therapie zu ermöglichen. Nachdem die Kindseltern glaubhaft zugesichert hatten, all das in die Wege zu leiten, und im hiesigen Hauptsacheverfahren zwischenzeitlich das Sachverständigengutachten fertiggestellt war, wurde mit Beschluss vom 17.05.2022 von sorgerechtsbeschränkenden Maßnahmen im Wege der einstweiligen Anordnung abgesehen.
- wegen einstweiliger Anordnung freiheitsentziehender Unterbringung: Mit Beschluss vom 09.05.2022 wurde auf Antrag der Kindseltern die vorläufige Unterbringung der Tochter F. in einer geschlossenen Abteilung des BKH bis längstens 19.06.2022 genehmigt. Diagnostiziert war eine Anpassungsstörung. Die Unterbringung erfolgte aufgrund akuter Selbstgefährdung, nachdem die Tochter am 06.05.2022 einen Suizidversuch mit einer Überdosis Tabletten unternommen hatte.
4
Die Familie ist seit 2017 in Deutschland und war dort zunächst in verschiedenen Unterkünften untergebracht. Seit 2019 befindet sich die Familie in La.und lebt dort in einer großen Wohnung. Am 26.05.2021 wurden alle sechs Kinder durch das Jugendamt in Obhut genommen, nachdem u. a. der dringende Verdacht bestand, der Vater habe seine älteste Tochter körperlich misshandelt. Die älteste Tochter F. kam zum 04.06.2021 zunächst in eine Einrichtung in St., während die anderen fünf Kinder zu Bereitschaftspflegefamilien kamen. Das jüngste Kind R. befand sich ab 10.06.2021 in einer Dauerpflegefamilie, während die älteren fünf Kinder zum 01.07. bzw. 03.08.2021 in eine Einrichtung in Büchlberg wechselten. Nachdem die älteste Tochter F. ständig aus den Einrichtungen abgängig war, kam sie mit Einverständnis des Vormunds zum 11.08.2021 wieder zur Kindsmutter zurück, unter der Voraussetzung, dass ein Schutzkonzept eingehalten werde. Ebenso kam die zweitälteste Tochter N. mit Einverständnis des Vormunds zum 27.08.2021 wieder zur Kindsmutter zurück, weil nach Einschätzung des Vormunds durch ihr ständiges Entweichen aus der Einrichtung das Kindeswohl ebenfalls gefährdeter sei als zuhause. Spätestens nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts München im Verfahren kamen alle Kinder wieder zurück zu den zwischenzeitlich wieder zusammenlebenden Eltern. Gleichwohl musste die älteste Tochter F. am 07.02.2022 durch das Stadtjugendamt ... wieder in Obhut genommen werden, nachdem erneut der Verdacht körperlicher Gewalt des Kindsvaters gegenüber F. bestand. Nachdem F. immer wieder aus den beiden Einrichtungen, in denen sie in der Zeit war, abgängig war, kehrte sie zum 28.02.2022 wieder zu den Kindseltern zurück. Vormundschaft bestand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
5
Das Gericht hat den Kindern einen Verfahrensbeistand bestellt und die Kinder persönlich angehört. Desweiteren wurden die Kindseltern, die Vertreter des Jugendamts, der Verfahrensbeistand sowie der weitere Beteiligte Knödel persönlich angehört. Das Gericht hat zudem ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten erholt.
6
Im Übrigen wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
7
Den sorgeberechtigten Eltern sind die aus der Entscheidung ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zur Abwendung der bestehenden Gefahr für das Kind S2. F., geboren am ... 2008, zu entziehen, §§ 1666, 1666a BGB (Ziffer 1 des Tenors). Ergänzungspflegschaft ist anzuordnen (Ziffer 2). Darüber hinaus sind die Eltern gemäß § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB zur Installierung einer Sozialpädagogischen Familienhilfe zu verpflichten (Ziffer 3). Weiterhin erklärt das Gericht in Ersetzung der entsprechenden Erklärungen durch die Eltern den Teilwiderruf der von den Eltern ausgestellten Vollmachten für, § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB (Ziffern 4 und 5). Letzterem ist zudem gemäß § 1666 Abs. 4 BGB zu untersagen, künftig in irgendeiner Form in sorgerechtlichen Angelegenheiten mitzuwirken (Ziffer 7).
8
Zur Überzeugung des Gerichts ist das Wohl der Kinder derzeit gefährdet, und es besteht die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingreifen das Kindeswohl nachhaltig beeinträchtigt wird. Nach dem vorliegenden Sachverhalt besteht eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich ohne Maßnahmen des Familiengerichts bei einer weiteren aktuellen Entwicklung eine erhebliche Schädigung der Kinder mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die Eltern sind zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, die bestehende Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. Zur Abwendung der Gefahren sind die einzelnen sorgerechtsbeschränkenden Maßnahmen erforderlich, aber nach derzeitiger Einschätzung auch ausreichend.
9
Hinsichtlich F. ist unbedingt die Prüfung einer längerfristigen Unterbringung in einer geschlossenen Jugendhilfeeinrichtung erforderlich. F. hat schwere psychische Probleme, ritzt sich regelmäßig, ist antriebslos und hat bereits einen Suizidversuch unternommen. Die Eltern sind mit der Erziehung völlig überfordert. Sie erkennen zwar eigenen Angaben zufolge bereits seit längerem den Bedarf, haben aber bislang noch nicht die Kraft gefunden, die notwendige Therapie in die Wege zu leiten. Zudem sind die Kindseltern extrem sprunghaft in ihrem Verhalten. Werden ihnen ausführlich bestimmte Hilfsmaßnahmen erklärt, stimmen sie zunächst zu, um kurze Zeit später zu erklären, sie hätten nichts verstanden und würden nicht zustimmen. Bezeichnend für die mangelnde Stärke bei der Erziehung ist auch die Aussage des Kindsvaters im letzten Anhörungstermin, wonach er einer Unterbringung F.s in einer offenen Wohngruppe nicht zustimme, weil F. das nicht wolle. Unabhängig davon reicht aus Sicht des Gerichts eine offene Unterbringungsform nicht aus, da die Vergangenheit gezeigt hat, dass F. in offenen Einrichtungen regelmäßig abgängig ist. Bei F. ist erforderlich zu prüfen, ob eine längerfristige Unterbringung in einer geschlossenen Jugendhilfeeinrichtung erforderlich ist. Hierzu muss vorab ein Gutachten erstellt werden, für das F. voraussichtlich vorübergehend stationär im BKH untergebracht werden muss, da eine ambulante Begutachtung voraussichtlich nicht ausreichend sein wird. Die Eltern werden dies nicht in die Wege leiten, so dass die hierfür erforderlichen Teilbereiche zu entziehen und auf einen Ergänzungspfleger zu übertragen sind.
10
Das Wohl der übrigen Kinder ist nach Überzeugung des Gerichts aktuell ebenfalls gefährdet. Insoweit wird auf die Berichte aus den Einrichtungen, die die Kinder besuchen, Bezug genommen. Die Kindseltern haben erheblichen Hilfebedarf bei der Erziehung der Kinder. Die eindrucksvolle Schilderung der Verfahrensbeiständin über die bei ihrem letzten Besuch vorgefundenen Zustände bestätigt den Bedarf. Nachdem sich die Eltern bislang nicht durchringen konnten, die Hilfe einer Sozialpädagogischen Familienhilfe anzunehmen, sind sie nunmehr hierzu unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verpflichten. Damit einher gehen der Teilwiderruf der dem Beteiligten Knödel erteilten Vollmachten und die Verpflichtung desselben, sich künftig aus allen Angelegenheiten der elterlichen Sorge herauszuhalten. Nach Einschätzung des Gerichts konnten die Kindseltern die Hilfe einer Sozialpädagogischen Familienhilfe bislang nicht annehmen, weil sie mit dem Beteiligten Knödel bereits einen stark präsenten „Helfer“ hatten, so dass kein Bedarf für eine weitere Hilfe gesehen wurde. Die Kindseltern benötigen jedoch dringend die Hilfe einer professionellen Fachkraft. Zudem müssen sie lernen, in sorgerechtlichen Belangen selbständig zu werden. Diese Möglichkeit hatten sie bislang nicht, weil sich um all diese Belange der Beteiligte Knödel gekümmert hat. Dieser hat etwa im letzten Termin geschildert, welche Hortplätze, Nachmittagsbetreuung, Arzttermine etc. er für die Kinder organisiert habe. Dies ist jedoch Aufgabe der Eltern. Bezeichnend ist auch, dass das Jugendamt diesbezüglich keine Informationen hatte, weil es eben durch die Präsenz des Helfers keinen Zugang zur Familie erhielt. Vor diesem Hintergrund sind die angeordneten Maßnahmen erforderlich. Weniger einschneidende Maßnahmen sind nicht geeignet, die Gefahr für die Kinder abzuwenden.
11
Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten entspricht diese Entscheidung dem Wohl der Kinder am besten, § 1697 a BGB.
12
Die Anordnung der Ergänzungspflegschaft beruht auf § 1909 BGB.
13
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG.
14
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf § 45 FamGKG.