OLG Bamberg, Beschluss v. 02.11.2022 – 7 WF 174/22
Titel:

Voraussetzung für die Entlassung eines Vormunds

Normenkette:
BGB § 1791b, § 1886 (idF bis zum 1.1.2022)
Leitsätze:
1. Die Entlassung eines Vormunds ist nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nur das allerletzte Mittel.  (Rn. 16)
2. Zu prüfen ist, ob durch eine Entlassung die Interessen des Mündels mehr geschädigt werden als durch eine Beibehaltung des Vormunds. Dabei sind die einzelnen Gesichtspunkte konkret abzuwägen.  (Rn. 16 und 17)
3. Die Wertung des § 1791 b BGB ist in die Abwägung einzubeziehen.  (Rn. 19)
4. Wird die Entlassung aufgehoben, entfällt diese rückwirkend mit Bekanntgabe des Beschlusses. Eine erneute Bestellung des (entlassenen) Vormunds erübrigt sich.  (Rn. 22)
Schlagworte:
Vormund, Entlassung, Afghanistan, Leseschwäche, Gefährdung des Mündelinteresses
Vorinstanz:
AG Schweinfurt, Beschluss vom 24.08.2022 – 050 F 81/22
Fundstellen:
FamRZ 2023, 613
RPfleger 2023, 224
LSK 2022, 38979
NJOZ 2023, 231
BeckRS 2022, 38979

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Schweinfurt vom 24.08.2022 wird aufgehoben.
2. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.
3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die zunächst vom Familiengericht mit zwei Beschlüssen vom 13.06.2022, Az. 001 F 439/22, eingesetzte Vormundin (Tante der Kinder) gegen die mit dem angefochtenen Beschluss (in welchem beide Beschlüsse zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden waren) vorgenommene Bestellung des Jugendamts als Vormund.
2
Die Tante, welche nur Paschtu spricht, hat die Vormundschaft mit Schreiben vom 23.05.2022 angeregt. Die 10 und 12 Jahre alten Kinder haben ebenfalls geäußert, dass die Vormundschaft von der Tante übernommen werden solle. Dem ist das Amtsgericht in den zwei genannten Beschlüssen zunächst nachgekommen.
3
Der Rechtspfleger des Amtsgerichts hat von Amts wegen nach der Anhörung der Vormundin ein Abänderungsverfahren eingeleitet und die beiden Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Aus Sicht des Gerichts habe sich in einem Termin ergeben, dass die Tante ungeeignet sei. Im Termin vom 13.07.2022 hat der Rechtspfleger ausweislich der Akte festgestellt, dass ein zu verwaltendes Vermögen der Kinder nicht vorhanden ist. Zudem wurde festgestellt, dass „bei der Erläuterung der Haftpflichtversicherung“ der Dolmetscher erklärt habe, dass die Vormundin den Begriff „Versicherung“ nicht kenne. Weiter ist vermerkt, dass die Vormundin Analphabetin ist und laut Mitteilung des Dolmetschers mit Behördenangelegenheiten „völlig überfordert“ sei. Ebenso stellte der Rechtspfleger fest, dass „sie mit dem Taxi zum Gericht gefahren“ ist, da eine Überforderung vorliege, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Zudem ist vermerkt, dass fälschlicherweise die Dokumente der eigenen Kinder der Vormundin im Termin übergeben worden sind, statt der notwendigen Dokumente der Neffen.
4
Daraufhin hat der Rechtspfleger das Jugendamt zur beabsichtigten Aufhebung der Bestellung angehört. Eine Anhörung der Mündel oder der Vormundin zur beabsichtigten Aufhebung ist nicht erfolgt.
5
Mit Schreiben vom 01.08.2022 hat das Jugendamt Stellung genommen und mitgeteilt, dass das Jugendamt nicht zur Übernahme der Vormundschaft bereit sei, da die Tante ein geeigneter Einzelvormund sei. Die Tante der Kinder hätte zusammen mit ihren eigenen Kindern und den hier betroffenen Kindern Afghanistan verlassen und die Flucht gemeinsam gemeistert. Das Einverständnis der Eltern mit der Bestellung der Tante liege vor, diese hätten ausdrücklich gewünscht, dass sich die Tante kümmere. Bereits zuvor hätte die Tante in Afghanistan mit den Kindern in einem Haushalt (dort zusammen mit den Eltern) gelebt. Der vom Amtsgericht benannte Analphabetismus könne allein kein Grund sein. Die Tante hätte bislang die Angelegenheiten ihrer eigenen Kinder regeln können und habe auch alle Kinder sicher von Afghanistan nach Deutschland gebracht. Ein Unterschied zwischen den Angelegenheiten der eigenen Kinder und der Neffen bestehe insoweit erkennbar nicht. Das Jugendamt habe festgestellt, dass die Vormundin Unterlagen sortiert vorweisen könne und dem Jugendamt auch entscheidungserhebliche Unterlagen vorlegen konnte. Zum Ausgleich der Leseschwäche bestünde ein soziales Netzwerk. Defizite in der Kenntnis des deutschen Behördensystems könnten ausgeglichen werden.
6
Es wird weiter auf die Stellungnahme des Jugendamtes vom 09.06.2022 verwiesen, in welcher vermerkt ist, dass ein Termin am 07.06. ohne Schwierigkeiten mit der Vormundin durchgeführt werden konnte. Diese sei pünktlich erschienen. Unterlagen seien organisiert gewesen.
7
Mit Beschluss vom 24.08.2022 hat das Amtsgericht - Familiengericht - Schweinfurt, Az. 050 F 81/22, Frau A. gleichwohl als Vormundin aufgrund von § 1778 Abs. 1 Nr. 4 BGB entlassen und das Landratsamt Sch. bestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass diese untauglich sei und das Wohl der Mündel gefährden würde. Sie sei Analphabetin und mit Behördenangelegenheiten völlig überfordert. Die Anreise zum gerichtlichen Termin sei mit dem Taxi erfolgt, da öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzt werden könnten, da die Vormundin orientierungslos sei. Sie kenne den Begriff der Haftpflichtversicherung nicht und habe die Dokumente der eigenen Kinder statt der Mündel vorgelegt. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Entscheidung vom 24.08.2022 Bezug genommen.
8
Dieser Beschluss wurde der Vormundin am 26.08.2022 zugestellt. Diese legte mit Schreiben vom 15.09.2022 (datiert auf: 15.09.2021), eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, Beschwerde ein und wendet sich gegen die Aufhebung der Vormundschaft. Zwar seien deutsche Behördenangelegenheiten für sie neu, sie sei aber lernwillig und -fähig. Sie habe sich für einen Orientierungskurs bereits angemeldet. Das Taxi zum Termin habe sie genommen, da der Bus nicht pünktlich gewesen sei und sie den Termin rechtzeitig erreichen wollte. In Afghanistan kenne ein Großteil der Bevölkerung eine Haftpflichtversicherung nicht. Sie habe alle Dokumente der Kinder vorgelegt, da sie nach den Dokumenten der Kinder gefragt worden sei und für sie ihre eigenen Kinder und die Neffen gleich seien.
9
Sämtliche Beteiligten hatten rechtliches Gehör. Mit Verfügung vom 22.09.2022 wurde darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei den Beschluss des Amtsgerichts vom 24.08.2022 aufzuheben. Stellungnahmen hierzu sind nicht eingegangen.
II.
10
Die Beschwerde ist zulässig (§ 58 ff. FamFG). Insbesondere ist die Beschwerdeführerin beschwerdeberechtigt, da sie begehrt, die vom Familiengericht in dem angefochtenen Beschluss vom 24.08.2022 getroffene Entscheidung aufzuheben, die eingesetzte Vormundin abzusetzen und sie, die Beschwerdeführerin, wieder einzusetzen (vgl. auch Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 3. März 2014 - 7 UF 150/13 -, Rn. 5, juris).
11
Die Abänderung der gerichtlichen Entscheidung der beiden Beschlüsse des Amtsgerichts vom 13.06.2022 (dort jeweils Ziffer 2) richtet sich nach § 1886 BGB. Auf § 1778 Abs. 1 Nr. 4 BGB kommt es (entgegen der Entscheidung des Amtsgerichts) für die Abänderung der Bestellung erkennbar nicht an.
12
Nach § 1886 BGB kann eine angeordnete Vormundschaft aufgehoben werden, wenn eine Gefährdung des Mündelinteresses bei Fortführung der Vormundschaft festgestellt wird.
13
Zuständig für die Entlassung ist das Amtsgericht als Familiengericht (§ 23a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 23b Abs. 1 GVG, § 111 Nr. 2, § 151 Nr. 4 FamFG). Es entscheidet der Rechtspfleger (§ 3 Nr. 2 lit a RPflG, Schulte-Bunert in: Erman BGB, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 1886 Entlassung des Einzelvormunds, Rn. 8).
14
1. Anzuhören sind der Vormund (§ 34 FamFG), das Mündel (§ 159 FamFG), dessen Eltern (§ 160 FamFG), weitere Angehörige (§ 1847) sowie das Jugendamt (§ 162 FamFG, vgl. zum Ganzen Schulte-Bunert in: Erman BGB, Kommentar, § 1886 Entlassung des Einzelvormunds, Rn. 8).
15
Vorliegend wurde lediglich das Jugendamt angehört. Eine Anhörung der Vormundin oder der beiden Mündel zur Aufhebung der Vormundschaft ist unterblieben. Letztlich kommt es auf diesen Verfahrensverstoß aber nicht an, da der Beschluss insgesamt eine Entlassung nicht rechtfertigen kann (vgl. § 69 Abs. 1 S. 1 FamFG), so dass auch aus anderen Gründen die Entscheidung aufzuheben ist.
16
2. Die Entlassung ist nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nur das allerletzte Mittel (GrünebergGötz, 81. Auflage, 2022, § 1886 Rn. 1). Vorrang vor einer Entlassung hat jeder mildere Eingriff, der mit Rücksicht auf die Gefährdung genügend erscheint (BayObLG OLGRp. 2003, 361f; FamRZ 1983, 528, 530). In Betracht kommen vor einer Entlassung der Einsatz von Aufsichtsmitteln gemäß § 1837 BGB (OLG Düsseldorf FamRZ 2010, 669f.), die Androhung der Entlassung, der Entzug der Vertretung gemäß § 1796 BGB einzelner oder bestimmter Kreise von Angelegenheiten (BayObLG FamRZ 1959, 32f; Hamm FamRZ 1997, 1561f). Zu prüfen ist, ob durch eine Entlassung die Interessen des Mündels mehr geschädigt werden als durch eine Beibehaltung des Vormunds (zum Ganzen: Schulte-Bunert in: Erman BGB, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 1886 Entlassung des Einzelvormunds, Rn. 5).
17
Dabei sind die einzelnen Gesichtspunkte konkret abzuwägen. Eine Entlassung kommt in der Regel nur bei pflichtwidrigem Verhalten in Betracht (BayObLG München, 1968-09-18, BReg 1a Z 44/68, MDR 1969, 145; OLG Hamm, 1965-02-19, 15 W 3/65, RPfl 1966, 17; BayObLG, B. v. 14.06.1984 - BReg 3 Z 99/84 -, juris; Grüneberg-Götz, 81. Auflage 2022, § 1886 Rn. 2).
18
Ein solches ist aber erkennbar nicht einmal im Ansatz festgestellt. Es ist kein Punkt erkennbar, der konkret das Interesse der Kinder gefährdet und nicht durch Unterstützungsleistungen Dritter behoben werden könnte. Ein solcher wird vom Gericht in der angegriffenen Entscheidung auch nicht benannt.
19
Nicht in die Abwägung des Amtsgerichts einbezogen wurde auch die Wertung des § 1791 b BGB: Die ehrenamtliche Einzelvormundschaft (§ 1791 b BGB) hat Vorrang gegenüber der Amtsvormundschaft (Hans. OLG Hamburg, B. v. 3.03.2014 - 7 UF 150/13 -, Rn. 8, juris).
20
Weiter wurde die Vertrautheit der Kinder zur Tante, die gemeinsame Flucht aus Afghanistan und die Stellungnahme des Jugendamtes nicht in die erforderliche Abwägung einbezogen. Selbst wenn die Feststellung des Amtsgerichts der Feststellung des Jugendamtes nicht widersprechen würde, so würde diese Feststellung des Amtsgerichts erkennbar für ein pflichtwidriges Verhalten nicht ausreichen.
21
Keiner weiteren Erwähnung bedarf, dass die Unkenntnis der deutschen Behördenangelegenheiten und Schwierigkeiten bei der Erfassung von schriftlichen Texten unter diesen Maßstäben keinesfalls einen Grund für die Entlassung des Einzelvormundes darstellen, zumal das Jugendamt und die Vormundin erklärt haben, dass Schwierigkeiten nicht bestehen. Soweit diese noch ungeübt in Verfahrensweisen ist, kann dies durch eine Weiterbildung (wie von der Beschwerdeführerin mitgeteilt) behoben werden. Ihre Unfähigkeit zu Lesen oder zu Schreiben ist (wie sich auch an der Einlegung der Beschwerde zeigt) erkennbar kein Grund. Dieser Einschränkung kann, auch durch vorhandene Hilfen Dritter, begegnet werden. Insoweit wird auf die Stellungnahme des Jugendamtes Bezug genommen. Bislang hat sich auch in keiner tatsächlichen Gegebenheit eine Einschränkung gezeigt.
22
3. Die Entlassung ist aufzuheben. Diese entfällt rückwirkend mit Bekanntgabe des Beschlusses (§§ 69 Abs. 3, 40 Abs. 1 FamFG). Eine erneute Bestellung des (entlassenen) Vormunds erübrigt sich (BayObLG FamRZ 1988, 874f; 1990, 1273; KG FamRZ 1970, 672, 674; Schulte-Bunert in: Erman BGB, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 1886 Entlassung des Einzelvormunds, Rn. 8).
III.
23
Die Kostenentscheidung folgt § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG.
24
Die Wertfestsetzung beruht auf § 45 Abs. 3 FamGKG. Bei einem Verfahren nach § 151 Nr. 4 FamFG handelt es sich um eine in § 45 FamGKG nicht erwähnte Kindschaftssache. Es kommt demnach nur eine Bewertung entsprechend der Auffangvorschrift des § 42 FamGKG in Betracht. Für nichtvermögensrechtliche Angelegenheiten ist der Auffangwert unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Umfangs und der Bedeutung der Sache und der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Beteiligten nach billigem Ermessen zu bestimmen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 7. April 2016 - 11 WF 413/16 -, Rn. 9, juris). Da vorliegend bislang ein Verfahren von unterdurchschnittlicher Schwierigkeit vorliegt, war der Verfahrenswert entsprechend auf die Hälfte herabzusetzen.