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OLG München, Endurteil v. 09.03.2022 – 10 U 6476/21 e
Titel:

1/3 Mithaftung bei Verstoß gegen Rückschaupflicht

Normenketten:
StVO § 3 Abs. 3, § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 9 Abs. 1 S. 4
BGB § 249
Leitsätze:
1. Verletzt das abbiegende Fahrzeug (hier: Traktor) die Rückschaupflicht, begründet dies eine Mithaftung bei Kollision mit einem Überholer von 1/3. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar begründet ein grobes Verschulden der Gegenseite (hier: Überholen mit überhöhter Geschwindigkeit an unübersichtlicher Stelle) regelmäßig eine höhere Haftungsquote; auf Seiten des Traktors ist aber eine erhöhte Betriebsgefahr anzusetzen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für den Ausfall eines gewerblich genutzten Fahrzeugs (hier: Traktor) ist keine Nutzungsausfallentschädigung zu zahlen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Überholer, Traktor, Rückschaupflicht, Nutzungsausfall, gewerblich genutztes Fahrzeug
Vorinstanz:
LG München II, Endurteil vom 23.08.2021 – 1 O 4405/18
Fundstellen:
MDR 2022, 893
BeckRS 2022, 3891
LSK 2022, 3891

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten vom 08.09.2021 wird das Endurteil des LG München II vom 23.08.2021 (Az. 1 O 4405/18) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I. Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger samtverbindlich einen Betrag in Höhe von 3.270,85 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.07.2018 sowie weitere 236,70 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.07.2018 zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt der Kläger 59% und die Beklagten samtverbindlich 41%. Die Kosten der ehemaligen Beklagten zu 1), der A. A. GmbH& Co. KG, trägt der Kläger. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
4. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
6. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 3.179,18 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

A.
1
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B.
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Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache überwiegend Erfolg.
3
I. Das Landgericht ist rechtsfehlerhaft von der vollen Haftung der Beklagten ausgegangen und hat folglich zu Unrecht die Ansprüche des Klägers vollumfänglich zugesprochen. Angemessen und sachgerecht ist stattdessen eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten.
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1. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen.
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Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden.
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Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. BGH VersR 2005, 945; Senat, Urt. v. 9.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und v. 21.6.2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW - 2 - 2006, 152 [153]; Senat, a. a. O.); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O.; Senat, a. a. O.).
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Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Berufung nicht aufgezeigt worden. Unabhängig von der Frage, ob das Bestreiten der Beklagten bzgl. des bei dem Klägerfahrzeug gesetzten Blinkers unbeachtlich ist (vgl. S. 5 des Ersturteils), hat sich das Erstgericht rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass der Blinker gesetzt war (vgl. S. 5 f. des Ersturteils, vgl. Zeuge Sch, S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 24.10.2019, Bl. 81 d.A., sowie Zeuge F., S. 7 f. der Sitzungsniederschrift vom 24.10.2019, Bl. 85 f. d.A.). Das Erstgericht hat dabei zutreffend das Beweismaß des § 286 I 1 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet.
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2. Das Erstgericht hat jedoch die sachlich-rechtlichen Fragen unzutreffend beantwortet und rechtsfehlerhaft eine Mithaftung des Klägers aufgrund des Verstoßes gegen die doppelte Rückschaupflicht durch den Fahrer des Klägerfahrzeugs gemäß § 9 I 4 StVO außer Acht gelassen.
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a) Da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind und die Ersatzpflicht weder wegen Vorliegens höherer Gewalt nach § 7 II StVG ausgeschlossen ist, noch ein unabwendbares Ereignis für einen der beiden Fahrzeugführer nach § 17 III StVG vorliegt, hängt die Schadensersatzpflicht nach §§ 17 I, 18 III StVG im Verhältnis des Klägers zu dem Beklagten zu 1) von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Beteiligten haben dabei jeweils die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen sie die nach der Abwägung für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten wollen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.12.2017 - I-1 U 84/17 -, Rn. 16, juris mit Verweis auf BGH, Urteile vom 15. November 1960 - VI ZR 30/60 - VersR 1961, 249, 250; vom 8. Januar 1963 - VI ZR 35/62 - VersR 1963, 285, 286; vom 23. November 1965 a.a.O S. 165; vom 29. November 1977 - VI ZR 51/76 - VersR 1978, 183, 185).
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b) Demgemäß hat das Erstgericht zutreffend unter Berücksichtigung der nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. A., dessen hervorragende Sachkunde dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren und Gutachten bekannt ist, ausgeführt, dass sich der Beklagte zu 3) grob verkehrswidrig verhalten hat, als er den klägerischen Traktor bei unklarer Verkehrslage (§ 5 III Nr. 1 StVO) überholen wollte sowie, dass er innerorts die geltende Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mehr als 35 km/h überschritten und damit gegen § 3 III StVO verstoßen hat (vgl. S. 6 des Ersturteils).
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c) Ebenso zutreffend hat das Erstgericht gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. A. in Bezug auf den klägerischen Fahrzeugführer festgestellt, dass dieser gegen die ihm nach § 9 I S. 4 StVO obliegende Pflicht, vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, verstoßen hat (vgl. S. 6 f. des Ersturteils). Dieser Verstoß des klägerischen Fahrzeugführers war auch unfallkausal, da dieser bei Durchführung der zweiten Rückschau das Beklagtenfahrzeug hätte erkennen und den Unfall bei einem Verzicht auf das Abbiegemanöver hätte vermeiden können (vgl. S. 9 des schriftlichen Gutachtens vom 08.02.2021, Bl. 112 d.A.).
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d) Im Rahmen der Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge hat sich das Erstgericht jedoch rechtsfehlerhaft nicht mit dem Verkehrsverstoß des klägerischen Fahrzeugführers auseinandergesetzt und diesen demzufolge nicht in die Abwägung mit eingestellt. Angesichts des nachgewiesenen Verkehrsverstoßes des klägerischen Fahrzeugführers kommt es vorliegend auch nicht auf die vom Erstgericht diskutierte Frage an, ob die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeuges vollständig hinter dem erheblichen Verschulden des Beklagten zu 3) zurücktritt (vgl. S. 7 des Ersturteils). Angesichts der deutlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Beklagten zu 3) und dem somit erheblichen Verschuldens des Beklagten zu 3) erachtet auch der Senat vorliegend eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten als angemessen und sachgerecht.
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Der Einwand des Klägers, dass statt dieser Haftungsquote eine Haftungsquote von 1/5 zu 4/5 bzw. allenfalls ¼ zu ¾ jeweils zu Lasten der Beklagten sachgerecht und angemessen sei (vgl. Berufungserwiderungsschriftsatz des Klägers vom 14.12.2021, Bl. 15/16 d. OLG-A.), greift nicht durch. Zwar verweist der Kläger zutreffend auf das grob verkehrswidrige Verhalten des Beklagten zu 3), für den frühzeitig erkennbar gewesen ist, dass der klägerische Traktor nicht in der Mitte der (gedachten) rechten Fahrbahn gefahren war, sondern sich unter Verringerung seiner Geschwindigkeit auf 20 km/h zur Mitte hin eingeordnet hatte (vgl. S. 6 des Ersturteils, Bl. 166 d. LG-A.). Allerdings wird hierbei seitens des Klägers verkannt, dass der klägerische Traktor im Verhältnis zu dem Beklagtenfahrzeug, einem Pkw SEAT Ateca, eine erhöhte Betriebsgefahr hat. Allein diese erhöhte Betriebsgefahr würde im Grundsatz eine Haftung des Klägers in Höhe von 25% aus dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung begründen. Angesichts dessen ist der Verweis des Klägers auf das Urteil des OLG Bamberg vom 07.05.1985, Az. 5 U 224/84, juris nicht zielführend, da sich diese Entscheidung nicht mit dem Gesichtspunkt einer erhöhten Betriebsgefahr auseinandersetzt. Weiter ist vorliegend im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht allein nur aus dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung haftet. Denn der klägerische Fahrzeugführer hat schuldhaft gegen die ihm nach § 9 I S. 4 StVO obliegende Pflicht, vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, verstoßen und dieser Verstoß ist entsprechend den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. A. auch unfallkausal gewesen (vgl. oben unter c). Das bedeutet, dass der klägerische Fahrzeugführer den streitgegenständlichen Unfall hätte verhindern können, wenn er vor dem Beginn des Abbiegens die zweite Rückschau, zu der er verpflichtet gewesen ist, durchgeführt und seinen Abbiegevorgang angesichts des mit einer deutlichen Überschussgeschwindigkeit herannahenden Beklagtenfahrzeuges hinten angestellt hätte (vgl. S. 11 des schriftlichen Gutachtens vom 08.02.2021, Bl. 114 d.A.). Demgemäß erachtet der Senat eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten als angemessen und sachgerecht.
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e) Unter Zugrundelegung vorstehender Haftungsquote und unter Berücksichtigung der vorgerichtlichen Regulierungszahlung seitens der Beklagten in Höhe von 3.087,52 € steht dem Kläger noch ein Restbetrag in Höhe von 3.087,51 € zu.
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Der klägerische Gesamtschaden beläuft sich auf 9.262,55 € und berechnet sich dabei folgendermaßen:
6.205,15 € Reparaturkosten netto
1.461,60 € Wiederbeschaffungswert ./. Restwert
1.570,80 € Sachverständigenkosten
25,- € Unkostenpauschale
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Zutreffend rügt die Berufung in diesem Zusammenhang, dass der Kläger hinsichtlich dem gewerblich genutzten Klägerfahrzeug keine pauschalierte Nutzungsausfallentschädigung in Höhe von 275,- € (11 Tage x 25,- €) geltend machen kann. Maßgeblich ist insoweit der klägerische Sachvortrag zur fehlenden Nutzungsmöglichkeit des Klägerfahrzeuges für notwendige Arbeiten in Wald, u.a. dem Fällen und dem Abtransport von Borkenkäferbefall betroffenen Fichten (vgl. S. 6 des Klageschriftsatzes, Bl. 6 d.A.). Hieraus folgt jedoch, dass das Klägerfahrzeug allein für gewerbliche Tätigkeiten ausgefallen ist, so dass der Kläger seinen etwaigen Schaden aufgrund des Nutzungsausfalles grundsätzlich im Wege der Darstellung des entgangenen Gewinns gemäß § 252 S. 1 BGB hätte berechnen müssen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 24.08.1994 - 9 U 11/94 -, juris).
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Unter Zugrundelegung vorstehender Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten beläuft sich der Schadensersatzanspruch des Klägers gegenüber den Beklagten somit auf 6.175,03 €. Hierauf wurde beklagtenseits vorgerichtlich bereits 3.087,52 € bezahlt, so dass noch 3.087,51 € offenstehen. Da seitens der Berufung jedoch nur eine Abänderung des Ersturteils auf 3.270,85 € beantragt wurde (vgl. Berufungsantrag I. des Berufungsbegründungsschriftsatzes vom 22.09.2021, Bl. 4 d. OLG-A.) ist das Ersturteil auf die Berufung der Beklagten hin nur insoweit abzuändern, § 308 I ZPO.
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3. Der Berufungseinwand in Bezug auf die zuzusprechenden Zinsen ist demgegenüber überwiegend ohne Erfolg. Denn durch das Schreiben des Klägervertreters vom 29.06.2018 (Anlage K 4) wurden die Beklagten bereits ab dem 21.07.2018 in Verzug gesetzt, so dass dem Kläger hinsichtlich der berechtigten Klageforderung ab diesem Zeitpunkt und nicht erst ab Rechtshängigkeit Verzugszinsen zustehen.
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4. Auf die Berufung der Beklagten ist das Ersturteil auch hinsichtlich der tenorierten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten abzuändern. Diese belaufen sich ausgehend von dem anzusetzen Betrag in Höhe von 6.358,37 € unter Zugrundelegung einer 1,3 Geschäftsgebühr zzgl. Unkostenpauschale und Mehrwertsteuer auf 650,34 €. Da hierauf unstreitig vorgerichtlich bereits 413,64 € bezahlt wurden, verbleiben noch 236,70 €.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 92 I 1 Fall 2 ZPO.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
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IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
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V. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.