AG Nürnberg, Beschluss v. 07.12.2022 – 23 C 3359/22
Titel:
Vorlagefrage zur örtlichen Zuständigkeit eines Gerichts bei sog. „unechten Inlandsfällen“
Normenketten:
ZPO § 12, § 17, § 21 Abs. 1, § 29, § 281 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, § 513 Abs. 2
Brüssel Ia-VO Art. 17, Art. 18 Abs. 1, Art. 24, Art. 25
Brüssel I-VO Art. 15, Art. 16
AEUV Art. 267 Abs. 1, Abs. 3
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
Ist Art. 18 I der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Art. 18 I EuGVVO) dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Auslandliegt (sog. "unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann?
Ist Art. 18 Abs. 1 Brüssel Ia-VO dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter, ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Ausland liegt (sog. „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann? (Rn. 14 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Reisevertrag, Verbraucher, Reiseveranstalter, Reisebüro, Pauschalreise, Vermittlung, örtliche Zuständigkeit, unechter Inlandsfall, Auslandsbezug, VO (EU) Nr. 1215/2012
Fundstellen:
RRa 2023, 77
LSK 2022, 38151
BeckRS 2022, 38151
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft wird gemäß Artikel 19 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrages über die Europäische Union und Artikel 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union folgende Frage vorgelegt:
Ist Artikel 18 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Artikel 18 Absatz 1 EuGVVO) dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Ausland liegt (sog. „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann?
Gründe
1
I. Der Kläger verlangt von der Beklagten, einer Reiseveranstalterin mit Sitz in München, Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 1.499,86 €, aufgrund dessen, dass er nicht ausreichend über die Einreisebestimmungen und erforderliche Visa aufgeklärt worden sei.
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Der Kläger buchte bei der Beklagten über das Reisebüro V. N. am 15.12.2021 eine Pauschalreise, wobei das Reisebüro insoweit den Vertragsschluss zwischen dem Kläger als Reisenden und der Beklagten als Reiseveranstalterin vermittelte. Unstreitig ist das Reisebüro nicht selbst Vertragspartner und ist auch keine Niederlassung der Beklagten. Der Vertrag zwischen den Parteien hatte ein Gesamtpaket von Reiseleistungen zum Gegenstand.
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Der Kläger, der selbst zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in Nürnberg wohnte und auch weiterhin wohnt, hat die Klage vor dem Amtsgericht Nürnberg erhoben.
4
Der Kläger meint, dass das angerufene Amtsgericht örtlich zuständig sei, und verweist diesbezüglich auf Artikel 17, 18 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO). Es wurde lediglich hilfsweise ein Antrag auf Verweisung an das Amtsgericht München gestellt, an dem die Beklagte nach nationalen Recht ihren allgemeinen Gerichtsstand hat (§§ 12, 17 Absatz 1 Zivilprozessordnung).
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Die Beklagte rügt die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg und beantragt, die Klage abzuweisen. Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg folge nicht aus der EuGVVO (sog. Brüssel-IAVerordnung), da diese nicht auf reine Binnensachverhalte, wie den vorliegenden anwendbar sei, in dem der Reisende und der Reiseveranstalter im selben Land ansässig sind. Es läge kein hinreichender Auslandsbezug vor, da hierfür erforderlich sei, dass die Vertragspartner unterschiedlichen Mitgliedstaaten angehören, was sich aus der Terminologie des Artikel 16 EuGVVO ergebe. Zudem ergebe sich aus Artikel 18 Absatz 2 EuGVVO kein Wohnortgerichtsstand. Als Konsequenz ergebe sich hinsichtlich sämtlicher in Artikel 15 EuGVVO genannter Verträge, an denen ein Verbraucher beteiligt sei, nunmehr ein Gerichtsstand am Wohnsitz desselben. Die nationalen Bestimmungen gemäß §§ 12 fortfolgende Zivilprozessordnung wären mithin einem Großteil ihres Anwendungsbereiches beraubt und obsolet.
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II. Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebenden Bestimmungen des deutschen Rechts in der in dem vorgelegten Fall anwendbaren Fassung lauten:
Zivilprozessordnung (ZPO)
§ 12 Allgemeiner Gerichtsstand; Begriff
Das Gericht, bei dem eine Person ihren allgemeinen Gerichtsstand hat, ist für alle gegen sie zu erhebenden Klagen zuständig, sofern nicht für eine Klage ein ausschließlicher Gerichtsstand begründet ist.
§ 17 Allgemeiner Gerichtsstand juristischer Personen
(1) Der allgemeine Gerichtsstand der Gemeinden, der Korporationen sowie derjenigen Gesellschaften, Genossenschaften oder anderen Vereine und derjenigen Stiftungen, Anstalten und Vermögensmassen, die als solche verklagt werden können, wird durch ihren Sitz bestimmt. Als Sitz gilt, wenn sich nichts anderes ergibt, der Ort, wo die Verwaltung geführt wird.
§ 21 Besonderer Gerichtsstand der Niederlassung
§ 1 Hat jemand zum Betrieb einer Fabrik, einer Handlung oder eines anderen Gewerbes eine Niederlassung, von der aus unmittelbar Geschäfte geschlossen werden, so können gegen ihn alle Klagen, die auf den Geschäftsbetrieb der Niederlassung Bezug haben, bei dem Gericht des Ortes erhoben werden, wo die Niederlassung sich befindet.
(…)
§ 29 Besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsorts
(1) Für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen ist das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist.
(…)
§ 148 Aussetzung bei Vorgreiflichkeit
(1) Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
(…)
§ 281 Verweisung bei Unzuständigkeit
(2) Ist auf Grund der Vorschriften über die örtliche oder sachliche Zuständigkeit der Gerichte die Unzuständigkeit des Gerichts auszusprechen, so hat das angegangene Gericht, sofern das zuständige Gericht bestimmt werden kann, auf Antrag des Klägers durch Beschluss sich für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das zuständige Gericht zu verweisen. Sind mehrere Gerichte zuständig, so erfolgt die Verweisung an das vom Kläger gewählte Gericht.
(2) Anträge und Erklärungen zur Zuständigkeit des Gerichts können vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abgegeben werden. 2Der Beschluss ist unanfechtbar. Der Rechtsstreit wird bei dem im Beschluss bezeichneten Gericht mit Eingang der Akten anhängig. 4Der Beschluss ist für dieses Gericht bindend.
(…)
§ 513 Berufungsgründe
(…)
(2) Die Berufung kann nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
Artikel 101
(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
(…)
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III. 1. Das vorlegende Gericht hat die Rechtsfrage bereits vor der öffentlichen Sitzung sowie in der öffentlichen Sitzung vom 02.11.2022 mit den Parteivertretern erörtert.
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2. Ob das Amtsgericht Nürnberg eine Sachentscheidung über die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche des Klägers zu treffen hat, hängt entscheidend von der Frage ab, ob das Amtsgericht Nürnberg für den vorliegenden Rechtsstreit örtlich zuständig ist.
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3. Nach den nationalen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland ist eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg nicht gegeben.
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4. Nach den allgemeinen Gerichtsstandsregelungen der §§ 12, 17 ZPO ist auch dann, wenn der Kläger Verbraucher und die Beklagte ein Unternehmen in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) ist, das Gericht des Sitzes der Gesellschaft als beklagter Partei örtlich zuständig. Die Verwaltung der Beklagten und damit ihr Sitz befindet sich in München, so dass nach den §§ 12, 17 ZPO das Amtsgericht München örtlich zuständig wäre.
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5. Auch ein besonderer Gerichtsstand des Amtsgerichts Nürnberg, der mit den Regelungen über den allgemeinen Gerichtsstand konkurrieren würde, ist nicht gegeben. Aus § 21 Absatz 1 ZPO ergibt sich keine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg, da es sich bei dem Reisebüro V. Nürnberg unstreitig um keine Niederlassung der Beklagten handelt.
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6. Auch folgt die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg nicht aus § 29 ZPO, denn es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Verpflichtungen der Beklagten aus dem mit der Klägerin vertraglich vereinbarten Gesamtpaket der Reiseleistungen im Bezirk des Amtsgerichts Nürnberg zu erbringen gewesen wären. Zwar gibt es im Bezirk des Amtsgerichts Nürnberg einen Flughafen, jedoch buchte der Kläger die Reise mit Abflugort Frankfurt am Main, weshalb insoweit sich auch keine Zuständigkeit ergibt, auch wenn die geänderte Rechtsprechung (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 22. Juli 2021 - 102 AR 51/21 -, juris) zugrunde gelegt wird, wonach auch auf den Abflugort bezüglich der örtlichen Zuständigkeit im Rahmen von § 29 ZPO abzustellen ist, an dem die Leistungserbringung beginnt.
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7. Eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg würde sich einzig aufgrund einer Anwendung des Artikels 18 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) ergeben.
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8. Zu der Frage, ob die Regelung in Artikel 18 Absatz 1 EuGVVO dahin gehend auszulegen ist, dass sie in Fällen, in denen ein in einem Mitgliedsstaat ansässiger Verbraucher, der mit einem Reiseveranstalter mit Sitz in demselben Mitgliedsstaat einen Vertrag über eine Reise zu einem ausländischen Reiseziel abgeschlossen hat (sogenannte „unechte Inlandsfälle“), den Gerichtsstand des Wohnsitzes des Verbrauchers eröffnet, gibt es in der nationalen Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Auffassungen.
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9. Nach der wohl herrschenden Ansicht in der Rechtsprechung setzt die Anwendung der EuGVVO einen grenzüberschreitenden Bezug in dem Sinne voraus, dass Verbraucher und Vertragspartner in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ansässig sein müssen. Der für die Anwendbarkeit der EuGVVO erforderliche Auslandsbezug sei dagegen nicht gegeben, wenn der Sachverhalt einen anders gearteten Bezug zum Ausland aufweise, beispielsweise beide Parteien in demselben Mitgliedsstaat ansässig seien und ein Auslandsbezug nur aufgrund eines Reiseziels im Ausland gegeben sei. Dies begründet zum Beispiel das Landgericht Nürnberg-Fürth in seiner Entscheidung vom 30.04.2015, Aktenzeichen 3 O 2749/15, wie folgt: Zum einen ergebe sich aus den Erwägungsgründen der Verordnung, dass die Ausnahme vom Grundsatz der Zuständigkeit am Wohnsitz des Beklagten (Erwägungsgrund Nummer 15) bei Verbraucherverträgen nur deshalb bestehe, um den Verbraucher durch Zuständigkeitsvorschriften, die für ihn günstiger sind als die allgemeine Regelung, zu schützen (Erwägungsgrund Nummer 18). Daraus folge, dass ein solch besonderer Schutz nur nötig sei, wenn aufgrund des zwischengemeinschaftlichen Handels innerhalb der Europäischen Union beschwerliche Distanzen zwischen dem Wohnsitz des Verbrauchers und dem eigentlich zuständigen Gericht entstünden. Liege der Bezug zum Ausland aber nur im Reiseziel, bestehe daher auch keine Notwendigkeit der Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 Alternative 2 EuGVVO. Zum anderen sei zu berücksichtigen, dass die Vorschriften der EuGVVO restriktiv auszulegen seien und deswegen keine Anwendung geboten sei, wenn beide Parteien ihren Sitz im gleichen Mitgliedstaat haben und sich ein Auslandsbezug nur aus dem Reiseziel ergibt.
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10. Darüber hinaus argumentiert diese Ansicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2013, Aktenzeichen C-9/12; EuGH, Urteil vom 17.11.2011, Aktenzeichen C- 327/10), die ebenfalls für die hiesige Verordnung gelten müsse. Hierzu führt bereits das Landgericht Mainz in seiner Vorlagenfrage vom 10.06.2022 (Landgericht Mainz, Beschluss vom 10.06.2020, Aktenzeichen 3 O 105/18, RRa 2021, 58-62) aus, dass die genannte Ansicht sich hierbei auf den Erwägungsgrund Nr. 4 der Präambel beruft, wonach die Verordnung sich auf das zur Erreichung der Ziele der Verordnung notwendige Mindestmaß beschränken und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen wolle. Tragender Gedanke der EuGVVO sei aber die Regelung der internationalen Zuständigkeit, um sicherzustellen, dass Parteien eines Rechtsstreits ein sicherer Gerichtsstand zur Verfügung stehe und sie nicht gezwungen sind, in einem anderen Mitgliedsstaat bzw. in einem Drittstaat um Rechtsschutz nachzusuchen. Hieraus folge, dass die Verordnung grundsätzlich nicht in nationale Gerichtsstandsregelungen eingreifen wolle, sofern durch diese angemessener Rechtsschutz in demjenigen Staat, dem die Partei angehört, sichergestellt sei. Demgemäß stehe der Anwendung der Artikel 17, 18 EuGVVO in dem Fall, dass ein Verbraucher eines Mitgliedsstaates gegen einen Vertragspartner aus dem gleichen Mitgliedsstaat klage, der Umstand entgegen, dass beide Parteien einen Wohnsitz im Inland hätten und ein grenzüberschreitender Bezug nicht auf andere, erhebliche Weise begründbar sei.
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11. Zweck der Artikel 15, 16 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 sei der Schutz des jeweiligen Verbrauchers davor gewesen, sich einer ihm unbekannten Rechtsordnung mit einer für ihn gegebenenfalls unbekannten Sprache unterwerfen zu müssen, nicht jedoch die Regelung des deutschen Zivilverfahrensrechts bei reinen Binnenrechtsstreitigkeiten, denen jeder gemeinschaftsrechtliche Bezug fehlt, außer Kraft zu setzen. Auch die Neufassung des Artikel 18 Absatz 1 EuGVVO beabsichtige nicht die Regelung des deutschen Verfahrensrechts bei reinen Binnenrechtsstreitigkeiten. Der mit der Neufassung des Artikel 18 Absatz 1 EuGVVO eingefügte Zusatz, wonach die Klage eines Verbrauchers gegen den anderen Vertragspartner „ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des anderen Vertragspartners vor dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat. führe zu keiner abweichenden Bewertung. Der Zusatz lasse den erforderlichen Auslandsbezug der Rechtsstreitigkeit nicht entfallen, sondern sei dahingehend auszulegen, dass der Zusatz einzig in denjenigen Rechtsstreitigkeiten relevant werde, in denen der Beklagte keinen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat habe, das heißt in einem Drittstaat ansässig sei. Der Zusatz intendiere nicht die Schaffung eines neuen Gerichtsstands für Verbraucherstreitigkeiten, sondern lediglich eines speziellen Gerichtsstands für diejenigen Sachverhalte, in denen der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Drittstaat habe. Andernfalls hätte dies die Folge, dass hinsichtlich sämtlicher in Artikel 17 EuGVVO genannter Verträge, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, nunmehr ein Gerichtsstand am Wohnsitz desselben begründet wäre. Die Regelungen des deutschen Zivilverfahrensrechts über die Bestimmung des Gerichtsstands gemäß den §§ 12 fortfolgende ZPO wären mithin eines Großteils ihres Anwendungsbereiches beraubt.
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xx12. Es läge kein ausreichender Auslandsbezug vor, da zumindest ein normativer Auslandsbezug, nicht erkennbar sei. Grundlage sei das Reisevertragsverhältnis, welches zwischen zwei im Inland ansässigen Rechtssubjekten begründet werde. Eine mögliche Störung des übernommenen Pflichtenkreises, auch im Ausland, stelle nur einen tatsächlichen Auslandsbezug her, der lediglich in das bereits bestehende, originär inländische Rechtsverhältnis hineinwirke und somit nur eine bloße Folge der vertraglichen Vereinbarung darstelle.
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13. Demgegenüber will eine gewichtige Stimme in der Literatur (Staudinger: Anwendbarkeit des Verbraucherschutzgerichtsstandes der Brüssel I-VO bei Pauschalreisen im “unechten Inlandsfall”- zugleich Anmerkung zum Vorlagebeschluss des Landgericht Feldkirch vom 20. 9.2012 3 R 233/12f, RRa 2013, 2-6; Staudinger/Busse: Die Entwicklung des Reiserechts im ersten Halbjahr 2022, Neue Juristische Wochenschrift 2022, 2807) für einen grenzüberschreitenden Bezug nicht ohne Weiteres fordern, dass Kläger und Beklagter in zwei verschiedenen Mitgliedsstaaten ansässig sein müssten. In Reisestreitigkeiten sei der notwendige Auslandsbezug auch dann gegeben, wenn Verbraucher und Reiseveranstalter ihren Wohnsitz/Sitz im Inland haben, die Reise aber ins Ausland erfolgen soll (Musielak/Voit/Stadler, 19. Auflage 2022, EuGVVO Artikel 17 Randnummer 10). Dies sei dem Wortlaut des Artikels 18 Absatz 1 EuGVVO weder in der deutschen noch der englischen oder französischen Sprachfassung zu entnehmen. Stattdessen habe der europäische Gesetzgeber bei der Neufassung des Artikels 18 EuGVVO im Gegensatz zu Artikel 16 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 aber klargestellt, dass der Verbraucher den Prozess an seinem Wohnsitzforum führen könne, unabhängig von dem Ort des Sitzes des Unternehmers.
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14. Zudem nahm die Europäische Kommission in der Rechtssache C- 317/20 zu dieser Rechtsfrage bezüglich eines weiteren Sachverhalts bereits am 08. Dezember 2020 Stellung. Unter Bezugnahme auf Artikel 24 EuGVVO sowie Artikel 25 EuGVVO ergebe sich, dass für die Anwendung der Verordnung nicht allein auf die Ansässigkeit der Personen bzw. auf den Binnenmarkt abzustellen sei. Es könne nicht zwischen einem tatsächlichen und normativen Auslandsbezug unterschieden werden. Ein Auslandsbezug könne sich aus den Gegebenheiten des Einzelfalles ergeben, wie zum Beispiel dem Reiseziel und Erfüllungsort der vertraglichen Verpflichtung (Stellungnahme der europäischen Kommission vom 08.12.2020, sj.g(2020)7619200, abgerufen unter Staudinger, jurisPR-IWR 4/2021 Anmerkung 1).
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IV. 1. Zur Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an den Europäischen Gerichtshof sind letztinstanzliche Gerichte verpflichtet, wenn sich eine entscheidungserhebliche Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht stellt (Artikel 267 Absatz 3 AEUV). Um ein vorlagepflichtiges letztinstanzliches Gericht handelt es sich dann, wenn gegen seine Entscheidung in der konkreten Sache kein Rechtsmittel gegeben ist (herrschende Meinung, vgl. Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 148 ZPO, Randnummer 3b).
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2. Für die Entscheidung über seine örtliche Zuständigkeit bzw. Unzuständigkeit ist das Amtsgericht Nürnberg letztinstanzlich zuständig.
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3. Vor der Prüfung des Klageanspruchs dem Grunde und der Höhe nach hat das angerufene Amtsgericht seine eigene Zuständigkeit in funktioneller, sachlicher, örtlicher und internationaler Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen (Schultzky in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 1 ZPO, Randnummer 12).
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4. Sollte das vorlegende Amtsgericht Nürnberg sich als örtlich zuständig ansehen und der Kläger nach Prüfung ihrer Ansprüche dem Grunde und der Höhe nach Schadensersatz für aufgrund der behaupteten fehlenden Information über die Einreisebestimmungen zusprechen, wäre diese Entscheidung hinsichtlich der Feststellung der örtlichen Zuständigkeit durch das Berufungsgericht gemäß § 513 Absatz 2 ZPO nicht überprüfbar mit der Folge, dass bei einer ggf. nicht mit Unionsrecht übereinstimmenden Auslegung des Artikel 18 Absatz 1 EuGVVO als Regelung über die örtliche Zuständigkeit unter Verstoß gegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG dem Kläger seinen gesetzlichen Richter unwiderruflich entzogen worden wäre.
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5. In dem Fall, dass das Amtsgericht Nürnberg sich als örtlich unzuständig ansehen würde, hätte das Amtsgericht Nürnberg auf den für diesen Fall hilfsweise gestellten Verweisungsantrag der Klägerin den Rechtsstreit gemäß § 281 Absatz 1 ZPO durch Beschluss an das Amtsgericht München zu verweisen. Dieser Beschluss wäre unanfechtbar; das Amtsgericht München wäre gemäß § 281 Absatz 2 Satz 2 ZPO an die Entscheidung des Amtsgerichts Nürnberg über seine örtliche Zuständigkeit gebunden.
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6. Die richtige Auslegung des Unionsrechts ist auch nicht derart offenkundig, dass es keinen Raum für vernünftige Zweifel gäbe („acte clair“ im Sinne der CILFIT-Rechtsprechung des Gerichtshofs, Urteil des EuGH vom 06.10.1982, Aktenzeichen C-283/81).
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7. Die Vorlagefrage ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bisher auch noch nicht beantwortet worden. Die zuletzt bekannten, vorgelegten EuGH-Vorlagen des Landgerichts Mainz vom 10.06.2020, Aktenzeichen 3 O 105/18, nachgehend EuGH vom 16.07.2020, Aktenzeichen C-317/20 sowie des Amtsgerichts Frankfurt vom 21.01.2022, Aktenzeichen 30 C 208/21 (47), nachgehend EuGH vom 16. Juni 2022, C-62/22 wurden durch Streichung erledigt. Die durch einen Teil der nationalen Rechtsprechung zitierte Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14.11.2013, Aktenzeichen C- 478/12, bezieht sich auf den nicht gänzlich mit dem Artikel 18 EuGVVO wortlautgleichen Artikel 16 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000. Zudem kann diese Entscheidung bereits deshalb nicht zur Klärung der Vorlagefrage herangezogen werden, weil sich der Auslandsbezug in dem dort zu entscheidenden Fall daraus ergeben hat, dass der Reisevermittler seinen Sitz in einem anderen Mitgliedsstaat als dem des Verbrauchers und des Reiseveranstalters hatte, was in diesem Fall bereits abweichend ist.
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8. Daher ist das Amtsgericht Nürnberg verpflichtet, die im Beschlusstenor genannte Frage gemäß Artikel 267 Absatz 1 lit. a) und Absatz 3 AEUV von Amts wegen dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen und die vorgelegte Rechtsstreitigkeit bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Gerichtshof auszusetzen.