FG Nürnberg, Urteil v. 14.07.2022 – 6 K 174/20
Titel:

Erledigung der Hauptsache in Steuersache

Normenketten:
StPO § 153 Abs. 2
AO § 218, § 227
FGO § 40 Abs. 1, § 68, § 135 Abs. 1, § 143 Abs. 1
BayKiStG Art. 18 Abs. 1
Leitsatz:
Erledigung der Hauptsache i.S.d. § 138 FGO ist materiell gegeben, wenn nach Rechtshängigkeit durch ein außergerichtliches Ereignis unmittelbar das gesamte im Klageantrag zum Ausdruck kommende Begehren objektiv gegenstandlos geworden ist. (BFH in ständiger Rechtsprechung z.B. Urteil v. 16.12.2008, I R 29/08). Wird jedoch ein anderer Verwaltungsakt über den Prozessstoff erlassen, dann wird dieser nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Verfahrens. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Erlass
Fundstellen:
StEd 2023, 23
EFG 2023, 233
BeckRS 2022, 33754
LSK 2022, 33754

Tenor

1. Der Bescheid vom 11.06.2019, Az. ... über die Anträge auf Erlass der Steuerrückstände 1996 - 2001 und 2005 - 2008 und hilfsweise Stundung der genannten Steuerrückstände und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Das Urteil ist wegen der zu erstattenden Aufwendungen des Klägers vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Aufwendungen des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Antrages auf Erlass und hilfsweise auf Stundung von Kirchensteuer für die Veranlagungszeiträume (Vz) 1996 - 2001 und 2005 - 2008.
2
Der als Rechtsanwalt selbständig tätige Kläger war in den Streitjahren Mitglied der römisch-katholischen Kirche.
3
Für die streitigen Vz erließen die Einkommensteuerfinanzämter insbesondere aufgrund einer Betriebs- und Fahndungsprüfung Steuerbescheide mit Abschlusszahlungen in hoher sechsstelliger Summe. Auf dieser Grundlage veranlagte das damals zuständige Kirchensteueramt 1 Kircheneinkommensteuern. Über die Rückstände erging auf Antrag des Klägers ein Abrechnungsbescheid des Kirchensteueramtes 1 vom 05.10.2017 nach § 218 AO, der die zum damaligen Zeitpunkt für die streitigen Vz rückständigen Kircheneinkommensteuern auf 20.542,70 € bezifferte, die sich bis zum Jahr 2018 auf 15.074,30 € entwickelten. Durch Umzug des Klägers wurde der Beklagte vorübergehend örtlich zuständig. Im Zuge der geänderten Veranlagung für den Vz 2005 beantragte der Kläger mit Schreiben vom 26.02.2019 die Aussetzung der Vollziehung des Jahressteuerbescheides 2005. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28.02.2019 ab. Der Kläger legte dagegen am 07.03.2019 Einspruch ein und stellte zudem einen Erlassantrag für „jedwede verbleibende Kirchensteuern“, hilfsweise begehrte er die Stundung. Zur Begründung verwies er auf Amtshaftungsansprüche gegen die Finanzbehörden und eine deutliche Reduzierung der Einkommensteuer für die Jahre 1996 - 2002 von 78%. Zudem habe er seit dem Jahr 2010 keine Kirchensteuerbescheide mehr erhalten. Dies betreffe auch die in die Rückstände aufgenommenen Vz. Ferner wandte er Verjährung ein.
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Der Beklagte sah in der Formulierung des Klägers auf „Erlass jedweder Kirchensteuer“ einen alle offene Beträge umfassenden und nicht auf den Vz 2005 beschränkten Antrag. Mit Bescheid vom 11.06.2019 lehnte der Beklagte den Erlass und die hilfsweise beantragte Stundung ab. Es sei weder ein sachlicher Grund noch ein persönlicher gegeben. Die Kircheneinkommensteuer sei aufgrund von Veranlagungen der Finanzämter festgesetzt und jeweils mit Änderungsbescheiden angepasst worden. Argumente gegen die Festsetzungen seien dort zu berücksichtigen und nicht im Erlassverfahren. Eine persönliche Billigkeitsmaßnahme sei auch nicht angezeigt, da die Pfändungen und Arreste in das Vermögen des Klägers in erster Linie durch die Einkommensteuer und nicht die Kirchensteuer erfolgt wären. Ein Erlass sei aber nur bei Verursachung alleine durch die zum Erlass beantragte Steuer zu erwägen. Zudem würde dem Kläger die Pfändungsfreigrenze zugebilligt. Auch eine Stundung könne nicht ausgesprochen werden, da durch die anderen Schulden die Kircheneinkommensteuer gefährdet sei.
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Per Telefax legte der rechtliche Vertreter des Klägers am 13.06.2019 Einspruch gegen die Ablehnungen ein, den der Kläger am 10.09.2019 begründete. Erlass bzw. Stundung seien zu gewähren, wenn durch zu erwartende Verrechnungsmöglichkeiten z.B. Erstattungen aus anderen Zeiträumen, durch einen voraussichtlich erfolgreichen Rechtsbehelf oder andere Gegenansprüche die Zahlung als Unmöglichkeit oder erhebliche Härte erschiene. Im Übrigen wiederholte er das Vorbringen der Antragsbegründung.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung hätten die Kirchensteuerrückstände für die Vz insgesamt 14.092,30 € erreicht und würden sich folgendermaßen zusammensetzen:
„Veranlagungsjahr Steuerbescheid Fällig seit Betrag
1996 11.02.2010 15.03.2010 1.847,50 EUR
1997 11.02.2010 15.03.2010 3.535,24 EUR
1998 21.09.2017 25.10.2017 4.246,38 EUR
1999 21.09.2017 25.10.2017 2.409,78 EUR
2000 21.09.2017 25.10.2017 244,07 EUR
2001 21.09.2017 25.10.2017 11,49 EUR
2005 23.05.2019 30.12.2015 326,40 EUR
2006 04.12.2014 07.01.2015 232,32 EUR
2007 04.12.2014 07.01.2015 888,16 EUR
2008 09.03.2011 12.04.2011 350,96 EUR
Gesamt: 14.092,30 EUR“
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Zahlungsverjährung sei nicht eingetreten. Der Erlass stehe im Ermessen der Behörde und vorliegend sei kein Fall der Ermessensreduzierung auf Null gegeben. Unter Abwägung aller Gründe könne weder ein Erlass noch eine Stundung ausgesprochen werden. Durch die für die Vz 1996-2005 festgesetzte Einkommensteuer als Grundlagensteuer für die Kirchensteuer und die erfolgten Anpassungen sei der Sinn und Zweck des Steuergesetzes der Kirchensteuer voll erfüllt. Die Kirchensteuerbescheide würden durch das Amtshaftungsverfahren nicht tangiert. Amtspflichtverletzungen anderer Behörden seien gegen diese geltend zu machen und würden keinen Erlassgrund darstellen. Auch persönliche Billigkeitsgründe lägen nicht vor. Auch wenn der Kläger aufgrund der Pfändungen und dinglichen Arreste nicht zahlungsfähig sei, habe er doch Vermögenssubstanz. Ein Erlass würde anderen Gläubigern, aber nicht dem Antragsteller und seiner Familie zugutekommen. Auch eine Stundung sei nicht zu gewähren, da aus der Kirchensteuer selbst keine größeren Erstattungen zu erwarten seien, die Amtshaftungsprozesse schon längere Jahre liefen und kein Ende erkenntlich sei. Zudem würden sie nicht im Verhältnis Kläger-Beklagter entstehen. Ferner sei bei einer Stundung ohne Sicherheit der Steueranspruch gefährdet, eine Sicherheit könne der Kläger nicht anbieten.
II.
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Der Kläger hat am 11.02.2020 Klage erhoben.
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Der Beklagte hat am 09.04.2020 mit Wirkung ab Fälligkeit - unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs - die Stundung der Beträge aus den Vz 1996-2001 und 2005-2008 über 14.092,30 € bis zur finanzgerichtlichen Entscheidung über die entsprechenden Grundlagenbescheide 1996 - 2001 und 2005 - 2008, längstens bis 15.10.2020 gewährt.
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Zur Begründung der Klage hat der Kläger unter teilweiser Wiederholung des Antrags- und Einspruchsvorbringens ausgeführt:
11
1. Die Ansprüche seien festsetzungs- und zahlungsverjährt, da insbesondere die streitgegenständlichen Steuerbescheide dem Kläger nicht bekannt gegeben worden seien. Die Argumentation bezüglich Zahlungsverjährung hat der Klägervertreter im Laufe des Verfahrens nicht mehr aufrecht gehalten. Der Kläger habe von 2010 bis 2020 keinen einzigen Steuerbescheid erhalten und den Beklagten treffe für den Zugang die Beweislast. Hilfsweise seien die Ansprüche jedenfalls durch Aufrechnung erloschen. Auch habe der Beklagte in der Einspruchsentscheidung unterstellt, die Festsetzung sei unstreitig erfolgt, obwohl die gesamten Bescheide der Jahre 1996 - 2005 noch im Rechtsmittelverfahren beim Kirchensteueramt 1 befindlich seien. Damit seien die Ermessenentscheidungen des Beklagten von falschen Voraussetzungen ausgegangen und die Entscheidung aufzuheben. Bei einer vollständigen Sachverhaltsermittlung wäre dem Beklagten aufgefallen, dass nur noch 8.248,24 € ausstünden, die noch dazu im Rechtsbehelfsverfahren zu überprüfen seien.
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2. Zudem sei beim FG 1 unter Az.: .../... eine Klage gegen den Abrechnungsbescheid des Kirchensteueramtes 1 vom 05.10.2017 anhängig. Dieser Abrechnungsbescheid sei Basis für die Maßnahmen des Beklagten und Hintergrund für die in der Einspruchsentscheidung bezifferte Summe. In diesem Abrechnungsbescheid des Kirchensteueramtes 1 sei die tatsächliche Verständigung vom 25.07.2016 zur Einkommensteuernummer …/…/… und die daraufhin erfolgte Korrektur der Einkommensteuerbescheide 1996 - 2005 zur St.Nr. …/…/… nicht berücksichtigt. Auch sei zeitlich während des vorliegenden Klageverfahrens eine erneute Verständigung mit dem Finanzamt 1 für die Vz 1996-2002 erreicht worden, die erneut den Einkommensteueranspruch um ca. 192.000 € vermindert habe, so dass der Kläger deshalb der Auffassung sei, dass er im Ergebnis keine Kirchensteuer mehr schulden werde, wenn das in 1 verklagte Kirchensteueramt eine korrekte Veranlagung unabhängig vom Gesichtspunkt der Verjährung in seinem Abrechnungsbescheid durchführen würde. Die Entscheidung des FG 1 in diesem Verfahren gegen den Abrechnungsbescheid habe ergeben, dass bis auf einen Restbetrag von 8.248,24 € die Forderung verjährt sei, was auch durch einen neuen Abrechnungsbescheid des Kirchensteueramtes 1 am 10.12.2020, also nach Ergehen des Gerichtsbescheides des FG 1 bestätigt sei. Nach Durchsicht der Kirchensteuerakte korrigierte der Kläger seine Zahlen. Der neue Abrechnungsbescheid unter dem angegebenen Datum belaufe sich auf 12.294,54 €. Folglich sei die Ermessensentscheidung, die auf Grundlage von 14.092,30 € und damit auf falschem Sachverhalt erging, rechtswidrig. Dies folge aus dem BFH Beschluss vom 02.08.2012, V B 68/11.
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Darüber hinaus habe das FG 1 nicht nur die Rechtswidrigkeit, sondern sogar die Nichtigkeit der Steuerfestsetzungen in Höhe von 5.488,07 € festgestellt. Diese Nichtigkeit sei von Anfang an seit der Berücksichtigung der Bescheide im Verfahren ab 2010 bis 2014 erkennbar gewesen, nicht erst mit dem Gerichtsbescheid des FG 1 und hätte im Erlassverfahren des Jahres 2020 gewürdigt und zu einer anderen Entscheidung führen müssen. Nichtige Steuerbescheide dürften nach seiner, des Klägers, Interpretation der Rechtsprechung des BFH Urt. v. 21.11.2006 VII R 68/05, BFH NV 2006, 2030, nicht in einen rechtmäßigen Steuerbescheid einbezogen werden und führten zur Aufhebung des deshalb rechtswidrig ergangenen Abrechnungsbescheides. Nichtige Forderungen dürften aber nach dieser Rechtsprechung auch nicht zur Grundlage der Ermessensentscheidung einer Erlassentscheidung herangezogen werden.
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3. Insgesamt habe der Beklagte bislang von seinem Ermessen überhaupt keinen Gebrauch gemacht, weil der zugrundeliegende Sachverhalt weder tatsächlich erkannt noch rechtlich überhaupt gewürdigt worden sei. Der Beklagte habe durch die Bezugnahme auf die in der Höhe falsche Summe des später vom FG 1 aufgehobenen Abrechnungsbescheides des Kirchsteueramtes 1 einen unvollständigen Sachverhalt angenommen und damit das Ermessen falsch ausgeübt (BFH Urteil v. 13.11.2003, VI B 329/00, BFH/NV 2004, 361).
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Zudem hat der Kläger unter Wiederholung des Einspruchsvorbringens auf die persönliche Erlasswürdigkeit verwiesen. Der Kläger sei unterhaltspflichtig für seine Familie, er sei verheiratet und habe drei minderjährige, unterhaltsberechtigte Kinder, A geb. xx.01.2006, B, geb. XX.03.2010 und C, geb. xx.03.2012. Wirtschaftlich könne der Kläger nicht leisten, weil die Finanzverwaltung nach einer abgebrochenen Betriebsprüfung und Steuerfahndung die Steuern in erheblicher Höhe festgesetzt habe, daraufhin die Kanzlei des Klägers gesamt gepfändet, eingeschafft und dem Kläger damit die Existenzgrundlage entzogen habe. Dem Kläger verbleibe bis heute nur ein Pfändungsfreibetrag von 1.200,00 € pro Monat, wovon er keine Schulden tilgen könne. Das Strafverfahren sei nach § 153 Abs. 2 StPO wegen Unschuld des Klägers eingestellt worden. 
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5. Zu stunden sei, weil für die Einkommensteuer 1996-2002 dem Kläger seit 2014 AdV gewährt sei und die Fragen der Einkommensteuern dieser Jahre weiterhin beim FG 1 anhängig seien.
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6. Zudem bestehe für die Kirchensteuern eine dingliche Sicherheit von über 38.000 € mit einer Sicherungshypothek auf dem Grundstück des Klägers in 2, weshalb die Annahme im angegriffenen Bescheid, es sei keine Sicherheit möglich, irrig sei. Diese Sicherheit sei inzwischen vom Kirchensteueramt 3 mit Schreiben vom 28.01.2021 vollständig frei gegeben worden.
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7. Auch die zum einen nur teilweise bedingt und zum anderen nur befristet erklärte Stundung vom 09.04.2020 für die Jahre 1996 - 2001 führe nur hilfsweise zu einer Erledigung der Angelegenheit. Die Stundung sei nach Fristablauf im Oktober 2020 nicht verlängert worden. Die nur bedingt und befristet gewährte Stundung erledige diesen Rechtsstreit nicht.
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8. Der Antrag auf Erlass sei auch gestellt, weil die Kirchensteuerämter über die Rechtsmittel gegen die Veranlagungen seit Vz 1996 trotz Untätigkeitswidersprüchen pflichtwidrig nicht entscheiden hätten. Das hätte 2017 fast zu einer abschließenden vergleichsweisen Regelung geführt, die aber dann wegen der Aktenabgabe von 1 nach 4 nicht zustande gekommen sei, weil der Beklagte sich Gesprächen verweigert habe.
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9. Die Klage sei bewusst als Anfechtungsklage erhoben, weil eine Verpflichtungsklage auf Erlass durch die offenen Fragen der nicht entschiedenen Veranlagungen nicht beziffert werden könne. Da aber die Ermessensentscheidung rechtswidrig sei und den Kläger in seinen Rechten verletzte, sei die Anfechtungsklage zulässig.
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Der Kläger hat beantragt,
1.) den der Klagebegründung beigefügten Kirchensteuerbescheid in der Form der Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 kostenpflichtig aufzuheben,
2.) die Hinzuziehung eines fach- und sachkundigen Verfahrensbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig festzustellen,
3.) hilfsweise die Revision zuzulassen.
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Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
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Unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung hat er vorgetragen:
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1. Zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung (07.02.2020) sei eine sachgerechte Ermessensentscheidung erfolgt. Entgegen der Behauptung des Klägers sei der Sachverhalt durch ihn, den Beklagten, ausreichend ermittelt worden. Insbesondere hätte er die vom Kläger umfangreich eingereichten Schriftsätze der Entscheidung zugrunde gelegt. Darüber hinaus hätten ihm relevante Aktenauszüge des Kirchensteueramts 1 vorgelegen, die er zur Entscheidung über den Erlassantrag herangezogen hätte. Die Originalakten hätten sich zur Durchführung des Verfahrens über den Abrechnungsbescheid beim FG 1 befunden. Zum damaligen Zeitpunkt sei von einer offenen Summe von 14.092,30 € auszugehen gewesen. Der später ergangene Gerichtsbescheid des FG 1 über den Abrechnungsbescheid habe im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung nicht berücksichtigt werden können. Er, der Beklagte, habe diesem rechtshängigen Verfahren nicht vorgreifen dürfen.
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Insbesondere sei die fehlerhafte Bekanntgabe und damit die Nichtigkeit von Teilen der Bescheide nicht erkenntlich gewesen und erst nach den umfangreichen Ermittlungen des FG 1 klargeworden. Ferner hätte eine erkennbare Unwirksamkeit, der vom FG 1 so eingestuften Bescheide, zu einem Fehlen einer erlassbaren Steuerforderung geführt, weshalb dann auch kein Erlass möglich gewesen wäre.
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2. Insbesondere seien nicht die Kircheneinkommensteuerbescheide der Streitjahre Gegenstand dieses Verfahrens, sondern die im Erhebungsverfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung festgesetzten Steuern gemäß einem Abrechnungsbescheid des Kirchensteueramtes 1 über 20.542,70 €, vermindert um die am 07.02.2019 aufgehobene Kircheneinkommensteuer 2003 und die am 23.05.2019 auf 326,40 € herabgesetzte Kircheneinkommensteuer 2005. Gegen diese Steuerforderung habe der Kläger im Abrechnungsverfahren beim FG 1 Einwendungen erhoben, die dort und nicht im Erlassverfahren zu prüfen seien. Einwendungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen würden nach seiner, des Beklagten Ansicht, keinen Anspruch auf Erlass der Steuerschuld begründen. Unter Bezug auf BFH in BStBl II 2010, 663 und BFH/NV 12, 1486 vertritt der Beklagte die Auffassung, sachliche Billigkeitsgründe für einen Steuererlass seien nur dann gegeben, wenn die Besteuerung des Sachverhalts mit dem Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar wäre, der Gesetzgeber die zu entscheidende Frage im Einzelfall daher im Wege der Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte. Eine Regelungslücke, die durch einen Billigkeitserlass zu füllen wäre, sei nach seiner Ansicht nicht gegeben, eine Korrektur durch Steuerlass nicht notwendig. Dies gelte insbesondere, weil im Zeitpunkt der Entscheidung noch eine Überprüfung der Festsetzung durch ein Gericht möglich gewesen wäre und daher die Billigkeitsmaßnahme über einen Erlass nicht einschlägig sei. Sachliche Erlassgründe bestünden daher nicht.
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3. Auch persönliche Erlassgründe würden nicht bestehen. Der Kläger sei nicht erlassbedürftig, weil ihm der Einsatz der über der Pfändungsfreigrenze liegenden Einkünfte und die Verwertung der Vermögenswerte, insbesondere des Grundbesitzeszur Begleichung der Altschulden zumutbar sei. Auf den Grundbesitz sei bereits eine Sicherungshypothek eingetragen.
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4. Der Kläger sei ferner einen Nachweis der behaupteten Stundung der Einkommensteuer schuldig geblieben und die im Einspruchsverfahren belegte Aussetzung einiger Einkommensteuerbescheide sei durch deren Änderung zugunsten des Klägers und eine entsprechende Auswertung durch die Kirchensteuerämter bereits in die kirchensteuerlichen Veranlagungen eingeflossen und habe die noch streitige Steuerschuld gemindert. Diese Beträge seien somit nicht Gegenstand des Stundungsbegehrens.
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5. Aufgrund der Abgabe der Steuerakten am 07.02.2020 in Folge des zwischenzeitlichen Wohnsitzwechsels des Klägers in den Zuständigkeitsbereich des Kirchensteueramtes 3 mache der Beklagte gegen den Kläger keine Ansprüche mehr geltend. Wegen der Abgabe und in Abhängigkeit vom Ausgang des Verfahrens über den Abrechnungsbescheid am FG 1 seien die noch offenen Beträge ab 09.04.2020 bis Oktober 2020 gestundet worden. Vorher seien von ihm die Beträge in Hinblick auf die Verfahren beim FG 1 - insbesondere die Klage gegen den Abrechnungsbescheid - von Amts wegen stillschweigend nicht geltend gemacht. Der Kläger habe ohne Geltendmachung seitens des Beklagten Erlass und Stundung begehrt.
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6. Eine Aufrechnung sei gegen den Beklagten zu keiner Zeit erklärt worden.
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7. Nach der Entscheidung des FG 1 über den Abrechnungsbescheid sei vom Kirchensteueramt 1 ein erneuter Abrechnungsbescheid unter Berücksichtigung der Meinung des FG 1 ergangen, den der Kläger erneut mit Rechtsbehelf und Klage angefochten habe. Es habe also durchgehend eine Steuerforderung bestanden.
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8. Falsch sei die Behauptung des Klägers, er, der Beklagte, habe die Rechtsmittelverfahren gegen die Vz ab 1996 pflichtwidrig liegen gelassen. Die Zuständigkeit sei nach § 26 S. 2 AO beim Kirchensteueramt 1 verblieben.
33
Die Parteien hatten im Hinblick auf das Verfahren gegen den Abrechnungsbescheid beim FG 1, Az: .../... übereinstimmend das Ruhen des Verfahrens beantragt, dem mit Beschluss vom 30.07.2020 entsprochen wurde.
34
Das FG 1 hat mit Gerichtsbescheid vom 16.11.2020 entschieden, der Abrechnungsbescheid vom 24.08.2017, die geänderten Abrechnungsbescheide vom 29.09.2017 und vom 05.10.2017 sowie die Einspruchsentscheidung vom 18.01.2018 werden aufgehoben. Zur Begründung führt das FG 1 an, die Kircheneinkommensteuerbescheide des Jahres 2003 und der Änderungsbescheid vom 13.10.2010 für den Vz sowie die Änderung für 2008 vom 09.03.2011 und für 2006 und 2007 vom 04.12.2014 und für 2010 vom 10.07.2012 seien dem damals im Ausland lebenden Kläger nicht wirksam bekanntgegeben worden und daher nichtig. Da aber eine unwirksame Festsetzung Teil des Abrechnungsbescheides sei, werde dieser aufgehoben. Zahlungsverjährung der Jahre ab 1996 sei entgegen der Meinung des Klägers nicht eingetreten und auch eine Aufrechnungslage bestehe nicht. Zudem sei die Verständigung mit der Finanzverwaltung von 2016 kein Grundlagenbescheid für die Kircheneinkommenssteuer.
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Nach vorheriger Anhörung hat das FG Nürnberg mit Beschluss vom 30.06.2021 das Verfahren wiederaufgenommen.
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Gegen einen im Januar 2022 erlassenen Gerichtsbescheid hat der Beklagte fristgerecht Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt. Zur Begründung wurde die Auffassung verstärkend vorgetragen, dass im Erlassverfahren als Billigkeitsmaßnahme die Fehlerhaftigkeit der Festsetzungsbescheide und des Abrechnungsbescheides nicht zu beachten sei.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.
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A) Die Klage ist als Anfechtungsklage, § 40 Abs. 1 Fall 1 FGO, zulässig und auch nicht wegen der zwischenzeitlichen Stundung teilweise erledigt.
1.) Zulässigkeit der Anfechtungsklage
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Die Klage ist zulässig als isolierte Anfechtungsklage gegen den Ablehnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung. Wenn die Behörde einen Antrag abgelehnt hat, mit dem ein Rechtsanspruch auf die Gewährung einer Abgabenvergünstigung geltend gemacht wurde, liegt es allerdings zu einer vollständigen gerichtlichen Durchsetzung des Anspruchs nahe, mit der Klage nicht nur die Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsaktes, sondern die Verpflichtung der Behörde zum Erlass des abgelehnten Verwaltungsaktes zu begehren, also nicht eine Anfechtungs-, sondern eine Verpflichtungsklage (vgl. § 40 Abs. 1 FGO) zu erheben. Der Antragsteller ist jedoch rechtlich nicht gehindert, nur eine Anfechtungsklage zu erheben, also sich mit der gerichtlichen Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsaktes zu begnügen, quasi ein rechtliches Minus gegenüber der Verpflichtungsklage im Rahmen der Verfügung über den Prozessstoff zu beantragen (s. BFH-Urteil v. 26.10.1976, VII R 57/73 und Teller in Gräber, FGO, 9. A., § 40 R 26 m.w.N.).
2.) Keine Erledigung durch die zeitweise Stundung
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a) Erledigung der Hauptsache i.S.d. § 138 FGO ist materiell gegeben, wenn nach Rechtshängigkeit durch ein außergerichtliches Ereignis unmittelbar das gesamte im Klageantrag zum Ausdruck kommende Begehren objektiv gegenstandlos geworden ist. (BFH in ständiger Rechtsprechung z.B. Urteil v. 16.12.2008, I R 29/08). Wird jedoch ein anderer Verwaltungsakt über den Prozessstoff erlassen, dann wird dieser nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Verfahrens.
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b) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachurteilsvoraussetzungen ist der Versendungszeitpunkt der schriftlichen Entscheidung (s. z.B. BFH Beschluss v. 19.06.1990, VIII B 3/89).
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c) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist keine Erledigung eingetreten.
43
Durch den Stundungsbescheid vom 09.04.2020 über die Kircheneinkommensteuer der streitigen Vz. ist der Beklagte dem Stundungsbegehren nämlich nur teilweise nachgekommen. Er hat zwar mit einer Summe von 14.092,30 € über den gesamten Anspruch entschieden, dies aber nur „in stets widerruflicher Weise“. Ferner geschah dies einschränkend bis zu einer finanzgerichtlichen Entscheidung über die entsprechenden Grundlagenbescheide 1996-2001 und 2005-2008 längstens bis 15.10.2020. Das klägerische Begehren war vorliegend die hilfsweise Stundung bis zur Klärung der Rechtsmittelverfahren gegen die Veranlagungsverwaltungsakte. Dem ist der Beklagte -wie sich aus den Kirchensteuerakten ergibtlediglich zur Ermöglichung der Einarbeitung des Kirchensteueramtes 3 und längstens für ca. 6 Monate nachgekommen. Dies schränkte zu diesem Zeitpunkt zwar den Ablehnungsbescheid ein und hätte nach § 68 FGO bei der Beurteilung herangezogen werden müssen. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte aber die vorherige Ablehnung der Stundung nicht im vollem Umfang des klägerischen Antrages aufgehoben und es war keine vollständige Erledigung eingetreten. Im Zeitpunkt der Entscheidung durch den Senat ist die befristete Stundung zwischenzeitlich abgelaufen und nicht erneuert worden. Das Klagebegehren ist damit auch nicht mehr teilweise erledigt.
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B) Die Klage ist wegen der aus der nicht erfolgten Bekanntgabe folgenden Nichtigkeit nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO der bei der Abwägung berücksichtigten Bescheide für die Jahre 2006 bis 2008 und damit unvollständiger Tatsachenermittlung hinsichtlich der Ablehnung des Erlassantrages begründet.
1.) Ermessen beim Entscheid über den Erlass
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a) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Unbilligkeit der Erhebung einer Steuer, an die § 227 AO die Möglichkeit eines Erlasses knüpft, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben.
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Dasselbe gilt sinngemäß im Hinblick auf die hier in Rede stehende Kirchensteuer. Denn Art. 18 Abs. 1 BayKirchensteuergesetz (KiStG) verweist zum Besteuerungsverfahren auf die Vorschriften der AO. Über den hiernach grundsätzlich möglichen Steuererlass entscheidet diejenige Stelle, die von der kirchensteuerberechtigten Körperschaft mit dieser Entscheidung betraut worden ist. Durch den damaligen Wohnsitz des Klägers war das der Beklagte.
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Allerdings folgt aus der Verweisung auf die Vorschriften der AO, dass über einen Antrag auf Erlass von Kirchensteuer nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) zu entscheiden ist und dass das FG jene Entscheidung nur in den von § 101 und § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüfen darf (BFH-Beschluss v. 24.03.1987, I B 129/86). Dabei hat das Gericht auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen, sofern nicht eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist (BFH in ständiger Rspr. z.B. Urteil v. 11.10.2017, IX R 2/17). Daher hat das Gericht über das Ermessen im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung zu befinden (BFH-Urteil v. 4.05.1993, VII R 82/92, m.w..N.). Für die Steuerfestsetzungen, die Zahlungsverjährung und die Tilgungen sind daher die Verhältnisse am 07.02.2019 zugrunde zu legen.
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Der nach § 227 AO zu erteilende Bescheid über einen Antrag auf Erlass ergeht im Steuererhebungsverfahren. Die Behörde hat über die Frage der Erlasswürdigkeit und Billigkeit einer festgesetzten Steuerforderung zu entscheiden. Die Begründung der Zahlungsverpflichtung ist hingegen nicht Gegenstand des Erhebungsverfahrens; sie wird vorausgesetzt. Deshalb können Gründe, die gegen die Steuerfestsetzung selbst erhoben werden, nicht im Abrechnungsverfahren geltend gemacht werden (ständige Rechtsprechung; vgl. zum Beispiel BFH-Urteil v. 04.05.1993, VIII R 82/92; BFH-Urteil v. 12.08.1999, VII R 92/98; BFH-Urteil v. 15.06.1999, VII R 3/97 m.w.N.).
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aa) Dabei können grundsätzlich nur wirksame Steuerbescheide eine Rechtswirkung entfalten und damit zu einer Entstehung des Steueranspruchs führen. Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, im Zeitpunkt der Bekanntgabe wirksam, § 124 Abs. 1 Satz 1 AO.
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Die Frage der Wirksamkeit des Steuerbescheids betrifft primär das Steuerfestsetzungsverfahren, nicht aber das Erhebungsverfahren. Über die Wirksamkeit einer Steuerfestsetzung kann im Wege der Anfechtungsklage gegen den Steuerbescheid eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werden. Daher ist darüber zu entscheiden, ob im Streit um die Rechtmäßigkeit eines ablehnenden Erlasses die Unwirksamkeit eines Steuerfestsetzungsbescheides vom Gericht zu prüfen und bei Bejahung der Unwirksamkeit die Ermessensentscheidung über den Erlass im Erhebungsverfahren wegen unvollständiger Tatsachenermittlung zur Rechtswidrigkeit führt. Voraussetzung für eine fachlich vom FG zu beachtende Ausübung des Ermessens ist nämlich die Vollständigkeit der Tatsachenermittlung als Voraussetzung für eine umfassende Ermessensausübung (ständige Rspr. z.B. BFH-Urteil v. 09.04.2012, III R 85/09).
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Dabei ist für die Frage des Erlasses nach § 227 AO eine wesentliche Ausgangsvoraussetzung das Bestehen eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis und damit einer Steuerforderung. Die Rechtsprechung legt dafür den allgemeinen Rechtsgrundsatz zugrunde, dass nur wirksame Verwaltungsakte Rechtswirkungen zu entfalten vermögen und deshalb nur wirksame Steuerbescheide zur Entstehung einer Steuerschuld führen. Das stellt damit aber zugleich das Prüfungsprogramm im Erhebungsverfahren klar. Diese Frage ist bislang -soweit erkenntlichnur für Abrechnungsbescheide so entschieden. Es sei nämlich - nur - zu prüfen, ob eine wirksame Steuerfestsetzung gegen den Abrechnungsschuldner vorliege (Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil v. 10.11.2004, 6 K 547/98, bestätigt durch BFH Urteil v. 21.11.2007, VII R 68/05).
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bb) Der Senat ist der Auffassung, dass die Rechtsprechung zum Erfordernis der Wirksamkeit der Steuerbescheide im Abrechnungsbescheid zumindest auch auf Verwaltungsakte des Erhebungsverfahrens zu übertragen ist, die den Erlass von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen. Dies jedenfalls dann, wenn auch um die Wirksamkeit der Bescheide und damit die Verwirklichung des Steueranspruchs gestritten wird. Das gilt nicht nur, wenn die Unwirksamkeit unstreitig feststeht, sondern auch, wenn um sie mit einer Klage gegen die Steuerfestsetzung gestritten wird.
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Im Festsetzungsverfahren sind unwirksame Bescheide nicht zu beachten, entfalten aber einen Rechtsschein und können daher im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden. Dieser Rechtsschein muss auch im Erhebungsverfahren beseitigt werden können, ohne alleine auf Rechtsmittel im Festsetzungsverfahren angewiesen zu sein. Zwar ist dem Beklagten zuzustimmen, dass ein unwirksamer Bescheid keine Forderung begründet, die damit auch mangels Bestehens eigentlich nicht erlassen werden kann. Wie der Streitfall zeigt, sind aber auch unwirksame Festsetzungen im Erhebungsverfahren geeignet, einen Rechtsschein zu erzeugen und z.B. Vollstreckungshandlungen auszulösen oder evtl. bei Aufrechnungen Wirkung zu erzeugen. Daher ist auch im Erhebungsverfahren die Unwirksamkeit eines Festsetzungsbescheides zu beachten. Der entstandene Rechtsschein kann im Erhebungsverfahren -entsprechend der Aufhebung im Festsetzungsverfahrendurch einen förmlichen Erlass beseitigt werden.
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b.) Unter Anwendung vorstehender Rechtsgrundsätze ist der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung wegen Ermessensunterschreitung aufgrund eines unvollständigen Sachverhaltes rechtswidrig.
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aa) Die Unwirksamkeit der im Erlassverfahren zur Prüfung anstehenden Steuerforderungen folgt nicht schon, wie der Kläger vorträgt, aus einer eventuellen Verjährung. Festsetzungsverjährung, die der Klägervertreter als rechtliches Argument aufführt, ist kein Grund der Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes nach §§ 124 Abs. 3, 125 Abs. 1 AO. Ein Verstoß gegen § 169 Abs. 1 AO führt lediglich zur Rechtswidrigkeit und nicht zur Nichtigkeit des § 125 Abs. 1 AO (grundlegend BFH, Beschluss v. 06.05.1994, V B 28/94). Festsetzungsverjährung ist folglich im Erhebungsverfahren nicht Prüfungsgegenstand.
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bb) Der Kläger hat aber mit seinem Vortrag, seit 2010 keinen Steuerbescheid mehr erhalten zu haben, den Zugang bestritten und damit eine Unwirksamkeit der Bescheide behauptet. Das hat der Beklagte nicht in sein Ermessen einbezogen. Bescheid und Einspruchsentscheidung sind daher rechtswidrig und aufzuheben.
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Das FG 1 hat im Gerichtsbescheid vom 16.11.2020, Az: xx/xx, zutreffend entschieden, dass die im dort streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid verwendeten Bescheide vom 04.12.2016 für die Vz 2006 und 2007 sowie vom 09.03.2011 für den Vz 2008 mangels wirksamer Auslandsbekanntgabe nichtig sind. Wie der Beklagte zurecht ausführt bindet dieser rechtskräftige Gerichtsbescheid die Parteien zwar nicht nach § 110 Abs. 1 S. 2 FGO, weil Beklagter dort die eigenständige Körperschaft des öffentlichen Rechtes war und nicht der Beklagte, der auch nicht beigeladen war.
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Sind jedoch die Ausführungen eines anderen FG, insbesondere dessen Tatsachenfeststellungen -wie vorliegendohne erkennbare Widersprüche und vollständig, kann sich das FG diese zu eigen machen. Dies gilt auch ohne die Verfahrensakten beizuziehen, wenn gegen die Entscheidung des anderen FG keine substantiierten Einwendungen erhoben worden sind (ständige Rspr. z.B. BFH Urteil v. 23.04.2014, VII R 41/12). Der Beklagte hat gegen die Feststellungen des FG 1 zur fehlgeschlagenen Auslandsbekanntgabe keinerlei Einwendungen erhoben. Der Senat geht daher in Übereinstimmung mit dem FG 1 davon aus, dass die genannten Bescheide nichtig und damit unwirksam waren, da sie nicht gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO dem Kläger bekannt gegeben worden waren.
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Diese nichtigen Bescheide waren Gegenstand der Abwägung in der Einspruchsentscheidung und deren Teilbeträge hätten nach den vorstehenden Grundsätzen zur Beseitigung des Rechtsscheins erlassen werden müssen. Aus den vorliegenden Akten des Beklagten geht aber aus keiner Unterlage hervor, dass die Fragen der Bekanntgabe und Wirksamkeit anhand von Unterlagen geprüft wurden. Der Beklagte hatte sich auf die Kontoübernahme und die Einspruchsentscheidung des Kirchensteueramtes 1 zum Abrechnungsbescheid verlassen. Ist die Sachverhaltsermittlung unvollständig und unterbleiben deshalb notwendige Überlegungen, ist die Ermessensentscheidung fehlerhaft und gerichtlich aufzuheben. Die nach § 102 FGO vorzunehmende gerichtliche Prüfung, ob die Behörde ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, erstreckt sich auch darauf, ob diese ihre Entscheidung auf der Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Ermessen gewährenden Vorschrift, hier § 227 AO, maßgeblich sind (BFH Urteil v. 19.04.2012, III R 85/09).
2.) Ermessen bzgl. Stundung
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Nach den vorstehenden Grundsätzen ist auch die Entscheidung bezüglich des Hilfsantrages auf Stundung fehlerhaft und aufzuheben. Der Beklagte ging zudem erkenntlich sowohl im Bescheid als auch der Einspruchsentscheidung davon aus, dass keine Gestellung von Sicherheiten möglich sei. Diese seien aber Voraussetzung für eine Stundung. Zu diesem Zeitpunkt bestand eine Sicherungshypothek, die den damals vermeintlich offenen Betrag fast doppelt abdeckte. Dies war ausweislich der Akten des Beklagten auch mit Weitergabe des Steuerfalles vom Kirchensteueramt 1 mitgeteilt worden. Eine Ermittlung zur Werthaltigkeit dieser Sicherung ist nirgends erkenntlich und die Ermessensentscheidung beruht ausdrücklich auf einer angenommenen Gefährdung des Steueranspruches, wobei die Einspruchsentscheidung sogar postuliert, dass Sicherheitsleistungen nicht erbracht werden könnten. Der Beklagte ging auch diesbezüglich von einem falschen Sachverhalt aus.
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C) Kosten: Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 143 Abs. 1 FGO. Der umfangreiche und komplexe Streitstoff macht auch für den rechtskundigen Betroffenen die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig, § 139 Abs. 3 S. 1 FGO. Dies gilt auch, wenn die Begründungen ausschließlich vom Kläger erfolgten. Hier hat der Prozessbevollmächtigte zumindest Einspruch eingelegt, weshalb die Hinzuziehung auszusprechen ist. Die Fragen der verwirklichten Gebührentatbestände sind im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens zu entscheiden. Das Urteil ist bezüglich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar § 155 FGO i.V.m. § 709 ZPO.