VGH München, Beschluss v. 02.11.2022 – 11 CS 22.1984 , 11 C 22.1992
Titel:

Beweis der Zustellung und des Zugangs von Schriftstücken

Normenketten:
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, Abs. 6, Abs. 9
VwGO § 80 Abs. 5
VwZVG Art. 2 Abs. 1, Art. 3, Art. 9
ZPO § 180 S. 1, § 181
BGB § 130 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Eine Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Post ist unwirksam, wenn die Mitteilung über die Niederlegung in den Gemeinschaftsbriefkasten eines Mehrparteienhauses eingeworfen worden ist. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der formlose Zugang eines Schreibens kann nicht im Wege des Beweises des ersten Anscheins angenommen werden, auch wenn es an die richtige Wohnanschrift adressiert worden ist, unter der den Empfänger andere behördliche Schreiben erreicht haben. Hieraus kann noch nicht geschlossen werden, dass ihn auch die fragliche Sendung erreicht hat. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Interessenabwägung bei offenen Erfolgsaussichten des Klageverfahrens, Prozesskostenhilfe, Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem, Zustellung der Ermahnung und Verwarnung, Niederlegung bei einer Postfiliale, Verlust einer Postzustellungsurkunde, Beweis des ersten Anscheins, Heilung durch tatsächlichen Zugang, Ergreifen einer Maßnahme, Kenntnis der Behörde von weiteren Eintragungen im Fahreignungsregister, Zustellung, Ersatzzustellung, Niederlegung, Zugang, Anscheinsbeweis, Heilung, Interessenabwägung, Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 17.08.2022 – W 6 S 22.1188
Fundstellen:
RÜ2 2023, 23
LSK 2022, 31533
BeckRS 2022, 31533

Tenor

I. Die Verfahren 11 CS 22.1984 und 11 C 22.1992 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (11 CS 22.1984) wird zurückgewiesen.
III. Die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe (11 C 22.1992) für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird zurückgewiesen.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren 11 CS 22.1984 wird abgelehnt.
IV. Der Antragsteller trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.
Der Antrag, die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für notwendig zu erklären, wird abgelehnt.
V. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 11 CS 22.1984 wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klasse A79, A179, AM, B und L und die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Eilverfahren. Zugleich begehrt er Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren.
2
Mit Schreiben vom 26. September 2016 widerrief das Landratsamt Würzburg eine Verwarnung vom 6. August 2014 und ermahnte den Antragsteller nach Erreichen von fünf Punkten im Fahreignungsregister gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG. Das Schreiben wurde am 28. September 2016 bei der Postfiliale O. niedergelegt und die Benachrichtigung über die Niederlegung ausweislich der Postzustellungsurkunde in den Gemeinschaftsbriefkasten des Mehrfamilienhauses eingelegt.
3
Nach Erreichen von sieben Punkten im Fahreignungsregister verwarnte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 1. Dezember 2020 (Az. 16b.4-143) gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG. Der Verwarnung war eine Kostenrechnung (Az. 16b.4-143-kr) über 21,02 EUR beigefügt. Sie sollte gegen Postzustellungsurkunde, die nicht in Rücklauf kam, unter der Anschrift M. H.str., O., zugestellt werden.
4
Am 11. Januar 2021 trat der Antragsteller eine längere Strafhaft an.
5
Mit Schreiben vom selben Tag mahnte die Kreiskasse die Zahlung der Verwarnungsgebühr an. Am 18. Januar 2021 wurde die Kostenrechnung beglichen.
6
Mit Schreiben vom 3. März 2021 übermittelte das Landratsamt dem Antragsteller eine Kopie der Verwarnung vom 1. Dezember 2020 gegen Postzustellungsurkunde an seine bisherige Wohnanschrift.
7
Mit Schreiben vom 19. März 2021 teilte die D P dem Landratsamt auf Anfrage hin mit, dass eine intensive Suche nach der Postzustellungsurkunde zur Verwarnung vom 1. Dezember 2020 erfolglos geblieben sei.
8
Nach einer Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamts vom 22. März 2022 wurde der Antragsteller durch das Amtsgericht Würzburg mit sofort rechtskräftiger Entscheidung vom 16. Februar 2022 wegen 21-maligen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StVG; Tattag: 11.12.2020) verurteilt. Hierfür wurden 42 Punkten in das Fahreignungsregister eingetragen.
9
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis nahm der Bevollmächtigte des Antragstellers Akteneinsicht und trug sodann mit Schreiben vom 21. Juni 2022 vor, dass der Antragsteller weder die Verwarnung vom 1. Dezember 2020 noch deren Kopie vom 3. März 2021 erhalten habe. Ein Verwandter habe am 18. Januar 2021 auf die Mahnung hin die Zahlung von 21,02 EUR getätigt. Der Antragsteller habe sich zu dieser Zeit bereits in Haft befunden.
10
Mit Bescheid vom 6. Juli 2022 entzog ihm das Landratsamt die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Seiner Ablieferungspflicht kam der Antragsteller am 25. Juli 2022 nach.
11
Am 15. Juli 2022 ließ er durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben, über die das Verwaltungsgericht Würzburg noch nicht entschieden hat, und zugleich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragen.
12
Mit Beschluss vom 17. August 2022 lehnte das Verwaltungsgericht das vorläufige Rechtsschutzbegehren mit der Begründung ab, der Antrag sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, soweit der Antragsteller die sofortige Herausgabe seines Führerscheins verlange, weil nichts dafür ersichtlich sei, dass die Behörde dessen Herausgabe im Falle eines Obsiegens des Antragstellers verweigern wolle. Im Übrigen sei der Antrag unbegründet. Das Landratsamt habe die Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 80 Abs. 3 VwGO hinreichend begründet. Die Klage werde mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben, da dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zu Recht gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG entzogen worden sei. Zum Zeitpunkt der letzten im Fahreignungsregister eingetragenen Tat habe sich für ihn ein Stand von 49 Punkten ergeben, die auch beim Erlass des Entziehungsbescheids noch verwertbar gewesen seien. Die nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG erforderliche Ermahnung und Verwarnung seien erfolgt. Das Landratsamt habe den Antragsteller beim Stand von fünf Punkten mit Schreiben vom 26. September 2016 mit den erforderlichen Hinweisen ermahnt. Die Ermahnung sei ihm ordnungsgemäß durch Niederlegung zugestellt worden. Sei eine Zustellung nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 180 ZPO nicht möglich, sei das Schriftstück regelmäßig durch Niederlegung nach § 181 ZPO zuzustellen. Die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Ersatzzustellung gemäß § 181 Abs. 1 Satz 2 bis 5 ZPO seien vorliegend erfüllt. Als öffentliche Urkunde im Sinne von § 418 Abs. 1 ZPO erbringe die Postzustellungsurkunde den vollen Beweis für die darin bezeugten Tatsachen. Den nach § 418 Abs. 2 ZPO erforderlichen Gegenbeweis habe der Antragsteller nicht geführt. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2020 habe das Landratsamt den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG mit den erforderlichen Hinweisen beim Stand von sieben Punkten verwarnt. Die Tilgungsfristen der der Verwarnung zugrundeliegenden Verkehrszuwiderhandlungen seien zum damals maßgeblichen Zeitpunkt bei Ergreifen der Maßnahme noch nicht abgelaufen gewesen. Die Einwände gegen die rechtswirksame Bekanntgabe griffen nicht durch. Das Landratsamt habe sich gemäß Art. 2 Abs. 3 Satz 1 VwZVG für die Bekanntgabe durch Zustellung mit Postzustellungsurkunde entschieden, für deren Ausführung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend gelten würden. Vorliegend sei die Postzustellungsurkunde, mit der die Verwarnung vom 1. Dezember 2020 an die damalige Wohn- und Meldeadresse des Antragstellers in der M. … straße, O., verschickt worden sei, nicht in Rücklauf gekommen. Eine Nachfrage des Landratsamts bei der Post habe ergeben, dass die Urkunde nicht mehr auffindbar sei. Somit könne der Nachweis der förmlichen Zustellung der Verwarnung nicht über die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde geführt werden. Der Zustellungsnachweis könne jedoch auch auf andere Weise geführt werden, zumal eine förmliche Zustellung der Verwarnung nicht erforderlich sei. Es genüge, dass dem Betroffenen die Ermahnung und Verwarnung tatsächlich zugegangen seien. Hiervon sei das Gericht aufgrund der berücksichtigungsfähigen Erkenntnisse und der Umstände des Einzelfalls überzeugt. Der gegenteilige Vortrag des Antragstellers, der sich im Wesentlichen in der Behauptung erschöpfe, das Schriftstück nicht erhalten zu haben, sei als unsubstantiiert und nicht glaubhaft zu bewerten. Anfang Dezember 2020 habe der Antragsteller seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt noch an der damaligen Meldeadresse M. … straße, O., gehabt, bevor er am 11. Januar 2021 seine Haftstrafe in der JVA Würzburg angetreten habe. Das in der Akte befindliche Schreiben der Staatsanwaltschaft Würzburg vom 20. November 2020, das dem Antragsteller nach eigenen Angaben zugegangen sei, zeige, dass ihm im relevanten Zeitraum noch Schriftstücke an die oben genannte Adresse hätten zugestellt werden können. Keines der nachfolgend vom Landratsamt an die Anschrift M. … straße, O., gerichteten Schreiben sei als unzustellbar zurückgesandt worden. Auch die Begleichung der der genannten Maßnahme beigefügten Kostenrechnung mit Zahlungseingang vom 18. Januar 2021 spreche indiziell dafür, dass dem Antragsteller das Schreiben vom 1. Dezember 2020 zugegangen sei. Ausweislich der Behördenakte nähmen Kostenrechnungen stets Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden Maßnahmen und seien körperlich mit diesen in einem Dokument bzw. Umschlag verbunden. Die Verbindung von Maßnahme und Kostenrechnung finde üblicherweise auch Niederschlag in der Beschriftung der Zustellungsurkunde (Feld 1.1. „Aktenzeichen“). Sie werde durch den Zusatz „kr“ kenntlich gemacht. Zudem erscheine es völlig lebensfremd, eine Kostenrechnung zu begleichen oder von Dritten begleichen zu lassen, ohne die kostenauslösende Maßnahme zu kennen oder zumindest vorab zu monieren, dass die kostenauslösende Maßnahme nicht durchgeführt worden sei. Dies gelte selbst unter Berücksichtigung der relativ geringfügigen Gebühren in Höhe von 21,02 EUR, zumal der Antragsteller nach seinen im PKH-Verfahren gemachten Angaben über keine nennenswerten Vermögenswerte und Einkünfte verfüge. Sofern er sich darauf berufe, dass ein Verwandter auf Mahnung vom 11. Januar 2021 die Gebühren für ihn beglichen habe, fehle es an jeglichem substantiierten Vortrag. Ferner folge daraus nicht zwangsläufig, dass der Antragsteller durch die Mahnung zum ersten Mal von der Verwarnung erfahren habe. Denn auch in diesem Falle dränge es sich jedem vernünftig Denkenden auf, bei der Behörde darauf hinzuweisen, dass die die Kostenpflicht und in der Folge auch die Mahnung auslösende Verwarnung bislang nicht zugegangen sei. Diesen Weg habe der Antragsteller aber nicht beschritten. Die Frage, ob die förmliche Zustellung der Kopie der Verwarnung mit Schreiben vom 3. März 2021 bereits deshalb unwirksam sei, weil der Antragsteller zu dieser Zeit die Wohnung in der M. … straße, O., aufgrund seiner Inhaftierung nicht mehr tatsächlich als Lebensmittelpunkt genutzt habe, könne daher dahinstehen. Auch eine Abwägung der Interessen des Antragstellers mit den öffentlichen Interessen an der Sicherheit des Straßenverkehrs müsse hier zu seinen Lasten ausfallen. Mit Erreichen von acht oder mehr Punkten im Fahreignungsregister gelte der Antragsteller kraft Gesetzes als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Seine Fahrerlaubnis sei ihm deshalb zwingend zu entziehen, ohne dass der Behörde insoweit Ermessen zustehe. Auch Verhältnismäßigkeitserwägungen kämen somit nicht zum Tragen.
13
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers mit der Begründung, er sei nicht ermahnt worden, weil ihm das Ermahnungsschreiben vom 26. September 2016 durch Niederlegung in der Postfiliale O. zugestellt worden und damit nicht ordnungsgemäß zugegangen sei. Bei einer Ermahnung, bei der es sich nicht um einen Verwaltungsakt handle, sei eine Zustellung gesetzlich nicht vorgeschrieben. Maßgeblich sei der tatsächliche Zugang, d.h. wenn das Schriftstück derart in den Machtbereich des Adressaten gelangt sei, dass dieser bei gewöhnlichem Verlauf und unter normalen Umständen die Möglichkeit der Kenntnisnahme habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (U.v. 26.11.1997 - VIII ZR 22/97) sei es nicht ausreichend, dass dem Erklärungsempfänger fristgerecht ein Benachrichtigungsschreiben der Post zugehe, da dieses regelmäßig keinen Hinweis auf den Absender enthalte und den Empfänger im Ungewissen darüber lasse, welche Angelegenheit die Sendung zum Gegenstand habe. Der Zugang des Benachrichtigungsschreibens könne deshalb den Zugang des niedergelegten Schreibens nicht ersetzen. Dem Antragsteller sei die Ermahnung niemals tatsächlich zugegangen. Weiter beruhe die gerichtliche Überzeugung, dass dem Antragsteller auch die Verwarnung mit Schreiben vom 1. Dezember 2020 zugegangen sei, auf unzulässigen Unterstellungen und Spekulationen. Das Gericht verkehre die auch im Amtsermittlungsverfahren zu berücksichtigenden Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast in ihr Gegenteil und verstoße gegen die Denkgesetze. Den Zugangsnachweis habe der Antragsgegner zu führen. Bereits die Tatsache, dass laut Mitteilung der Deutschen Post vom 19. März 2021 die Postzustellungsurkunde für die Zustellung der Verwarnung verloren gegangen sei, und dass diese nicht in den Postrücklauf des Landratsamts gekommen sei, spreche dafür, dass deren Zustellung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei und deshalb nicht habe ordnungsgemäß beurkundet werden können. Ohne den genauen Sachverhalt zu kennen und ohne den sich in Strafhaft befindenden Antragstellers zu benachrichtigen, habe dessen Schwager die Forderung des Landratsamts in Höhe von 21,02 EUR am 18. Januar 2021 aufgrund der Mahnung der Kreiskasse vom 11. Januar 2021 bezahlt. Aufgrund der Geringfügigkeit des Betrags habe er es nicht für erforderlich gehalten, den Antragsteller zuvor zu informieren oder zu fragen, da er aufgrund einer ihm erteilten Kontovollmacht diversen Zahlungs- und Schriftverkehr für den Antragsteller abgewickelt habe. Auch die Kopie der Verwarnung habe durch Postzustellungsurkunde vom 5. März 2021 nicht wirksam zugestellt werden können, da der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt die Wohnung in der M. … straße, O., nicht mehr innegehabt habe, sondern sich seit dem 11. Januar 2021 in Strafhaft befinde. Die Tatsache, dass keines der nachfolgend an die Anschrift M. … straße, O., gerichteten Schreiben als unzustellbar zurückgesandt worden sei, sei wohl darauf zurückzuführen, dass der Vermieter in Verkennung der Sach- und Rechtslage und ohne insoweit beauftragt zu sein, dem Briefkasten einen großen Stapel an Post entnommen und diese gesammelt habe. Er habe der Kanzlei des Bevollmächtigten am 31. August 2021 eine Vielzahl gesammelter offizieller Schreiben übersandt. Insoweit lägen die Plausibilitätserwägungen des Verwaltungsgerichts neben der Sache, soweit das Gericht es unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht als lebensfremd bezeichnet habe, eine Kostenrechnung zu begleichen oder begleichen zu lassen, ohne die kostenauslösende Maßnahme zu kennen oder vorab zu monieren, dass diese nicht durchgeführt worden sei. Die geringfügige Gebührenhöhe habe in keinem vernünftigen Verhältnis zu einem Besuch des Schwagers des Antragstellers bei diesem in der Strafhaft gestanden, der wesentlich höhere Kosten ausgelöst hätte. Der Antragsteller sei nicht rechtskundig und habe vom Ausgleich der Forderung des Landratsamts erst im Nachhinein erfahren. Schließlich habe das Verwaltungsgericht die Tatsachen, dass das Landratsamt den Ausnahmecharakter des Sofortvollzugs verkannt habe und der Antragsteller infolge der Inhaftierung ohnehin nicht mit einem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilnehmen könne, zwar auf Seite 8 der Entscheidung als seinen Sachvortrag wiedergegeben, diesen Vortrag dann jedoch komplett übergangen.
14
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
15
1. Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
16
Aus den vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen oder wiederherzustellen wäre.
17
In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann (vgl. BVerwG, B.v. 11.11.2020 - 7 VR 5.20 u.a. - juris Rn. 8 m.w.N.). Bei offenen Erfolgsaussichten findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BVerwG, B.v. 5.11.2018 - 3 VR 1/18 u.a. - BayVBl 2019, 279 Rn. 16).
18
Die Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Zwar erachtet der Senat anders als das Verwaltungsgericht die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis samt Nebenverfügungen aufgrund einer bei summarischer Prüfung nicht hinreichend sicher zu beantwortenden Rechtsfrage (dazu unten 1.3) als offen und entscheidet daher aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung. Wegen der betroffenen Grundrechte anderer Verkehrsteilnehmer erscheint es jedoch nicht verantwortbar, dass der Antragsteller, dessen Haft nach einer von seinem Bevollmächtigten übersandten Haftzeitübersicht der JVA Würzburg vom 3. Mai 2022 am 9. Oktober 2022 geendet haben dürfte, trotz der Vielzahl der begangenen Verkehrszuwiderhandlungen, die gegen seine Fahreignung sprechen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens fahrerlaubnispflichtige Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr führt. Dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (BVerfG, B.v. 19.7.2007 - 1 BvR 305/07 - juris Rn. 6). Ferner war auch die Grundentscheidung des Gesetzgebers in § 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), im Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), in Kraft getreten zum 1. Mai 2022, zu berücksichtigen, wonach das öffentliche Interesse am Vollzug der Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt. Nach § 4 Abs. 9 StVG ist die Entziehung der Fahrerlaubnis, für die der Behörde kein Ermessensspielraum eingeräumt ist, kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Wegen der Missbrauchsgefahr fällt die Interessenabwägung auch hinsichtlich der Pflicht zur Abgabe des Führerscheins zum Nachteil des Antragstellers aus.
19
1.1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anlage 13 zur Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV - vom 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.3.2022 [BGBl I S. 498]) ergeben. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche Vermutung (BVerwG, U.v. 25.9.2008 - 3 C 21.07 - BVerwGE 132, 57 = juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 7.1.2014 - 11 CS 13.2005 - DAR 2014, 281 = juris Rn. 13; Dauer in Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 32, 76, 100), die bis zu dem in der Regel durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu führenden Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung gilt (§ 4 Abs. 10 Satz 4 StVG).
20
1.2. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), d.h. dass er bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) wurde.
21
Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Antragsteller sowohl die Ermahnung als auch die Verwarnung vor der Entziehung der Fahrerlaubnis tatsächlich erhalten hat und Zustellungsfehler damit geheilt sind.
22
a. Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht dem Zugang der Ermahnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) nicht entgegen, dass deren Bekanntgabe mittels förmlicher Zustellung nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Aus Art. 2 Abs. 1 VwZVG ergibt sich, dass nicht nur Verwaltungsakte, sondern schriftliche und elektronische Dokumente der Behörde im Allgemeinen zustellungsfähig sind. Zugestellt wird, wenn es durch Rechtsvorschrift oder behördliche Anordnung bestimmt ist (Art. 1 Abs. 5 VwZVG). Nach Art. 2 Abs. 3 Satz 1 VwZVG hat die Behörde die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. Wie sich den Akten (Bl. 136) entnehmen lässt, hat sich das Landratsamt durch den Zusatz „Gegen Postzustellungsurkunde“ für die Zustellung (Art. 3 VwZVG) entschieden und diese hiermit angeordnet.
23
Auch ist die Zustellung eines behördlichen Schriftstücks durch Niederlegung unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich vorgesehen (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 181 Abs. 1 ZPO) und damit zulässig. In diesem Fall gilt das Schriftstück nach § 181 Abs. 1 Satz 4 ZPO mit der Abgabe der schriftlichen Mitteilung im Sinne von § 181 Abs. 1 Satz 3 ZPO als zugestellt. Daran ändert die vom Antragsteller angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (U.v. 26.11.1997- VIII ZR 22.97 - BB 1998, 289), die die Übermittlung einer zivilrechtlichen Willenserklärung durch Einschreiben und den Inhalt des Benachrichtigungsscheins über die zur Abholung bereitliegende Einschreibesendung betrifft, nichts.
24
Allerdings lagen die Voraussetzungen für eine Zustellung der Ermahnung im Wege der Niederlegung gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwZVG i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO nicht vor, so dass die Zustellung unwirksam war. Nach § 181 ZPO darf der Postzusteller diese Form der Zustellung erst dann wählen, wenn eine Ersatzzustellung gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO oder die Einlegung in den Briefkasten gemäß § 180 ZPO nicht ausführbar waren. Nachdem an der vormaligen Anschrift des Antragstellers ein Mehrfamilienbriefkasten vorhanden war, in den der Zusteller auch die Benachrichtigung über die Niederlegung eingeworfen hat, ist nicht erkennbar, weshalb er die aus wenigen Blättern bestehende Postsendung nicht in diesen Briefkasten einlegen konnte. Ein Gemeinschaftsbriefkasten eines Mehrparteienhauses genügt den Anforderungen des § 180 Satz 1 ZPO, wenn er durch entsprechende Beschriftung eine eindeutige Zuordnung zum Adressaten ermöglicht, dieser typischerweise seine Post über den Gemeinschaftsbriefkasten erhält und der Kreis der Mitbenutzer überschaubar ist (BGH, U.v. 16.6.2011 − III ZR 342/09 - BGHZ 190, 99 = juris Rn. 22 ff.; Wittschier in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022 jeweils m.w.N.). Eine Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Post ist daher regelmäßig unwirksam, wenn die Mitteilung über die Niederlegung in den Briefkasten eingeworfen wird (BFH, B.v. 23.11.2016 - IV B 39/16 - juris Rn. 16 f.). Beurteilt der Zusteller - wie wohl hier - die Tauglichkeit der Empfangseinrichtung falsch, führt dies wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 181 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur Unwirksamkeit der Zustellung (vgl. Häublein/Müller, MK zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 181 Rn. 3, 13). Letzteres wäre hier aber auch der Fall, wenn die vorhandene Empfangseinrichtung tatsächlich untauglich gewesen wäre. Denn dann hätte der Zusteller auch nicht die Mitteilung über die Niederlegung in den Mehrfachbriefkasten einwerfen dürfen, sondern diese an der Wohnungstür befestigen müssen (vgl. § 181 Abs. 1 Satz 3 ZPO). Auch Fehler bei der Mitteilung über die Niederlegung führen zur Unwirksamkeit der Zustellung (BGH, B.v. 10.7.2013 - XII ZB 411/12 - NJW 2013, 3310 Rn. 13 ff.).
25
Letztlich bleibt die unwirksame Zustellung der Ermahnung jedoch folgenlos, weil davon auszugehen ist, dass der Antragsteller sie tatsächlich erhalten hat und die fehlerhafte Zustellung damit geheilt ist. Nach Art. 9 VwZVG gilt ein Dokument, für das sich eine formgerechte Zustellung nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt, indem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2021 - 11 CS 21.1465 - juris Rn. 13 zur Heilbarkeit einer fehlerhaften Zustellung einer Ermahnung und Verwarnung). Dies gilt auch in Fällen, in denen - wie hier - die Zustellung nicht zwingend vorgeschrieben ist, sondern auf dem Willen der zustellenden Behörde beruht (Harrer/Kugele/Kugele/Thum/Tegethoff, Verwaltungsrecht in Bayern, Bd. 1, Stand September 2022, Art. 9 VwZVG, Anm. 3). Der tatsächliche Zugang ist durch ein Schreiben des damaligen Bevollmächtigten des Antragstellers an das Landratsamt vom 25. Oktober 2016 belegt, mit dem sich jener „insbesondere für Ihr Schreiben vom 26.09.2016“ bedankt, das er als Grundlage für seine Honorarforderung angesehen hat. Ein anderes Schreiben vom 26. September 2016 als die mit dem Widerruf einer Verwarnung vom 6. August 2014 kombinierte Ermahnung, auf das sich diese Passage beziehen könnte, ist in den Akten nicht vorhanden.
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b. Für den vom Antragsteller bestrittenen Zugang der Verwarnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) liegt kein Nachweis vor, weil die Postzustellungsurkunde verloren gegangen ist. Von einer Heilung des Zustellungsmangels kann erst durch Akteneinsicht seines Bevollmächtigten im Juni 2022 ausgegangen werden.
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Die materielle Beweislast für den Zugang der Verwarnung trägt der Antragsgegner (vgl. BayVGH, U.v. 18.2.2016 - 11 BV 15.1164 - BayVBl. 2016, 593 Rn. 20; OVG Hamburg, B.v. 23.9.2021 - 4 Bs 140/21 - DAR 2021, 708 = juris Rn. 30). Vom Adressaten kann grundsätzlich nicht verlangt werden, hierzu substantiiert vorzutragen, insbesondere dazu, aufgrund welcher Umstände ihn die Sendung nicht erreicht habe. Deren Nichterhalt ist - anders als deren verspäteter Erhalt - als sog. negative Tatsache dem Beweis nicht zugänglich (vgl. BVerwG, U.v. 15.6.2016 - 9 C 19.15 - BVerwGE 155, 241 Rn. 18; BFH, U.v. 29.4.2009 - X R 35/08 - BFH/NV 2009, 1777 = juris Rn. 20; U.v. 5.12.1974 - V R 111/74 - BFHE 114, 176 = juris Rn. 12 jeweils zum Steuerbescheid; OVG Hamburg, B.v. 23.9.2021 a.a.O. Rn. 30; Niesler in Brandt/Domgörgen, Hdb. Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl. 2018, Rn. 220).
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Da die Verwarnung kein Verwaltungsakt ist, ist Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt bei (formloser) Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, nicht - auch nicht analog - anwendbar (vgl. BayVGH, U.v. 18.2.2016 a.a.O. Rn. 20; OVG Hamburg, B.v. 23.9.2021 - 4 Bs 140/21 - DAR 2021, 708 = juris Rn. 31; Stelkens in Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 10, 12; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 41 Rn. 4, 39: allenfalls auf selbstständig anfechtbare Maßnahmen im Verwaltungsverfahren; Niesler, a.a.O. Rn. 220). Die Zugangsfiktion ist nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens (VGH BW, U.v. 18.10.2017 - 2 S 114/17 - DÖV 2018, 123 = juris Rn. 22; BayVGH, U.v. 18.2.2016 a.a.O. Rn. 20; OVG NW, B.v. 18.2.2011 - 12 A 1915/10 - juris Rn. 4; Tiedemann in BeckOK VwVfG, Stand 1.7.2022, § 41 Rn. 63; Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn. 39). Da eine eine Zugangsvermutung aufstellende gesetzliche Regelung fehlt, kommt es bei unselbstständigen Verfahrenshandlungen entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB vielmehr uneingeschränkt auf den tatsächlichen Zugang der fraglichen Erklärung an (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O. § 41 Rn. 80).
29
Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ist ein Zugang der Verwarnung auch nicht nach den Grundsätzen des ersten Anscheins anzunehmen. Die Rechtsfigur des Beweises des ersten Anscheins setzt einen typischen Geschehensablauf voraus, einen bestimmten Tatbestand oder Sachverhalt, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache - insbesondere auf Ursachenzusammenhänge oder das Verschulden - als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist, und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles zurücktreten zu lassen (BVerwG, U.v. 27.2.2002 - 8 C 20.01 - Buchholz 428 § 31 VermG Nr. 9 = juris Rn. 20). Weder liegen hier nach Aktenlage Tatsachen vor, aus denen nach allgemeiner Lebenserfahrung geschlossen werden könnte, dass dem Antragsteller das Schreiben im Dezember 2020 tatsächlich zugegangen ist, noch sind solche vorgetragen (vgl. BayVGH, U.v. 18.2.2016 a.a.O. Rn. 21 m.w.N.). Zwar war die Verwarnung vom 1. Dezember 2020 an die damals richtige Wohnanschrift adressiert, unter der ihn andere behördliche Schreiben erreicht haben. Hieraus kann jedoch noch nicht geschlossen werden, dass ihn auch die fragliche Sendung erreicht hat (vgl. BayVGH B.v. 24.10.2007 - 7 CE 07.2317 - NVwZ-RR 2008, 220 = juris Rn. 9; B.v. 11.5.2011 - 7 C 11.232 - juris Rn. 2 und OVG Saarl, B.v. 7.11.2011 - 3 B 371/11 - NVwZ-RR 2012, 131 = juris Rn. 5: anders, wenn der Zugang von mehreren Schreiben bestritten wird, ohne dass eines als unzustellbar zurückgekommen ist). Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass immer wieder einzelne Briefsendungen auf dem Postweg verloren gehen. Für den Zugang formlos mit der Post übersandter Sendungen besteht daher keine Vermutung (vgl. BVerfG, B.v. 15.5.1991 - 1 BvR 1441/90 - NJW 1991, 2757 = juris Rn. 13). Zudem lässt sich den Akten kein Hinweis darauf entnehmen, dass der Zustellungsauftrag samt zuzustellendem Dokument und vorbereitetem Vordruck der Zustellungsurkunde (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 182 ZPO) gemäß Art. 3 Abs. 1 VwZVG der Post übergeben worden ist. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass der Zustellungsauftrag bzw. die Postzustellungsurkunde erst nach und nicht bereits vor einer Zustellung durch den Postbediensteten verloren gegangen ist. Die Gründe dafür, dass sie nicht mehr vorgelegt werden kann, sind schlicht nicht bekannt.
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Aus der Zahlung der Verwarnungsgebühr kann ebenfalls nicht auf einen Zugang der mit der Rechnung verbundenen Verwarnung geschlossen werden. Der Antragsteller hat insoweit schlüssig vorgetragen, sein Schwager habe die Verwarnungsgebühr ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Sachverhalts auf die Mahnung vom 11. Januar 2021 hin beglichen. Begleicht ein Beauftragter behördliche Forderungen gegen einen Inhaftierten, deren Höhe sich in einem geringfügigen bzw. üblichen Rahmen hält, ohne nähere Kenntnis des Zahlungsgrunds, etwa zur Vermeidung von (weiteren) Mahngebühren oder anderweitigen Rechtsnachteilen für den Inhaftierten, erscheint dies weder ungewöhnlich noch lebensfremd (vgl. OVG LSA, B.v. 2020 - 3 M 49/20 - NJW 2020, 3474 = juris Rn. 6).
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Auch die nochmalige Zustellung einer Kopie der Verwarnung mit Schreiben vom 3. März 2021 war unwirksam, weil der Antragsteller am 11. Januar 2021 eine eineinhalbjährige Haftstrafe angetreten und damit seinen Lebensmittelpunkt in der Justizvollzugsanstalt hatte. Bei einer mehrmonatigen Strafhaft ist von einer Wohnungsaufgabe auszugehen (BGH, U.v. 24.11.1977 - III ZR 1/76 - NJW 1978, 1858 = juris Rn. 11 ff.; OLG Düsseldorf, U.v. 5.3.2010 - 17 U 20/09 - juris Rn. 40 ff.; Häublein/Müller in MK zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 178 Rn. 9). Im Fall des Antragstellers kann auch nicht deshalb ausnahmsweise von der Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung zu der bisherigen Wohnung ausgegangen werden (vgl. OVG NW, B.v. 14.6.2011 - 14 B 515/11 - juris Rn. 5), weil sein Schwager Zugang zu dieser hatte und sich um offene Rechnungen gekümmert hat oder weil sein Vermieter ohne entsprechenden Auftrag Post für ihn gesammelt hat. Denn dadurch war offensichtlich nicht gewährleistet, dass der Antragsteller rechtzeitig Kenntnis von den an ihn gerichteten Sendungen erhalten hat.
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Die unwirksame Zustellung der Verwarnung ist indessen durch die Akteneinsicht seines Verfahrensbevollmächtigten im Rahmen der Anhörung im Juni 2022 geheilt worden (zur Heilung durch Akteneinsicht: BayVGH, B.v. 11.2.2020 - 13a ZB 20.30264 - juris Rn. 9 m. zahlreichen w.N.; B.v. 13.12.2017 - 11 CS 17.2098 - juris Rn. 16; OVG Bln-Bbg, U.v. 6.7.2020 - OVG 3 B 2/20 - juris Rn. 21 ff.; OVG LSA, B.v. 19.6.2018 - 3 M 227/18 - juris Rn. 6 f.; OVG Bremen, B.v. 23.4.2018 - 1 PA 89/17 - juris Rn. 5; OVG Hamburg, U.v. 30.1.2017 - DÖV 2017, 563 = juris Rn. 29; LSG Berlin-Bbg, U.v. 16.12.2010 - L 21 R 614/08 - juris Rn. 37; VGH BW, B.v. 7.12.1990 - 10 S 2466/90 - NVwZ 1991, 1195/1196). Dessen Vollmacht vom 10. Juni 2022 umfasste auch die Entgegennahme von Zustellungen.
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Die Verwarnung ist dem Antragsteller damit vor der Zustellung des Entziehungsbescheids vom 6. Juli 2022 bekannt gegeben worden, allerdings zu einem Zeitpunkt in dem das Landratsamt bereits Kenntnis von den Taten vom 11. Dezember 2020 hatte, die zu der Eintragung von 42 weiteren Punkten im Fahreignungsregister geführt hatten.
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1.3. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestands nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen (BVerwG, U.v. 26.1.2017 - 3 C 21.15 - BVerwGE 157, 235 Rn. 22). Damit stellt sich die Frage, ob die Maßnahme im Zeitpunkt ihrer Bearbeitung durch die Fahrerlaubnisbehörde oder erst im Zeitpunkt ihres Zugangs beim Betroffenen im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG „ergriffen“ ist (vgl. auch BayVGH, B.v. 25.9.2019 - 11 CS 19.1484 - juris Rn. 13). Für letzteres spricht, dass eine (noch) nicht zugegangene Verwarnung entsprechend den für Verwaltungshandeln allgemein geltenden Grundsätzen nicht rechtswirksam bzw. existent ist. Das Ziel des Gesetzgebers, der Verkehrssicherheit und dem Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern Vorrang vor dem Erziehungsgedanken einzuräumen, und der Umstand, dass die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienen sollen (BVerwG, U.v. 26.1.2017 a.a.O. Rn. 23), könnte allerdings dafür sprechen, dass auf den „Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung“ (so BT-Drs. 18/2775, S. 10 und die Wertung in § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG) auch dann abzustellen ist, wenn die Bearbeitung und der Zugang zeitlich länger auseinanderfallen. Nur bei der Bearbeitung durch die Behörde ist es dieser möglich zu prüfen, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 10). Der Zugang der Ermahnung oder der Verwarnung beim Betroffenen entzieht sich hingegen ihrem Einfluss. Diese - soweit ersichtlich in der Rechtsprechung bisher nicht geklärte - Frage wird im Klageverfahren zu prüfen sein.
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1.4. Nachdem der Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage keinen Erfolg hat, gilt dies auch für den gestellten Antrag auf Aufhebung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.
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1.5. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
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1.6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
38
2. Weiter hat das Verwaltungsgericht auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Ergebnis zu Recht abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes schon aufgrund der hier zu Lasten des Antragstellers vorzunehmenden Interessenabwägung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO). Anders als im Klageverfahren, für das der Antragsteller ebenfalls die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, sind hier die Erfolgsaussichten nicht offen (vgl. BVerfG, B.v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 - BVerfGE 81, 347 = juris 2. Ls.). Auf die wirtschaftliche Bedürftigkeit des Antragstellers kommt es daher nicht an.
39
Auch im Beschwerdeverfahren gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe hat der Antragsteller gemäß § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten zu tragen. Anders als im Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz fallen im Beschwerdeverfahren Gerichtskosten in Höhe einer Festgebühr von 66,- EUR (§ 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG) an, wobei eine Kostenerstattung nicht stattfindet (§ 166 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO).
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3. Mangels offener Erfolgsaussichten im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes war auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abzulehnen.
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4. Der Antrag, die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für notwendig zu erklären, war schon deshalb abzulehnen, weil kein Vorverfahren, d.h. ein Widerspruchsverfahren nach §§ 68 ff. VwGO (vgl. Olbertz in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2022, § 162 Rn. 60 f.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 162 Rn. 16, 25 jeweils m.w.N.), stattgefunden hat. Eine Erstattung der zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung vor dem Erlass einer Verwaltungsentscheidung aufgewandten Kosten ist nicht vorgesehen (Kallerhoff/Keller in Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 81 Rn. 58). Im Übrigen erfasst § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO nur die Fälle, in denen im Anschluss an das Vorverfahren Klage erhoben worden ist (Olbertz a.a.O. Rn. 62; Schübel-Pfister a.a.O. Rn. 25). Eine Notwendigerklärung gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO im Eilverfahren scheidet daher aus.
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5. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).