VGH München, Urteil v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2077
Titel:

Kein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling bei Betreuung durch den volljährigen Bruder

Normenketten:
SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 6, § 42a Abs. 1 S. 1 Nr. 3
AufnG Art. 7 Abs. 1
EU-Aufnahme-RL Art. 2 lit. e
Leitsatz:
Neben den Personensorgeberechtigten ist nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB VIII jede sonstige Person über 18 Jahren Erziehungsberechtigte, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dabei sind an die erforderliche Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten keine hohen Anforderungen zu stellen.  (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erstattung von Jugendhilfekosten, Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Erziehungsberechtigung, Volljähriger Bruder, Tatsächliche Verantwortungsübernahme, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, volljähriger Bruder, tatsächliche Verantwortungsübernahme, RL 2013/33/EU
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 25.06.2020 – AN 6 K 19.2567
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29743

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 14.462,02 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Kläger verfolgt im Berufungsverfahren vom Beklagten die Erstattung der für N. J. im Zeitraum zwischen dem 3. Juni 2016 und dem 9. Februar 2017 aufgewandten Jugendhilfekosten weiter.
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1. Am 21. September 2015 reiste der am ... 1999 in Id., Syrien, geborene N. J. zusammen mit seinem am ... 1997 geborenen Bruder Na. über die Balkanroute nach Deutschland ein. Die Eltern und weitere Geschwister von N. hielten sich bereits seit 2014 in einem Flüchtlingslager in Saudi-Arabien auf. Am 29. September 2015 übermittelte das Stadtjugendamt Sch. der Aufnahmeeinrichtung eine Bestätigung, wonach für N. sein Bruder Na. zukünftig die Verantwortung und Aufsicht übernehme. Na. erklärte sich damit einverstanden, die Verantwortung für den jüngeren Bruder an Eltern statt zu übernehmen, bis eine vormundschaftliche Entscheidung von einem deutschen Gericht getroffen werde. Es sei davon auszugehen, dass die Sorgeberechtigten mit dieser Entscheidung im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) einverstanden seien. In der Aufnahmeeinrichtung Sch. wurde N. am 2. Oktober 2015 darüber hinaus eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (BÜMA) ausgestellt, die ebenfalls den Vermerk enthält, sein Bruder übernehme für ihn die Obhut. Eine Inobhutnahme von N. durch das Jugendamt erfolgte nicht. In der Folge wurden die Brüder gemeinsam zunächst nach Z., dann in die N. Aufnahmeeinrichtungen in der T. straße und in der B. Straße verlegt. Der für N. am 22. März 2016 bestellte Amtsvormund (Jugendamt der Klägerin) stellte am 4. April 2016 einen Antrag auf Leistungen nach § 13 Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) mit dem Ziel seiner Übernahme in das „Projekt R. straße“ und am 5. April 2016 einen Asylantrag.
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Im Rahmen der sozialpädagogischen Diagnostik vom 13. April 2016, deren Grundlage u.a. ein Dolmetschergespräch mit beiden Brüdern bildete, wird aufgeführt, dass die Geschwister N. und Na. über WhatsApp den Kontakt zu ihrer Familie in Saudi-Arabien aufrechterhalten würden. Weiter lebe ein Onkel mütterlicherseits in Nü. in der Nähe der R. straße, bei dem sie sich vermehrt aufhalten würden. Der Onkel sei für sie eine Vertrauensperson, dem sie die Aufbewahrung ihrer Dokumente übertragen hätten. Reisepass und Ausweis befänden sich jedoch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Inwieweit der Onkel in der Lage sei, die Geschwister zu fördern und zu unterstützen, sei noch nicht abschließend geprüft; er habe sich bislang nicht um eine weiterführende Betreuung bemüht. Das Projekt in der R. straße erscheine als geeignete und notwendige Maßnahme als Hilfe zur Erziehung für die beiden Brüder. Ziel sei es, mit den Jungen eine schulische und berufliche Perspektive zu entwickeln, damit sie sich langfristig in Deutschland integrieren und ein eigenständiges Leben führen könnten.
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In der Folge wurden die Geschwister am 27. April 2016 in die Unterkunft R. straße verlegt. Ab dem 3. Juni 2016 wurden N. Leistungen nach § 13 Abs. 1 SGB VIII (Jugendsozialarbeit, maximal 17 Fachleistungsstunden pro Monat) bewilligt. Die Hilfe sollte in Form der Betreuung durch das „Projekt R. straße, Ambulante Betreuung in der GU, Noris Arbeit (NOA) gGmbH“ erfolgen. Mit weiterem Antrag vom 13. Juli 2016 wurden seitens des Amtsvormunds Jugendhilfeleistungen nach § 13 Abs. 2 SGB VIII beantragt und in der Folge wohl auch gewährt. Hierzu finden sich in den Akten keine näheren Informationen.
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An einem Gespräch zur Überprüfung bzw. Fortschreibung des Hilfeplans nahm am 24. Oktober 2016 neben N. wiederum auch dessen Bruder Na. teil. Na. war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Gemeinschaftsunterkunft R. straße ausgezogen. Im Zuge des Hilfeplangespräch gab N. u.a. an, dass er fast täglich mit seinem Bruder gemeinsam essen würde, entweder in der Gemeinschaftsunterkunft oder in der neuen Wohnung des Bruders, die etwa 300m entfernt liege. Im Hinblick auf das Erreichen des Volljährigkeitsalters im Februar 2017 gab N. an, dass er im Falle einer Asylanerkennung wie sein Bruder in der Nähe der bisherigen Einrichtung eine Wohnung beziehen möchte. Die Unterstützung durch die Einrichtung und die HEAD-Konzeption habe er sehr zu schätzen gelernt. Am 8. Februar 2017 beantragte N. die Weiterführung der bisherigen Hilfen nach § 13 Abs. 1, Abs. 2 SGB VIII, die ihm von der Klägerin mit Bescheid vom 9. März 2017 ab dem 10. Februar 2017 als Hilfe für junge Volljährige auch gewährt wurde. Bei der folgenden Fortschreibung des Hilfeplans am 22. Mai 2017, an der erneut der Bruder von N. teilnahm, erklärte N., dass er seinen Bruder weiterhin täglich sehe, dass sie häufig im Appartement des Bruders kochen würden und Kontakt zu einem Onkel halten würden. N. sei hierbei weiterhin mehr für das Zuarbeiten zuständig. Er habe viele Freunde aus der Berufsschule und der Gemeinschaftsunterkunft, dennoch bilde für ihn der familiäre Zusammenhalt mit seinem Bruder und seinem Onkel die wichtigste soziale Komponente.
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2. Mit Schreiben vom 31. März 2017 meldete die Klägerin den Fall von N. J. gemäß § 111 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 89d SGB VIII beim Bezirk Mittelfranken als „Bestandsfall Fallgruppe 2: Einreise umA bis 31.10.2015, 23:59 Uhr, Kostenentstehung ab 01.11.2015“ zur Kostenerstattung an. Gleichzeitig gab sie an, diesbezüglich auch in „Kostenerstattungsverhandlungen“ mit der Regierung von Mittelfranken hinsichtlich Art. 7, 8 AufnG zu stehen. Der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals amtlich festgestellt worden sei, sei der 21. September 2015 durch die Aufnahmeeinrichtung Sch.. Es werde versichert, dass es sich um ein Verfahren nach § 89d SGB VIII handle. Eine Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII habe bei N. stattgefunden. Die Anmeldung zur Kostenerstattung ergehe aufgrund der im „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ getroffenen Neuregelung der Pflicht zur Kostenerstattung ab 1. November 2015. Mit weiterem Schreiben an den Bezirk Mittelfranken vom 17. Oktober 2017 führte die Klägerin aus, dass die Kostenerstattungsverhandlungen mit der Regierung von Mittelfranken ergeben hätten, dass sie sich der allgemeinen Meinung zur Anwendung der sog. „Punktuation“ für die ab dem 1. Juni 2015 eingereisten unbegleiteten Minderjährigen anschließe. Demnach werde der Vorrang von § 89d SGB VIII, wie seitens des BMFSFJ sowie des StMAS bzw. der von diesen eingesetzten Arbeitsgruppe am ZBFS zum Anwendungsvorrang des § 89d SGB VIII ab 1. April 2016 umgesetzt. Im Zeitraum zwischen dem 3. Juni 2016 und dem 31. Juli 2017 seien für N. Gesamtaufwendungen in Höhe von 26.102,12 € entstanden. Die gewährte Jugendhilfe dauere an; sie werde seit dem 10. Februar 2017 als Hilfe für junge Volljährige weitergeführt. Im Folgeschreiben an den Bezirk Mittelfranken vom 29. November 2018 machte die Klägerin nach § 89d Abs. 1 SGB VIII weitere Jugendhilfeaufwendungen für den Zeitraum zwischen dem 24. August 2016 und dem 13. Juni 2017 in Höhe von 18.002,16 € geltend.
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Nach weiterem Schriftwechsel lehnte der Bezirk Mittelfranken mit Schreiben vom 20. August 2019 die Erstattung der Jugendhilfekosten für N. J. ab. Es liege kein Fall des § 89d SGB VIII vor. Diese Erstattungsnorm scheide wegen der verstrichenen Monatsfrist zwischen Kenntnis und Beginn der Jugendhilfe aus. Weiterhin liege auch kein Anwendungsfall der „Punktuation“ vor, da hier auch ein gewisser zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang zwischen Einreise und Hilfebeginn vorhanden sein müsse. Außerdem stelle die „Punktuation“ auf Hilfefälle ab, die innerhalb eines Monats nach der Einreise rechtswidrig nicht in Obhut genommen worden seien. Dieser Tatbestand liege nicht vor; es scheine bei N. eher keine Notwendigkeit für eine Inobhutnahme vorgelegen zu haben. Da sich im vorliegenden Fall die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 7 SGB VIII nach dem tatsächlichen Aufenthalt bzw. der Zuweisungsentscheidung richte, wäre grundsätzlich Kostenerstattung nach § 89 SGB VIII möglich. Vorrangig wäre allerdings für die Zeit bis zum Abschluss des Asylverfahrens (bis Februar 2017) die Erstattung nach Art. 7, 8 AufnG über die Regierung von Mittelfranken zu prüfen gewesen.
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3. Mit Schreiben vom 5. September 2016 an die Regierung von Mittelfranken meldete die Klägerin in Listenform die Jugendhilfekosten für N. J. im Rahmen der „Quartalsabrechnung, Kostenerstattung nach Art. 7 und Art. 8 AufnG für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (4. Quartal 2016)“ beim Beklagten zur Kostenerstattung an, ergänzt um eine Nachberechnung vom 13. Februar 2017. Mit weiterem Schreiben vom 26. April 2017 an die Regierung von Mittelfranken erfolgte die Kostenerstattungsanmeldung für das 1. Quartal 2017. In einer „überarbeiteten Fassung der bereits eingereichten Quartalsaufstellung zur Fristwahrung vom 27.1.2017 und des Antrags vom 13.2.2017 betreffend den Abrechnungszeitraum vom 1. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2016“ wurde erneut N. J. angegeben. Die beigefügte tabellarische Aufstellung enthält den Vermerk „begleitete Einreise mit Bruder“. Eine nochmals überarbeitete Abrechnung des 4. Quartals 2016 übermittelte die Klägerin der Regierung von Mittelfranken mit Schreiben vom 27. November 2017. Die Abrechnungsfälle seien nach „Anerkennung der Punktuation“ durch das Jugendamt der Klägerin erneut geprüft worden. Fälle, in denen die Ersteinreise ab dem 1. Juni 2015 erfolgt sei und in denen aufgrund der „Punktuation“ der Vorrang der Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII greife, seien aus der überarbeiteten Abrechnung nach dem Aufnahmegesetz (AufnG) herausgenommen worden. Lediglich „Punktuationsfälle“, in denen für die im abzurechnenden Quartal Auszahlungen durch das Jugendamt erfolgt seien, eine Kostenerstattung nach § 89d durch den Bezirk Mittelfranken infolge eingetretener Verjährung nicht mehr möglich sei, würden in dieser Abrechnung gesondert aufgeführt und abgerechnet. Insoweit sei im Rahmen einer Besprechung durch den Sachgebietsleiter Herrn B. der Regierung von Mittelfranken die Kostenerstattung zugesichert worden. In der diesem Schreiben beigefügten Liste sind Jugendhilfekosten für N. J. nicht mehr aufgeführt.
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4. Die auf Erstattung der für N. J. im Zeitraum zwischen dem 3. Juni 2016 und 9. Februar 2017 von der Klägerin nach § 13 SGB VIII erbrachten Jugendhilfekosten in Höhe von 14.462,02 € am 19. Dezember 2019 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2020 als unbegründet ab.
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Die zulässige, auf Art. 7, 8 AufnG gestützte Leistungsklage erweise sich als unbegründet. Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG sei der Freistaat Bayern den Jugendhilfeträgern erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen im Sinne von Art. 1 AufnG Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch besäßen. Nach Art. 1 AufnG gelte dieses für die Aufnahme, Unterbringung und landesinterne Verteilung von Ausländern, die nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) leistungsberechtigt seien. Im vorliegend maßgeblichen Zeitraum sei der am 10. Februar 1999 geborene Hilfeempfänger N. J zwar minderjährig, aber nicht unbegleitet gewesen. Der Umstand, dass N. von seinem volljährigen Bruder begleitet worden sei, Kontakt zu den Eltern über WhatsApp bestanden habe und in N. ein Onkel mütterlicherseits der Brüder lebe, reiche als Indiz dafür aus, dass eine Übertragung der Erziehungsberechtigung auf den älteren Bruder stattgefunden habe. Zwar lasse sich die Personensorge im Sinne von § 1626 Abs. 1 BGB nicht übertragen. Jedoch könne der oder die Personensorgeberechtigten eine Vereinbarung über die Erziehungsberechtigung abschließen, die keiner besonderen Form bedürfe, vielmehr auch durch stillschweigendes oder schlüssiges Handeln möglich sei. Eine derartige Konstellation liege im vorliegenden Fall vor. In Analogie zu § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bilde bereits die Verwandtschaft des Hilfeempfängers mit seinem volljährigen Bruder ein Indiz für die Übertragung der Erziehungsberechtigung auf diesen. Diese Indizwirkung werde im vorliegenden Fall noch dadurch verstärkt, dass die Brüder über WhatsApp Kontakt zu ihren in Saudi-Arabien befindlichen Eltern tatsächlich aufrechterhalten hätten und dass in N. ein Onkel mütterlicherseits lebe, der im Hilfeplan des Jugendamts vom 13. April 2016 als „Vertrauensperson“ bezeichnet werde, bei dem sie sich vermehrt aufgehalten und dem sie ihre Dokumente zur Aufbewahrung übergeben hätten. Nach der Überzeugung der Kammer hätten daher die Personensorgeberechtigten des Hilfeempfängers die Erziehungsberechtigung zur Reise in die Nähe des Onkels mütterlicherseits auf den volljährigen Bruder des Hilfeempfängers übertragen. N. J. sei daher weder bei der Einreise unbegleitet gewesen, noch sei er dies im vorliegend maßgeblichen Zeitraum geworden. Dabei sei allerdings darauf hinzuweisen, dass der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 AufnG von unbegleiteten Minderjährigen, nicht hingegen von unbegleitet eingereisten Minderjährigen spreche. Lediglich § 89d SGB VIII erfordere einen Zusammenhang zwischen der Jugendhilfegewährung und der Einreise des jungen Menschen.
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Ohne dass es im vorliegenden Fall darauf ankäme, sei ferner darauf hingewiesen, dass die Klage auf Kostenerstattung für das 4. Quartal 2016 und das 1. Quartal 2017 auch deshalb keinen Erfolg gehabt hätte, weil die Klägerin mit Schriftsätzen vom 27. November 2017 und 5. Dezember 2017 der Regierung von Mittelfranken schriftlich mitgeteilt habe, dass nach Anerkennung der sog. „Punktuation“ die Erstattungsfälle durch das Jugendamt erneut geprüft worden seien und Fälle, in denen sich ein Vorrang der Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII ergeben hätte, aus der überarbeiteten Abrechnung betreffend Kostenerstattung nach dem Aufnahmegesetz herausgenommen worden seien. N. J. sei in den entsprechenden Auflistungen nicht mehr enthalten gewesen. Aus Sicht der Kammer könnten die Schreiben vom 17. November 2017 und 5. Dezember 2017 daher dahingehend interpretiert werden, dass eine explizite Rücknahme der Erstattungsforderung erfolgt sei.
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Die Klage sei daher abzuweisen gewesen. Aufgrund zahlreicher anhängiger Rechtsstreitigkeiten, die dieselbe Problematik beinhalteten, sei weiterhin nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO die Berufung zuzulassen gewesen.
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5. Mit der am 7. September 2020 eingelegten und mit Schriftsatz vom 4. November 2020 begründeten Berufung trägt die Klägerin vor, dass ihr entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7, 8 AufnG zustehe. Während des streitgegenständlichen Zeitraums der Jugendhilfegewährung sei N. J. als unbegleitet anzusehen gewesen. Dabei bestünden bereits Zweifel, ob sein volljähriger Bruder überhaupt jemals als Erziehungsberechtigter anzusehen gewesen sei. Spätestens durch das „Zurücklassen in der Einrichtung“ sei N. jedoch zum unbegleiteten Flüchtling geworden.
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Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass allein der Umstand, dass der Hilfeempfänger von seinem volljährigen Bruder begleitet worden sei, Kontakt mit den Eltern über WhatsApp bestanden habe und in N. ein Onkel mütterlicherseits lebe, ein ausreichendes Indiz dafür bilde, dass die Erziehungsberechtigung auf den älteren Bruder übertragen worden sei, könne nicht geteilt werden. Denn es könne nicht allein auf das Vorhandensein von Kontakten ankommen, sondern es müsse auch die Qualität dieser Kontakte - der Begleitung - berücksichtigt werden. Zwar mag es im vorliegenden Fall dem Wunsch und der Vorstellung der Eltern von N. entsprochen haben, dass sich der ältere Bruder um den jüngeren kümmere. Tatsächlich sei diese Übertragung aber ins Leere gelaufen, da der ältere Bruder nicht in der Lage gewesen sei, als Erziehungsberechtigter zu handeln. Ebenso habe sich der Onkel nicht hinreichend um N. gekümmert. Dies gehe aus den Jugendhilfeakten der Klägerin hervor. Darin heiße es beispielsweise, dass sowohl N. wie sein Bruder in die R. straße umzögen. Bei der R. straße handle es sich zwar abrechnungstechnisch um eine „normale“ Gemeinschaftsunterkunft. Tatsächlich seien dort jedoch in eher kleinem Rahmen junge Erwachsene untergebracht worden, denen Fachleistungsstunden in Form von Jugendsozialarbeit nach § 13 Abs. 1 SGB VIII gewährt worden seien. Übernommen habe die Betreuung in dieser Gemeinschaftsunterkunft die N. gGmbH Nü.. Die „Erziehungsbeistandschaft“ sei dabei so ausgestaltet gewesen, dass in den Morgen- und Abendstunden ein Betreuungssetting in der Unterkunft stattgefunden habe. Tagsüber seien die Bewohner beispielsweise in die Schule gegangen. In der R. straße hätte man im Normalfall auch nur volljährige Personen untergebracht. Davon seien jedoch im Einzelfall mit Genehmigung der Regierung von Mittelfranken Ausnahmen gemacht worden. So sei auch im vorliegenden Fall N. zusammen mit seinem volljährigen Bruder, für den Unterstützungsleistungen erforderlich waren, in der R. straße untergebracht worden, da man die Geschwister nicht habe trennen wollen. Schon allein die Tatsache, dass der Bruder von N. in der Gemeinschaftsunterkunft R. straße untergebracht gewesen sei und entsprechende Jugendhilfeleistungen erhalten habe, spreche dafür, dass es sich bei ihm nicht um einen Erziehungsberechtigten bzw. um eine zur Übernahme der Erziehungsberechtigung geeignete Person gehandelt habe. Daher sei N. als unbegleitet anzusehen.
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Jedenfalls ab dem 1. September 2016, dem Zeitpunkt als der volljährige Bruder N.s aus der Gemeinschaftsunterkunft ausgezogen sei, sei N. als unbegleitet anzusehen, da er allein zurückgelassen worden sei.
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Weiter fehle es im Hinblick auf den volljährigen Bruder N.s gemäß der Definition des Erziehungsberechtigten an der tatsächlichen Verantwortungsübernahme. Der volljährige Bruder N.s sei schon „so sehr mit sich alleine beschäftigt“ gewesen, dass er sich nicht hinreichend um den jüngeren habe kümmern können. Verantwortung übernommen hätten für N. und seinen Bruder allein die Mitarbeiter von NOA und entsprechende Projektpaten. Auch der Onkel mütterlicherseits erfülle die Voraussetzungen nicht, da er nicht regelmäßig für N. Verantwortung übernommen habe.
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Weiter sei dem obiter dictum des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die „Rücknahme“ des Kostenerstattungsanspruchs nach Art. 7, 8 AufnG nicht zuzustimmen. Die Klägerin habe den Kostenerstattungsanspruch nicht ausdrücklich zurückgenommen. Dass der Fall J. sich nicht mehr in den Tabellen der Schreiben vom 27. November und 5. Dezember 2017 befinde, sei ein offenkundiges Versehen bzw. eine offenkundige Unrichtigkeit. Der Beklagte und die Klägerin hätten in ständigem Austausch bezüglich der Erstattungsfälle gestanden und es hätte auffallen müssen, dass auch dieser Fall weiter habe geltend gemacht werden sollen wie die vergleichbaren Fälle.
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Die Klägerin beantragt daher:
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Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die in der Zeit vom 3.6.2016 bis 9.2.2017 gemäß § 13 SGB VIII erbrachten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 14.462,02 € gemäß Art. 7, 8 AufnG zuzüglich Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz zu erstatten.
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6. Demgegenüber beantragt der Beklagte:
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Die Berufung wird zurückgewiesen.
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Hinsichtlich der beantragten Kostenerstattung für den Zeitraum 3. Juni 2016 bis 9. Februar 2017 habe der Beklagte weder über Grund noch Höhe des Anspruchs eine Entscheidung getroffen, da die Klägerin den Kostenerstattungsanspruch zurückgenommen habe.
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Das Verwaltungsgericht sei ferner zu Recht davon ausgegangen, dass der jugendliche Begünstigte weder bei der Einreise in die Bundesrepublik noch im Verlauf des maßgeblichen Zeitpunkts unbegleitet gewesen sei. Angesichts der Gesamtsituation sei von einer Übertragung der Erziehungsberechtigung auf den älteren Bruder des Hilfeempfängers durch die Eltern vor der Einreise nach Deutschland auszugehen, die auch nach der Einreise nicht aufgelöst worden sei. Die Klägerin überspanne insoweit die Anforderungen an das Vorliegen einer Erziehungsberechtigung. N. sei zusammen mit seinem Bruder in die Bundesrepublik eingereist. Beide seien in der Folgezeit zusammengeblieben und es habe Kontakt zur Familie bestanden. Der Bruder habe somit tatsächlich, nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrgenommen, wobei dies in Kenntnis und mit Billigung im Sinne eines Zulassens eines Personensorgeberechtigten geschehen sei. Die Einschätzung des Jugendamts der Klägerin, dass der ältere Bruder für die Übernahme der Erziehungsberechtigung ungeeignet sei, ändere nichts an der tatsächlichen Übertragung durch die Eltern. Im Übrigen blieben die Einschätzungen zur Ungeeignetheit nur spekulativ und vage. Insbesondere könne nicht aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Aussage in einem Hilfeplangespräch, der Bruder habe sich „besonders gekümmert, auf die fehlende Erziehungsberechtigung geschlossen werden. Der Bruder habe den Hilfeempfänger bei seinem Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft „R. straße“ auch nicht alleingelassen, da der Kontakt weiterhin bestanden habe.
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7. Auf Anfrage des Senats haben die Verfahrensbeteiligten mit Schriftsätzen vom 16. und 21. Dezember 2021 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Klägerin, über die der Senat nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) nicht zu.
26
Nach dieser Bestimmung ist der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch haben. Der junge Hilfebedürftige N., für den die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vom 3. Juni 2016 bis 9. Februar 2017 Jugendhilfeleistungen nach § 13 SGB VIII erbracht hat, war während dieses Zeitraums jedoch nicht unbegleitet. Vielmehr hat sich während dieses Zeitraums sein volljähriger Bruder Na. als Erziehungsberechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII im Bundesgebiet aufgehalten und für ihn tatsächlich die Verantwortung übernommen. Dem geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch fehlt es mithin an einer Tatbestandsvoraussetzung.
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1. Nach Art. 2 lit. e der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) ist ein minderjähriger Ausländer bzw. Flüchtling unbegleitet, wenn er „ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden“. Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) sind nach Jugendhilferecht im Falle der unbegleiteten Einreise nach Deutschland nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen, nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII hingegen endgültig in Obhut zu nehmen, wenn sie unbegleitet nach Deutschland kommen und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Pflicht zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII tritt auch dann ein, wenn der ursprünglich mit einem Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet eingereiste minderjährige Ausländer nach der Einreise allein im Bundesgebiet zurückgelassen wird.
28
Personensorgeberechtigte, deren Begleitung bzw. Aufenthalt im Inland zum Begleitetsein des Minderjährigen führen, sind nach der Legaldefinition in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB VIII diejenigen Personen, denen allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge für den Minderjährigen zusteht. Neben den Personensorgeberechtigten ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VIII weiterhin jede sonstige Person über 18 Jahren Erziehungsberechtigte, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dabei sind an die erforderliche Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten keine hohen Anforderungen zu stellen. Sie können auch konkludent durch stillschweigende Billigung zustande kommen (Wapler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 7 Rn. 14), setzen in diesem Fall aber voraus, dass die betroffene Person nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt und dies in Kenntnis und mit Billigung im Sinne des Zulassens eines Personensorgeberechtigten geschieht (vgl. hierzu etwa Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 43).
29
Die Erziehungsberechtigung erfordert mithin in jedem Fall die tatsächliche Verantwortungsübernahme einer volljährigen Person für den Minderjährigen (Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4), allerdings nicht nur begrenzt auf die Verrichtung erzieherischer Einzelaufgaben (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 42). Nicht zwingend erforderlich ist hingegen, dass der Minderjährige mit dem Erziehungsberechtigten in einem Haushalt lebt (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 46). Im Falle von minderjährigen Ausländern ist gegebenenfalls weiter zu fordern, dass zwischen dem erziehungsberechtigten Volljährigen und dem oder den Personensorgeberechtigten Kontakt, beispielsweise über Telefon oder soziale Medien (WhatsApp, etc,) besteht, sodass ein Austausch über die wesentlichen Entscheidungen für den Minderjährigen erfolgen kann (so etwa Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4; Kontakte über Telefon oder Internet erachtet hingegen Kirchhoff in jurisPK SGB VIII Stand 2.8.2022, § 42 Rn. 129 für nicht ausreichend). Reist ein minderjähriger Flüchtling mit einem dergestalt Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet ein bzw. hält sich ein solcher Erziehungsberechtigter im Bundesgebiet auf, ist der Minderjährige nicht unbegleitet.
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2. Im vorliegenden Fall ist der minderjährige N. J. entgegen der Auffassung der Klägerin weder unbegleitet ins Bundesgebiet eingereist (2.1) noch zu einem späteren Zeitpunkt unbegleitet zurückgelassen worden (2.2). Er wurde vielmehr seit der Einreise und auch während des vorliegend maßgeblichen Zeitraums bis zu seiner Volljährigkeit von dessen volljährigem Bruder Na. als Erziehungsberechtigten im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII begleitet. Entgegen ihres jetzigen Vorbringens ist auch die Klägerin im Zuge des Hilfeplanprozesses davon ausgegangen, dass N. von Na. als Erziehungsberechtigtem begleitet wird.
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2.1 Bereits aus den Umständen der Einreise von N. und Na. J. ins Bundesgebiet im September 2015 lässt sich auf das Vorliegen der Begleitung von N. durch Na. als Erziehungsberechtigten schließen. Insoweit erweist es sich als offensichtlich, dass die in einem Flüchtlingslager in Saudi-Arabien zurückbleibenden Eltern für den Weg auf der Balkanroute nach Europa den älteren volljährigen Bruder damit beauftragt haben, für den jüngeren minderjährigen N. die tatsächliche Verantwortung - und zwar nicht nur vorübergehend und für einzelne Verrichtungen - zu übernehmen. Ein gegen eine derartige konkludente Übertragung sprechender entgegenstehender Wille ist weder direkt noch über den sich in Deutschland aufhaltenden Onkel mütterlicherseits kommuniziert worden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass N. im September 2015 begleitet ins Bundesgebiet eingereist ist.
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Dies wird insbesondere untermauert durch die Bestätigung des Jugendamts Schweinfurt vom 29. September 2015, in der ausdrücklich festgestellt wurde, dass der volljährige Na. J. für N. die tatsächliche Verantwortung übernommen hat, er mithin im jugendhilferechtlichen Sinn „begleitet“ eingereist ist. Folglich hat das Jugendamt Schw. N. auch nicht nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. N. ist vielmehr zusammen mit seinem Bruder Na. asylrechtlich in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht worden. Auch die N. am 2. Oktober 2015 ausgestellte BÜMA weist auf das Vorliegen der Erziehungsberechtigung des volljährigen Bruders ausdrücklich hin. Bei den beiden letztgenannten Dokumenten handelt es sich im Übrigen um öffentliche Urkunden, denen nach § 418 Abs. 1 ZPO volle Beweiskraft hinsichtlich der darin bezeugten Tatsachen zukommt.
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Demgegenüber stellt die Klägerin allein die Fähigkeit von Na., für N. die Erziehungsberechtigung wahrzunehmen, in Frage. Insoweit erschließt es sich, wie der Beklagte zu Recht anmerkt, nicht, weshalb der Umstand, dass auch Na. in der Gemeinschaftsunterkunft im Rahmen des „Projekts R. straße“ nach § 13 Abs. 1 SGB VIII sozialpädagogische Hilfen angeboten wurden, dazu führen soll, dass er nicht in der Lage ist, zugleich für den jüngeren Bruder die tatsächliche Verantwortung zu übernehmen. Einen konkreten Sachvortrag hierzu, der die fehlende Eignung von Na. als Erziehungsberechtigter belegen würde, bleibt die Klägerin schuldig. Umgekehrt ergeben sich aus dem Hilfeplan für N. und den jeweiligen Hilfeplanfortschreibungen, dass Na. für N. der wesentliche soziale Anknüpfungspunkt darstellt, beide wenn möglich sich mindestens einmal am Tag treffen und der ältere Bruder für N. eine Vorbildfunktion einnimmt - beispielsweise beim Streben nach einer eigenen Wohnung außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft - eindeutige Hinweise darauf, dass Na. als der ältere Bruder für den jüngeren die tatsächliche Verantwortung übernommen hat.
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2.2 Entgegen der Auffassung der Klägerin hat Na. den jüngeren Bruder N. auch nicht durch seinen Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft „R. straße“ alleingelassen, ihn also „unbegleitet“ dort zurückgelassen. Wie bereits ausgeführt, erfordert die tatsächliche Verantwortungsübernahme als Erziehungsberechtigter nicht das Zusammenleben in einem Haushalt. Wie sich aus dem Hilfeplan und den Hilfeplanfortschreibungen der Klägerin für N. ergibt, ist auch nach dem Auszug von Na. der enge Kontakt bestehen geblieben, zumal sich die Wohnung von Na. in räumlicher Nähe zur Gemeinschaftsunterkunft „R. straße“ befunden hat. Nach wie vor würden die Brüder einen engen Kontakt pflegen und häufig gemeinsam essen, wobei Na. insoweit eine „Führungsrolle“ zukommt und N. insoweit lediglich dem älteren Bruder „zuarbeitet“. Ein „Alleinlassen“ mit der Folge des nachträglichen Eintritts der „Unbegleitetheit“ liegt damit nicht vor.
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2.3 Hinzu kommt weiter, dass die Klägerin selbst den Bruder von N. zunächst als Erziehungsberechtigten angesehen hat. Na. war sowohl an der Aufstellung des Hilfeplans für N. wie auch bei den den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum betreffenden Hilfeplanfortschreibungen beteiligt, ohne dass sich entsprechende Hinweise darauf finden, dass er als Erziehungsberechtigter mangels Eignung nicht in Betracht kommt oder er gar den Bruder „unbegleitet“ in der R. straße zurückgelassen hat. Schließlich führt die Klägerin selbst in der an die Regierung von Mittelfranken adressierten Auflistung vom 26. April 2017 N. J. nicht als „unbegleitet“, sondern als von seinem Bruder begleitet auf. Soweit die Klägerin nunmehr postuliert, bei N. handle es sich jedenfalls im streitgegenständlichen Zeitraum um einen „unbegleiteten“ minderjährigen Flüchtling, setzt sie sich damit zu ihrem eigenen vorherigen Verhalten in Widerspruch. Wäre N.s Bruder - wie nunmehr vorgetragen - tatsächlich als Erziehungsberechtigter ungeeignet gewesen, hätte die Klägerin N. zwingend in Obhut nehmen müssen, was sie indes unterlassen hat. Die Frage der „Begleitetheit“ kann im Nachhinein nicht kostenerstattungsrechtlich anders als zuvor materiell jugendhilferechtlich beantwortet werden.
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N. J. war demzufolge während ihm von der Klägerin Jugendhilfeleistungen nach § 13 Abs. 1, Abs. 2 SGB VIII gewährt wurden, nicht als unbegleitet anzusehen. Demzufolge kommt der Klägerin ein Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht zu. Die vorliegende Klage war daher als unbegründet abzuweisen.
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2.4 Die weitere Frage, ob die Klägerin im Zuge des Schriftwechsels mit der Regierung von Mittelfranken auf den Kostenerstattungsanspruch ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat, bedarf daher keiner Erörterung.
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3. Der Beklagte trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit bestimmt sich nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 704, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO. Der Streitwert bemisst sich in beiden Rechtszügen nach § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
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4. Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.