Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.09.2022 – 10 C 22.1648
Titel:

Erfolgreiche PKH-Beschwerde in aufenthaltsrechtlicher Streitigkeit 

Normenketten:
VwGO § 146, § 166
ZPO § 114
AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1, § 51 Abs. 1 Nr. 5
RL 2008/115 Art. 1, Art. 6
Leitsatz:
Wird eine Ausweisung mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden, ohne dass auch eine Abschiebungsandrohung erlassen wird, ist offen, ob damit ein mit der Rückführungsrichtlinie unvereinbarer Zwischenstatus geschaffen wird.  (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Prozesskostenhilfe, Inlandsbezogene Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Syrischer Staatsbürger, Abschiebungsverbot, Syrien, Ausweisung, fehlende Abschiebungsandrohung, Befristung, Zwischenstatus
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 27.06.2022 – Au 1 K 22.413
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27349

Tenor

Dem Kläger wird in Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 27. Juni 2022 - unter Beiordnung von Rechtsanwalt K. M1., G. B. Weg 1, 8... M2. − Prozesskostenhilfe bewilligt.

Gründe

1
Der Kläger, ein syrischer Staatsangehöriger, zu dessen Gunsten ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt wurde, wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 27. Juni 2022, mit dem dieses seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe − unter Beiordnung des Bevollmächtigten − für eine Klage gegen die ihm gegenüber erlassene Ausweisung sowie gegen das ebenfalls verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von sieben Jahren abgelehnt hat.
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1. Die zulässige Beschwerde ist begründet, weil die Erfolgsaussichten der Klage nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO zum maßgeblichen Zeitpunkt als offen anzusehen sind.
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a) Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dies ist der Fall, wenn der vorgetragene Rechtsstandpunkt der um Prozesskostenhilfe nachsuchenden Partei bei summarischer Prüfung wenigstens vertretbar erscheint und die Möglichkeit der Beweisführung besteht (vgl. Reichling in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 45. Aufl., Stand: 1.7.2022, § 114 Rn. 28 m.w.N.).
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Hinsichtlich der Prüfung der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Diese soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren soll den Rechtsschutz, den das Rechtsstaatsgebot fordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfG, B.v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 u.a. - BVerfGE 81, 347 <357> = juris Rn. 26). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist (vgl. BayVGH, B.v. 27.5.2019 - 10 C 19.315 - juris Rn. 6 m.w.N.).
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b) Gemessen daran ist im vorliegenden Fall Prozesskostenhilfe in vollem Umfang zu bewilligen.
6
Unabhängig davon, ob das Beschwerdevorbringen der Klägerseite hinsichtlich der Gefahrenprognose, der geltend gemachten Bleibeinteressen sowie der Abwägung der widerstreitenden Interessen durchgreift, sind zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (vgl. VG Augsburg, Gerichtsakte, Bl. 16) die Erfolgsaussichten der Klage insgesamt als offen beurteilen.
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Vor dem Hintergrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 3. Juni 2021 in dem Verfahren BZ gegen W. sowie angesichts des Vorabersuchens vom 5. November 2021 in dem Verfahren Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erscheint es möglich, dass die für die sogenannte inlandsbezogene Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot herangezogenen nationalen Rechtsgrundlagen in der vorliegenden Konstellation nicht im Einklang mit Art. 1 und Art. 3 Nr. 6 sowie Art. 5, 6, 8 und 9 der RL 2008/115/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (vgl. ABl. EU, Nr. L 348, S. 98 ff., im Folgenden: RL 2008/115/EG) stehen und aufgrund des Anwendungsvorrangs des sekundären Unionsrechts hier unanwendbar sind, mit der Folge, dass die darauf gestützten angegriffenen Verfügungen materiell rechtswidrig sind (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 − C-546/19 - juris Rn. 57; ÖsterrVGH, VorabE.v. 5.11.2021 - 663/21 - juris 2. Rechtsfrage).
8
So definiert Art. 3 Nr. 6 der RL 2008/115/EG „Einreiseverbot“ als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Das in Nr. 2 des streitbefangenen Bescheides der Beklagten gegenüber dem Kläger verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot beruht gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf der in Nr. 1 des vorgenannten Bescheides erlassenen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG titelvernichtenden Ausweisung, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Rückkehrentscheidung im Sinne der RL 2008/115/EG darstellt (vgl. BVerwG, B.v. 9.5.2019 - 1 C 14.19 - juris Rn. 30 u. 32). Eine Abschiebungsandrohung, mithin eine Rückkehrentscheidung, enthält der streitbefangene Bescheid nicht. Allerdings bestimmt Art. 6 Abs. 1 der RL 2008/115/EG, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den dortigen Absätzen 2 bis 5 gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen.
9
Der EuGH hat in dem Urteil BZ gegen W. entschieden, dass es Art. 1 und Art. 6 der RL 2008/115 zuwiderliefe, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestünde (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 − C-546/19 - juris Rn. 57). Im Schrifttum wird daher die Unionsrechtskonformität der durch die inlandsbezogene Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot geschaffenen Situation angezweifelt (vgl. Bauer/Hoppe in NVwZ 2021, 1210 <1211>: „nicht kompatibel“; Dörig in ZAR 2022, 244 <245>: „unionsrechtlich unzulässig“; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK, Ausländerrecht, AufenthG, § 53 Rn. 6 ff., insbesondere Rn. 6: „Spannungsverhältnis“). Des Weiteren ist auf das derzeit bei dem EuGH anhängige Vorabenscheidungsersuchen in dem Verfahren Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu verweisen (vgl. ÖsterrVGH, VorabE.v. 5.11.2021 - 663/21 - juris 2. Rechtsfrage).
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Dementsprechend sind die Erfolgsaussichten der Klage gegen das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot jedenfalls als offen anzusehen. Gleiches gilt nach Auffassung des Senats auch in Bezug auf die erlassene Ausweisung. Zwar kann der Umstand, dass die Ausweisung nicht mit einer Abschiebungsandrohung und damit einer Rückkehrentscheidung verknüpft wurde, für sich genommen nicht ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führen, weil letztere von den Regelungen der RL 2008/115/EG - anders als das Einreise- und Aufenthaltsverbot (s.o.) - unmittelbar nicht erfasst wird. Allerdings könnte es, wie erörtert, sein, dass beide Rechtsakte zusammen zu einem unionsrechtswidrigen „Zwischenstatus“ führen. Die Frage der daraus folgenden Auswirkungen auf die Ausweisung in einer Konstellation wie der vorliegenden ist, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung noch nicht geklärt (vgl. BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 42: „dahinstehen“). Nach alledem ist in vollem Umfang Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
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c) Da die Vertretung des Klägers durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint, ist diesem auch nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO sein Bevollmächtigter beizuordnen.
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2. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet, Gerichtsgebühren fallen nicht an.
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3. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.