VG Augsburg, Urteil v. 21.02.2022 – Au 9 K 20.31186
Titel:

Widerruf der Flüchtlingsanerkennung - Nigeria 

Normenketten:
AsylG § 73
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Die Flüchtlingsanerkennung ist wegen veränderter Umstände zu widerrufen, wenn einer Asylsuchenden keine Zwangsheirat in Nigeria mehr droht, weil sie mittlerweile in einer festen Beziehung lebt und zwei Kinder hat.  (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Nigeria besteht die Möglichkeit, einer Verfolgung durch Umzug in andere Landesteile auszuweichen, da weder ein nationales Meldewesen noch ein polizeiliches Fahndungssystem besteht. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine nach Nigeria zurückkehrende Person kann ihre Grundbedürfnisse durch selbständige Arbeit sichern. Bei einer Niederlassung in den urbanen Zentren und Metropolen im südlichen Nigeria ist eine Sicherung der Existenz auch für Familien mit Kleinkindern und ohne unterstützende Familienstruktur anzunehmen. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, inländische Fluchtalternative, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Zwangsheirat
Fundstelle:
BeckRS 2022, 26128

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage Rechtsschutz hinsichtlich einer die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufenden Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
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Die persönliche Anhörung der Klägerin beim Bundesamt erfolgte am 26. Oktober 2016.
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Mit Bescheid vom 5. Juli 2017 wurde der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass die Furcht der Klägerin vor Verfolgung begründet sei.
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Mit Schreiben vom 28. April 2020 teilte das Bundesamt der Klägerin mit, dass bezüglicher ihrer asylrechtlichen Begünstigung ein Widerrufsverfahren gem. § 73 AsylG eingeleitet worden sei, weil sich die Sachlache entscheidungserheblich geändert habe. Es sei davon auszugehen, dass der Lebensgefährte der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria den Lebensunterhalt der Familie durch seine Arbeitskraft sicherstellen werde. Es sei daher beabsichtigt, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen. Im Übrigen sei festzustellen, dass kein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen sei und auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorlägen. Die Klägerin erhalte Gelegenheit, sich hierzu innerhalb eines Monats schriftlich zu äußern. Mit Schreiben vom 23. Juni 2020 führte der Bevollmächtigte der Klägerin hierzu aus, dass der beabsichtigte Widerruf rechtswidrig sei. Die Klägerin sei Christin und habe zwei Kinder mit einem muslimischen Mann, mit dem sie nicht verheiratet sei. Aus diesem Grund würde das Paar und die Kinder in der nigerianischen Gesellschaft verfolgt werden. Der Vater der Kinder würde weder von muslimischen noch von christlichen Arbeitgebern angestellt werden.
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Mit Bescheid vom 30. Juli 2020 widerrief die Beklagte die mit Bescheid vom 5. Juli 2017 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft, lehnte die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Hiergegen ließ die Klägerin mit Schriftsatz vom 12. August 2020 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erheben und beantragt,
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1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juli 2020 wird aufgehoben.
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2. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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3. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin und ihr Lebensgefährte in wilder Ehe und einer gemischtreligiösen Beziehung lebten, sodass sie von der nigerianischen Gesellschaft verachtet würden. Der Klägerin drohe im Fall der Rückkehr auch eine mögliche Rache durch ihre eigene Familie, weil sie sich vor ihrer Ausreise aus Nigeria gegen die angedachte Zwangsheirat aufgelehnt habe.
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Die Beklagte legte die elektronische Behördenakte vor, äußerte sich im Übrigen jedoch nicht zum Verfahren.
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Mit Beschluss vom 11. Januar 2022 wurde der Rechtsstreit der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
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Am 21. Februar 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung wird auf das hierüber gefertigte Protokoll Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Über die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folge des Ausbleibens gem. § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen worden ist.
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Der Bescheid ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO), da der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht rechtswidrig ist und für die Klägerin keiner der geltend gemachten Ansprüche besteht.
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I. Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin ist zum ent scheidungserheblichen Zeitpunkt rechtmäßig.
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1. Die Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft richtet sich nach § 73 AsylG i.V.m. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) RL 2011/95/EU.
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2. Der Widerruf ist formell rechtmäßig. Verletzungen zwingender Verfahrensvor schriften des § 73 AsylG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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3. Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist materiell rechtmä ßig.
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a) Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigen schaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gem. § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG gilt dies nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
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Dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen eines Wegfalls der Umstände nicht mehr vorliegen setzt in unionsrechtskonformer Auslegung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) RL 2011/95/EU voraus, dass die Ursachen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, durch eine gem. Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU erhebliche (1) und nicht nur vorübergehende (2) Änderung der Umstände beseitigt worden sind, mit der Folge, dass die Furcht vor einer Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (EuGH, U.v. 2.3.2010 - C-175/08, C-176/08, C-178/08, C179/08 - juris Rn. 72; BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 19). Der Nachweis, dass der Ausländer nicht länger Flüchtling ist oder nie gewesen ist, obliegt unbeschadet der gesteigerten Mitwirkungspflicht des Ausländers dem Mitgliedstaat und damit dem Bundesamt (Fleuß in BeckOK AuslR, Stand 1.7.2021, AsylG, § 73 Rn. 11).
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(1) Eine erhebliche Veränderung liegt vor, wenn sich die tatsächlichen Verhält nisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben, sodass sich bei einer vergleichenden Betrachtung der Sachlage eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Gefahrenprognose ergeben muss (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 20). Der unionsrechtlich an die Gefahrenprognose anzulegende Maßstab ist spiegelbildlich zum Anerkennungsverfahren einheitlich die Frage nach einer tatsächlichen Gefahr, das heißt die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung. Dabei erfolgt die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung in der Verfolgungsprognose im Rahmen einer qualifizierten Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen, insbesondere unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs und dessen Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 24 m.w.N.).
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(2) Eine derartige Veränderung ist dann nicht nur vorübergehend, wenn die Fak toren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, U.v. 2.3.2010 - C-175/08, C-176/08, C-178/08, C179/08 - juris Rn. 73).
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Es reicht demnach nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht; vielmehr ist erforderlich, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist und der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält.
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b) Nach diesen Maßstäben ist der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingsei genschaft rechtmäßig.
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Das Gericht folgt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen der Begründung im Bescheid und nimmt Bezug darauf (§ 77 Abs. 2 AsylG). Lediglich ergänzend ist auszuführen:
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Die zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters bestehende und für die Gefahrenprognose maßgebliche Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten und dem Vater ihrer beiden Kinder stellt eine den obigen Anforderungen entsprechende erhebliche und nachhaltige Umstandsänderung für die Beurteilung der der Klägerin drohenden Verfolgungsgefahr im Fall einer Rückkehr nach Nigeria dar (1). Diese Änderung steht auch in einem Kausalzusammenhang mit dem Wegfall der Schutzlosigkeit bzw. -bedürftigkeit hinsichtlich der für den Fall einer Rückkehr nach Nigeria geltend Gemachten Gefahren (2).
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(1) Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ist nach den Angaben der Kläge rin in der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2022 zur aktuellen Lebenssituation der Familie von einer festen familiären Beziehung und somit von einer hypothetisch gemeinsamen Rückkehr der Klägerin mit ihren Töchtern und ihrem Lebensgefährten auszugehen.
31
Bei der Rückkehrprognose ist von einer möglichst realitätsnahen Rückkehrsituation und damit bei tatsächlich bestehender Lebensgemeinschaft davon auszugehen, dass die Kernfamilie gemeinsam im Familienverbund in das Herkunftsland zurückkehren wird. Diese Annahme setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht und fortbesteht und somit die Prognose rechtfertigt, dass sie bei einer Rückkehr ins Herkunftsland fortgesetzt wird.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Nach den Angaben der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung besteht zur Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine tatsächliche familiäre Beziehung zwischen der Klägerin und ihrem Lebensgefährten. Die Familie lebt zusammen in einer Unterkunft und der Lebensgefährte der Klägerin hat die Vaterschaft für die gemeinsamen Kinder anerkannt und kümmert sich nach dem Vortrag der Klägerin auch um die Familie. Soweit die Klägerin angab, dass ihr Lebensgefährte Deutschland zwischenzeitlich verlassen habe, stellte der Bevollmächtigte der Klägerin klar, dass dies allein im Zusammenhang mit einer dem Lebensgefährten bereits angekündigten Abschiebung gestanden habe. Zu keinem Zeitpunkt habe der Lebensgefährte durch sein Untertauchen die Familie an sich verlassen wollen. Es ist daher zweifelsfrei von einem bestehenden familiären Verbundenheitsgefühl und einer damit verbundenen intakten Lebensgemeinschaft auszugehen, die für den Fall der Rückkehr nach Nigeria auch fortgesetzt werden würde. Nachdem die Klägerin und ihr Lebensgefährte - wie noch ausgeführt werden wird - auch nicht gezwungen sind, in ihren Heimatort und damit in den Einflussbereich ihrer Familien zurückzukehren, liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der langjährige Partner der Klägerin von seiner Familie trennen wird.
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(2) Die nunmehr bestehende familiäre Gemeinschaft wirkt sich auch kausal auf die Verfolgungsgefährdung für die Klägerin aus.
34
(aa) Aufgrund der veränderten Lebenssituation (feste Beziehung zum Le bensgefährten, zwei gemeinsame Kinder) der Klägerin ist schon nicht ersichtlich, inwieweit der Klägerin tatsächlich noch eine Zwangsheirat drohen sollte. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Vater der Klägerin unter Berücksichtigung dessen und der Tatsache, dass seit der Ausreise der Klägerin aus Nigeria mittlerweile mehr als sieben Jahre vergangen sind, noch ein Interesse an der Verheiratung seiner Tochter hat. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass sie seit ihrer Ausreise keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater gehabt hat. Auch zu ihrer Schwester hat sie seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr. Stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin daher im Fall der Rückkehr trotz ihrer veränderten Lebenssituation noch immer eine Zwangsheirat droht, wurden weder vorgetragen, noch sind solche ersichtlich.
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(bb) Jedenfalls führt die veränderte Lebenssituation der Klägerin aber dazu, dass bei einer gemeinsamen Rückkehr der Klägerin mit dem Kindsvater die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Inanspruchnahme einer internen Schutzalternative gem. § 3e AsylG besteht.
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Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
37
Bei einer Niederlassung der Klägerin gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und ihren beiden Kindern in Nigeria fernab der Verwandtschaft besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Gefahr durch die Familien der Erwachsenen oder die Schleuserin der Klägerin. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass in Nigeria grundsätzlich die Möglichkeit besteht, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Landesteil auszuweichen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, Stand: 5.12.2020, S. 17). In Nigeria besteht weder ein nationales Meldewesen, noch ein funktionierendes nationales polizeiliches Fahndungssystem. Dementsprechend sind einmal untergetauchte Personen kaum mehr ausfindig zu machen. Mangels Meldeämter dürfte es dabei auch in den allermeisten Fällen gelingen, bereits in der näheren Umgebung des Herkunftsorts unterzutauchen (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 3.9.2021, S. 52). Es ist daher davon auszugehen, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr nach Nigeria durch einen Umzug weder von ihrer Familie, noch von der Schleuserin ausfindig gemacht werden könnte und so den befürchteten Gefahren zuverlässig entgehen kann.
38
Die Inanspruchnahme des internen Schutzes ist der Klägerin im Fall der Rückkehr im familiären Verbund auch gem. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zumutbar. Insbesondere kann von ihre vernünftigerweise erwartet werden, sich in einem anderen Ort niederzulassen. Bei der Zumutbarkeit sind in einer umfassenden wertenden Gesamtbetrachtung die allgemeinen sowie individuellen Verhältnisse am Ort der Niederlassung in den Blick zu nehmen. Dies betrifft insbesondere die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums. Maßstab für eine Zumutbarkeit ist, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu besorgen ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 - 1 C 4.20 - juris Rn. 27). Bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts durch den Asylbewerber ist die Kernfamilie bzw. eine intensive Form der Beistandsgemeinschaft einzubeziehen (vgl. Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2021, § 3e Rn. 56 m.w.N.). Abgesehen von einer fehlenden Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums kommt eine Unzumutbarkeit wegen der Vorenthaltung von Grund- und Menschenrechten bürgerlicher, politischer oder sozialer Natur nur dann in Betracht, wenn die Verletzung unabhängig vom Vorliegen eines Verfolgungsakteurs oder eines Verfolgungsgrundes die Intensität des § 3a Abs. 1 AsylG erreicht (BVerwG, U.v. 18.2.2021 - 1 C 4.20 - juris Rn. 30).
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Eine Verletzung des Art. 3 EMRK ist im Fall der anzunehmenden ge meinsamen Rückkehr zutreffender Weise nicht zu besorgen. Soweit der Bevollmächtigte der Klägerin insoweit geltend macht, dass die Familie aufgrund der gemischtreligiösen Beziehung der Erwachsenen in Nigeria verfolgt und wie Aussätzige behandelt werden würden, teilt das Gericht diese Befürchtungen nicht. Zwar ist die Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften und religiösen Gruppen auf lokaler Ebene und in der Bevölkerung Nigerias teilweise nur unzureichend ausgeprägt. Doch bildet die Volksgruppe der Yoruba im Südwesten Nigerias - denen die Klägerin angehört - insoweit eine Ausnahme. Unter dieser Volksgruppe sind Mischehen zwischen Moslems und Christen seit Generationen verbreitet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S. 12). Unter Berücksichtigung dessen ist davon auszugehen, dass die gemischtreligiöse Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten im Fall der Rückkehr in diese Region des Landes akzeptiert werden wird. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass die Klägerin nicht verheiratet ist. Insoweit liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten nicht anerkannt werden würde. Insoweit hat die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2022 auch nichts vorgetragen.
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Nachdem davon auszugehen ist, dass die familiäre Beziehung der Klägerin im Fall der Rückkehr nach Nigeria akzeptiert werden wird, ist davon auszugehen, dass es der Klägerin gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten möglich sein wird, jedenfalls das wirtschaftliche Existenzminimum der Familie zu erwirtschaften. Beide Erwachsene sind gesund und arbeitsfähig und in der Lage, durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit maßgeblich zur Sicherung des Lebensunterhalts der Familie beizutragen.
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II. Die Entscheidung des Bundesamts hinsichtlich der abgelehnten Zuerkennung des subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG ist im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt rechtlich nicht zu beanstanden.
42
Nach § 73 Abs. 3 AsylG ist beim Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes oder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
43
Vorliegend droht der Klägerin ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG besteht nach dem oben Gesagten jedenfalls die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes. Hinsichtlich weiterer Schadensgründe wird auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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III. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt liegen auch die Voraussetzungen für ein nationales Abschiebungsverbot nicht vor.
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1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht für die Klägerin nicht.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter- oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Voraussetzung für ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist, dass dem Betroffenen im Falle einer Abschiebung im Zielgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Es bedarf somit einer tatsächlichen Gefahr. Eine solche kann auch von nichtstaatlichen Akteuren oder von den allgemeinen Lebensumständen ausgehen (vgl. Möller/Stiegeler in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 21 m.w.N.).
47
b) Daran gemessen ergibt sich für die Klägerin kein Abschiebungsverbot, ins besondere nicht aus den allgemeinen Lebensumständen in Nigeria.
48
Allgemein ist anzunehmen, dass eine nach Nigeria zurückkehrende Person - auch wenn sie keine Sicherheit in einem Familienverbund findet - sich ihre existenziellen Grundbedürfnisse durch selbständige Arbeit sichern kann (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, Stand 3.9.2021, S. 53-55). Trotz der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ist bei einer Niederlassung in den urbanen Zentren und Metropolen im südlichen Nigeria eine Sicherung der grundlegenden Existenzbedürfnisse auch für Familien mit versorgungsbedürftigen Kleinkindern und ohne unterstützende Familienstruktur vor Ort anzunehmen, insbesondere bei Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen bei freiwilliger Ausreise oder der Unterstützung von in Nigeria tätigen Hilfsorganisationen.
49
Die Klägerin und ihr Lebensgefährte sind jung und arbeitsfähig, sodass sie im Fall der Rückkehr nach Nigeria das Existenzminimum der Familie werden erwirtschaften können. Es ist ihnen zuzumuten eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und so den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Insoweit wird ergänzend auf den Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
50
An der Möglichkeit einer Sicherung der grundlegenden Existenzbedürfnisse ändern auch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie nichts. Für die Klägerin kommen keine außergewöhnlichen Einzelfallumstände in Betracht, die die Erwerbsfähigkeit mindern, den Unterhaltsbedarf wegen Bedarfs nach selbst zu finanzierender medizinischen Behandlung erhöhen oder sich sonst auf die Einschätzung zur Existenzsicherung in entscheidender Weise auswirken. Für die Klägerin besteht vergleichbar mit anderen Einwohnern Nigerias die allgemeine Gefahr einer Erkrankung mit Covid-19. Individuell gefahrerhöhende Umstände hinsichtlich einer Infektions- und Infektionsfolgengefährdung sind nicht vorgetragen.
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2. Es liegen auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
52
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erforderlich ist somit eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gem. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine solche Erkrankung der Klägerin wurde im Verfahren nicht vorgetragen.
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IV. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.