OLG München, Endurteil v. 19.01.2022 – 13 U 7646/21
Titel:

Dinglicher Arrest im Wirecard-Skandal

Normenketten:
ZPO § 916, § 917, § 923, § 924, § 927
BGB § 826
StPO § 111f, § 111h
Leitsätze:
1. Der Arrestschuldner, der den Ablauf der Frist des § 929 Abs. 2 ZPO geltend machen will, hat die Wahl, ob er nach § 927 ZPO (Aufhebung wegen veränderter Umstände) oder nach § 924 ZPO vorgehen will. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Arrestbeklagten fehlt nicht bereits deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für ein Vorgehen gegen den Arrest, weil die Monatsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO abgelaufen gewesen sei und die Arrestklägerin keine neuen Vollstreckungsmaßnahmen betrieben hat. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass der Arrestbeklagte als Vorstandsvorsitzender der W.AG  wissentlich das Unternehmen finanzkräftiger dargestellt hat, als es in Wirklichkeit war. Die Bezugnahme auf die staatsanwaltschaftliche Presseerklärung vom 22.7.2020 reicht zur Glaubhaftmachung des objektiven und des subjektiven Tatbestands des § 826 BGB aus. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch die Arrestpfändung ist von § 111 h Abs. 2 S. 1 StPO erfasst. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
dinglicher Arrest, Vollziehungsfrist, Aufhebungsantrag, Widerspruch, Arrestpfändung, Veräußerungsverbot, sittenwidrige Täuschung
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 29.09.2021 – 27 O 102/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25233

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 29.09.2021 (Az.: 27 O 102/21) wie folgt abgeändert:
1. Wegen einer Schadensersatzforderung der Antragstellerin in Höhe von 1.138.597,14 € gegen den Antragsgegner wird der dingliche Arrest in das gesamte Vermögen des Antragsgegners angeordnet.
2. Die Vollziehung des Arrests wird durch Hinterlegung eines Betrags in Höhe von 1.138.597,14 € gehemmt.
3. Der Arrestpfändungsbeschluss des Landgerichts München I vom 21.01.2021 (Az.: 27 O 102/21; Ziffer 2. dieses Beschlusses) wird aufgehoben. Der Antrag auf Erlass eines Pfändungsbeschlusses wird zurückgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 379.532,38 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
Von der Darstellung des Sach- und Streitstands wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1, 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO abgesehen.
II.
1
Die gemäß §§ 511, 513, 517, 519, 520 ZPO zulässige Berufung der Arrestklägerin ist teilweise begründet. Dem Antrag auf Anordnung des Arrestes war nach §§ 916, 917, 923 ZPO stattzugeben. Die Arrestklägerin hat Arrestanspruch und Arrestgrund ausreichend glaubhaft gemacht. Die Aufhebung des Arrestbefehls in Ziffer 1. des Beschlusses vom 21.01.2021 durch das LG München I in Ziffer 1. des Endurteils vom 29.09.2021 erfolgte zu Unrecht. Das Erstgericht hat jedoch zu Recht die Pfändung in Ziffer 2. des Beschlusses vom 21.01.2021 aufgehoben und den entsprechenden Antrag zurückgewiesen. Insoweit ist die Berufung der Arrestklägerin unbegründet.
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1. Die Rechtsbehelfe des Arrestbeklagten gegen den Arrestbefehl und den Arrestpfändungsbeschluss vom 21.01.2021 waren zulässig.
3
a) Gemäß § 924 Abs. 1 ZPO ist gegen einen durch Beschluss angeordneten Arrest der Widerspruch statthaft. Mit dem Widerspruch kann der Schuldner eine Überprüfung des Arrestbefehls dahingehend erreichen, ob er überhaupt hätte erlassen werden dürfen bzw. ob der Arrestbefehl aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Veränderungen nicht mehr gerechtfertigt ist (MüKo ZPO/Drescher, 6. Auflage, § 924 Rn. 2; Zöller/G. Vollkommer, ZPO, 34. Auflage, § 924 Rn. 1).
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Der Arrestschuldner, der den Ablauf der Frist des § 929 Abs. 2 ZPO geltend machen will, hat nach ganz herrschender Meinung, der sich der Senat anschließt, die Wahl, ob er nach § 927 ZPO (Aufhebung wegen veränderter Umstände) oder nach § 924 ZPO vorgehen will (Zöller/G. Vollkommer, a. a. O., § 924 Rn. 1 f.; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 18. Auflage, § 924 Rn. 2; MüKo ZPO/Drescher, a. a. O., § 924 Rn. 2).
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b) Entgegen der Auffassung der Arrestklägerin fehlt dem Arrestbeklagten nicht bereits deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für ein Vorgehen gegen den Arrest, weil die Monatsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO abgelaufen gewesen sei und die Arrestklägerin keine neuen Vollstreckungsmaßnahmen betrieben habe. Denn bei Fortbestand des Arrests besteht zumindest die Gefahr, dass weitere Vollstreckungsmaßnahmen auf diesen gestützt werden. Der Sonderfall, dass der Gläubiger auf seine Rechte aus dem Arrest einschließlich der Rechte aus der Kostenentscheidung verzichtet und Titel ausgehändigt hat (MüKo/Drescher, a. a. O., § 927 Rn. 11; vgl. auch OLG Frankfurt, NJW 1968, 2112, 2114), liegt hier nicht vor.
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c) Auch bezüglich der Pfändung geht das Landgericht München I zu Recht vom Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses aus, da zumindest der Rechtsschein einer wirksamen Pfändung besteht (vgl. Musielak/Voit/Huber, a. a. O., § 929 Rn. 7 für den Fall einer nach § 929 Abs. 2 ZPO unwirksamen Pfändung).
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2. Die Aufhebung des Arrestbefehls in Ziffer 1. des Beschlusses vom 21.01.2021 erfolgte zu Unrecht. Die Arrestklägerin hat Arrestanspruch und Arrestgrund gemäß § 916, 917, 923 ZPO ausreichend glaubhaft gemacht. Entgegen der Rechtsansicht des Landgerichts München I ist das Rechtsschutzbedürfnis der Arrestklägerin nicht entfallen. Über die innerhalb der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO beantragte Pfändung angeblicher Ansprüche gegen verschiedene Drittschuldner ist nämlich noch nicht abschließend entschieden worden.
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a) Der Arrestanspruch ergibt sich zumindest aus § 826 BGB.
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aa) Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass der Arrestbeklagte als Vorstandsvorsitzender der W.AG zusammen mit weiteren Vorständen und Mitarbeitern seit dem Jahr 2015 wissentlich das Unternehmen finanzkräftiger dargestellt hat, als es in Wirklichkeit war. Die Bezugnahme auf die staatsanwalt-schaftliche Presseerklärung insbesondere vom 22.07.2020 (ASt 1) reicht im vorliegenden Fall zur Glaubhaftmachung des objektiven und des subjektiven Tatbestands des § 826 BGB aus.
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bb) Der Arrestklägerin ist durch die systematische Falschinformation seitens des Antragsgegners der geltend gemachte Schaden entstanden. Dies ist zwischen den Parteien unstrittig. Dafür, dass die streitgegenständlichen Investitionen im Vertrauen auf den dargelegten Sachverhalt getätigt wurden bzw. dass die Arrestklägerin bei Kenntnis der wahren Umstände hiervon Abstand genommen hätte, spricht zudem bereits die Vermutung aufklärungrichtigen Verhaltens.
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b) Ein Arrestgrund liegt vor.
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aa) Der Arrestgrund wird durch das bisherige Verhalten des Arrestbeklagten indiziert. Es besteht regelmäßig ein Arrestgrund, wenn das dem Arrestanspruch zugrundeliegende Verhalten eine vorsätzliche strafbare Handlung darstellt, die sich gegen das Vermögen des Arrestgläubigers richtet (BGH, Beschluss vom 24.03.1983 - III ZR 116/82 -, juris Rn. 14, OLG München Beschluss vom 13.10.20216 - 15 W 1709/16 -, juris Rn. 5). Aufgrund der strafrechtlichen Ermittlungen ist eine vorsätzliche Straftat zu Lasten des Vermögens der Arrestklägerin hinreichend wahrscheinlich. Hat sich der Arrestbeklagte eines Vermögensdelikts zu Lasten der Arrestklägerin strafbar gemacht, ist die Annahme gerechtfertigt, der Arrestbeklagte werde sein rechtswidriges Verhalten fortsetzen und daher die Vollstreckung vereiteln oder erschweren (KG, Beschluss vom 07.01.2010 - 23 W 1/10 -, juris Rn. 4). Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass diese Prognose unrichtig sein könnte, sind vorliegend nicht gegeben.
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c) Entgegen der Rechtsansicht des Landgerichts München I ist das Rechtsschutzbedürfnis der Arrestklägerin nicht entfallen. Über die innerhalb der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO beantragte Pfändung angeblicher Ansprüche gegen verschiedene Drittschuldner ist nämlich noch nicht abschließend entschieden worden.
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aa) Auf den Widerspruch des Arrestbeklagten entscheidet das Gericht darüber, ob der Arrestbefehl nach dem Sach- und Streitstand bei Schluss der mündlichen Verhandlung sachlich gerechtfertigt ist, was bedeutet, dass alle Voraussetzungen für den Arrest erneut (ohne Bindung an die Beurteilung im Beschlussarrest) zu prüfen sind (Zöller/G. Vollkommer, a. a. O., § 925 Rn. 1).
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bb) Nach § 929 Abs. 2 ZPO ist die Vollziehung des Arrestbefehls unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem der Befehl verkündet oder der Partei, auf deren Gesuch er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Die Monatsfrist endet gemäß § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, 188 Abs. 2, 3 BGB; fällt das Fristende auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend gilt § 222 Abs. 2 ZPO (Musielak/Voit/Huber, a. a. O., § 929 Rn. 4).
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cc) Der Arrestbefehl vom 21.01.2021 wurde vorliegend der Arrestklägerin über deren Prozessbevollmächtigten am 21.01.2021 zugestellt.
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dd) Der Antrag vom 18.02.2021 auf Pfändung angeblicher Ansprüche gegen verschiedene Drittschuldner war an das Landgericht München I - Vollstreckungsgericht - gerichtet (Bl. 30 a/30 f d. A.). Bei diesem ging er am 22.02.2021 ein. Da der 21.02.2021 auf einen Sonntag fiel, ging der Antrag somit gemäß § 222 Abs. 2 ZPO beim zuständigen Vollstreckungsgericht innerhalb der Frist des § 929 Abs. 2 ZPO ein.
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ee) Der tatsächliche Bestand der zu pfändenden Forderungen ist in dem formalisierten Pfändungsverfahren nicht zu prüfen; gepfändet wird die „angebliche“ Forderung, die der Schuldner gegenüber dem Drittschuldner haben soll. Der Pfändungsbeschluss erlangt nur dann Wirkungen, wenn die Forderung des Schuldners an den Drittschuldner tatsächlich besteht (Zöller/Herget, a. a. O., § 829 Rn. 4).
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ff) Mit Beschluss des Landgerichts München I vom 25.03.2021 wurde der Antrag auf Erlass eines Pfändungsbeschlusses zurückgewiesen (Bl. 31/32 d. A.).
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gg) Gegen diesen Beschluss legte die Arrestklägerin mit Schriftsatz vom 08.04.2021, eingegangen beim LG München I per Fax am selben Tag, sofortige Beschwerde ein (Bl. 33/34 d. A.), über die noch nicht entschieden wurde.
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d) Da eine Bestätigung des vom Landgericht München I mit Endurteil vom 29.09.2021 zu Unrecht aufgehobenen Arrestes nicht mehr erfolgen kann (BeckOK ZPO/Mayer, 42. Ed. 01.09.2021, ZPO, § 925 Rn. 4, 6; OLG München, Beschluss vom 12.03.2013 - 34 Wx 54/13, BeckRS 2013, 6321) ist dieser erneut zu erlassen.
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3. Das Landgericht München I hat zu Recht die Pfändung in Ziffer 2. des Beschlusses vom 21.01.2021 aufgehoben und den entsprechenden Antrag zurückgewiesen. Die Berufung der Arrestklägerin ist insoweit unbegründet. Die Pfändung war nach § 111 h Abs. 2 Satz 1 StPO unzulässig.
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a) Nach § 111 h Abs. 2 Satz 1 StPO sind Zwangsvollstreckungen in Gegenstände, die im Wege der Arrestvollziehung nach § 111 f StPO gesichert worden sind, während der Dauer der Arrestvollziehung nicht zulässig.
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b) Der angebliche Kautionsrückzahlungsanspruch gegen den Freistaat Bayern, der in dem angefochtenen Beschluss vom 21.01.2021 in Ziffer 2. gepfändet wurde, war unstreitig bereits vor Erlass dieses Beschlusses von der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Arrestvollziehung nach § 111 f StPO gepfändet worden.
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c) Entgegen der Auffassung der Arrestklägerin ist auch die Arrestpfändung von § 111 h Abs. 2 Satz 1 StPO erfasst. Nach § 928 ZPO sind die Vorschriften über die Zwangsvollstreckung auf die Vollziehung des Arrestes zwar lediglich entsprechend anwendbar. Diese Einschränkung erklärt sich daraus, dass das Arrestverfahren wie auch das Verfahren der einstweiligen Verfügung lediglich dem vorläufigen Rechtsschutz dient und deshalb grundsätzlich nicht zur endgültigen Befriedigung des Gläubigers und damit zur Schaffung vollendeter Tatsachen führen darf (BeckOK ZPO/Mayer, a. a. O., § 928 Rn. 2; vgl. auch BGH, NJW 1993, 1076, 1077). Dies steht jedoch einer Anwendung von § 111 h Abs. 2 Satz 1 StPO vorliegend nicht entgegen. Denn der Zweck der Vorschrift, die Gleichbehandlung der Tatgeschädigten zu gewährleisten und darüber hinaus zu verhindern, dass durch Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen zwischen der Arrestvollziehung und der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Absonderungsrechte einzelner Gläubiger entstehen, die die Vermögensmasse zu Lasten der Verletzten schmälern würden (BD-Drs 18/9525, 78), greift für die Arrestvollziehung in gleicher Weise wie für die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.
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d) Der Pfändungsbeschluss war daher aufzuheben und der Antrag auf Erlass des Pfändungsbeschlusses zurückzuweisen.
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4. Die Abwendungsbefugnis basiert auf § 923 ZPO.
III.
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1. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92, 97 ZPO. Zu berücksichtigen war, dass die Arrestklägerin zwar mit ihrem Antrag auf Anordnung eines Arrestes gegen den Arrestbeklagten obsiegte, jedoch mit dem Antrag auf Pfändung der angeblichen Forderung des Arrestgegners auf Rückzahlung einer Kaution in Höhe von 5 Mio. € nebst Zinsen gegen den Freistaat Bayern unterlegen ist.
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Entgegen der Rechtsansicht des Arrestbeklagten waren die Kosten des Berufungsverfahrens nicht vollständig der Arrestklägerin aufzuerlegen. Der Pfändungsantrag der Arrestklägerin vom 18.02.2021 wurde bereits in erster Instanz gestellt und gelangte auch zu den Akten (Bl. 30 a/30 f d. A.). Es handelt sich somit nicht um ein neues Vorbringen im Sinne des § 97 Abs. 2 ZPO. Der Arrestbeklagte hätte bereits im erstinstanzlichen Verfahren von diesem Pfändungsantrag Kenntnis erlangen können, wenn er Akteneinsicht beantragt hätte. Dies hat der Arrestbeklagte nicht getan. Der Pfändungsantrag befand sich zudem bereits vor Eingang des mit Schriftsatz vom 09.04.2021 eingelegten Widerspruchs bei den Akten, auch hiervon hätte der Arrestbeklagte durch Akteneinsichtnahme Kenntnis erlangen können. § 269 Abs. 3 Satz 2 und 3 ZPO ist deshalb entgegen der Rechtsansicht des Arrestbeklagten nicht sinngemäß anzuwenden.
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2. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit erfolgt gemäß §§ 708 Nr. 10, 713, 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO.
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3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 53 Abs. 1 Nr. 1 GKG, § 3 ZPO bestimmt.
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4. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass ein etwaiger Widerspruch beim Landgericht München I einzulegen und zu verhandeln wäre (Thomas/Putzo-Seiler, ZPO, 42. Auflage, § 924 Rn. 2).