VG München, Beschluss v. 29.08.2022 – M 10 S7 22.50445
Titel:
Unionsrechtliche Zuständigkeit Spaniens für die Bearbeitung eines Asylantrags trotz psychischer Erkrankung des Antragstellers
Normenkette:
§ 34a Abs. 1 S. 1 AsylG
Leitsätze:
1. Es bestehen keine Anhaltspunkte für systemische Mängel in Spanien. (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ist grundsätzlich davon auszugehen, dass psychische Erkrankungen auch in Spanien behandelbar sind. Es ist Sache des Antragstellers mit ärztlichen Attesten substantiiert und nachvollziehbar auszuführen, weshalb aus medizinischer Sicht die stationär-psychiatrische Behandlung ausschließlich in Deutschland (und nicht etwa auch in Spanien) möglich sein solle. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Akute Belastungsreaktion, Inlandsbezogenes Abschiebehindernis (verneint), Posttraumatische Belastungsstörung, Qualifiziertes ärztliches Attest (verneint), Reisefähigkeit, Selbsteintrittsrecht aus gesundheitlichen Gründen (verneint), Suizidalität, Zielstaat Spanien, Zielstaatbezogenes Abschiebungsverbot (verneint), Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, Dublin Spanien, ärztliche Bescheinigung, Attest, systemische Mängel, Spanien
Fundstelle:
BeckRS 2022, 24852
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller zu 1 begehrt im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO die Abänderung des Beschlusses des Gerichts vom 27. Juni 2022, mit welchem der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. April 2021 abgelehnt wurde (VG München, B.v. 27.6.2022 - M 10 S 22.50265 - n.v.). Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Gründe dieses Beschlusses Bezug genommen.
2
Mit Schriftsatz vom 2. August 2022 beantragt der Antragsteller zu 1 nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO,
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den Beschluss vom 27. Juni 2022 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich der Antragsteller zu 1 seit 21. Juli 2022 aufgrund einer akuten Belastungsreaktion und posttraumatischen Belastungsstörung in stationärer psychiatrischer Behandlung befinde und medikamentös behandelt werde. Es bestehe „akut hohe Suizidgefahr“. Mit Schriftsatz vom 25. August 2022 führte der Bevollmächtigte aus, dass sich der Antragsteller zu 1 aufgrund einer akuten psychischen Erkrankung in stationärer psychiatrischer Behandlung befinde und aktuell nicht reisefähig sei. Zur Glaubhaftmachung wurden drei ärztliche Atteste vorgelegt (amtsärztliches Attest des Gesundheitsamt … vom 20.7.2022, ärztliches Attest der …-Klinik vom 27.7.2022 und ärztliches Attest der …-Klinik vom 23.8.2022).
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Des Weiteren trägt der Antragsteller zu 1 mit weiterem Schriftsatz vom 2. August 2022 vor, dass in Jordanien bekannt sei, dass sich die Antragsteller in Spanien aufhalten würden (unter Vorlage einer übersetzten schriftlichen Bestätigung des Vaters des Antragstellers zu 1). Eine Einreise nach Spanien und der Verbleib dort sei mit Leib- und Lebensgefahr für den Antragsteller zu 1 und seine Familie verbunden.
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In dem amtsärztlichen Attest vom 20. Juli 2022 wird ausgeführt, dass der Antragsteller zu 1 im Kontakt verzweifelt und psychomotorisch massiv unruhig wirke. Er habe „glaubhaft angegeben“, dass er in Spanien um sein Leben und das seiner Familie fürchten müsse, da er und seine Familie dort von Angehörigen bzw. Bekannten seiner Frau verfolgt und umgebracht würden. Der Antragsteller zu 1 wirke sehr getrieben und gebe Suizidgedanken und konkrete Planungen an. Sämtliches Personal sei angewiesen worden, den Antragsteller zu 1 notfallmäßig bei Auffälligkeiten psychiatrisch einzuweisen. Zusammenfassend werde die Symptomatik als akute Belastungsreaktion (ICD 10 F43.0) gewertet.
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Das ärztliche Attest vom 27. Juli 2022 diagnostiziert beim Antragsteller zu 1 ebenso eine akute Belastungsreaktion sowie eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1). Er befinde sich seit dem 21. Juli 2022 in stationär-psychiatrischer Behandlung. Zur Entakutisierung und Stabilisierung erhalte der Antragsteller zu 1 Quetiapin. Der Antragsteller zu 1 sei aus ärztlicher Sicht wegen hoher Suizidgefahr und einer glaubhaft berichteten Gefahr für ihn und seine Familie nicht als reisefähig anzusehen. Das ärztliche Attest vom 23. August 2022 führt aus, dass sich der Antragsteller zu 1 „seit dem 21.8.2022“ aufgrund einer akuten psychischen Erkrankung in stationär-psychiatrischer Behandlung befinde. Er sei aus ärztlicher Sicht nicht als reisefähig anzusehen.
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Die Antragsgegnerin hat sich im vorliegenden Verfahren nicht geäußert und stellte keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 22.50264, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO bleibt ohne Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Das Gericht kann nach § 80 Abs. 7 VwGO Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit abändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern vielmehr ein gegenüber dem ersten Eilverfahren selbstständiges Verfahren. Voraussetzung für einen Anspruch auf Abänderung des zunächst ergangenen Beschlusses ist nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, dass sich nach der ersten gerichtlichen Entscheidung die maßgebliche Sachund Rechtslage geändert hat. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestattet hierbei den Beteiligten, neue entscheidungserhebliche Umstände in das Verfahren einzuführen (VG München, B.v. 1.2.2022 - M 1 S7 21.6696 - juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 3.3.2014 - 9 B 46/14 - juris Rn. 3).
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2. Gemessen daran ist der vom Antragsteller zu 1 gestellte Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO nicht begründet. Die vom Antragsteller zu 1 geltend gemachte psychische Erkrankung ändert im Ergebnis nichts an der unionsrechtlichen Zuständigkeit Spaniens für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers zu 1. Sie führt auch weder zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG noch einem inlandsbezogenen Abschiebehindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
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a) Die nunmehr vorgebrachten Argumente der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 sowie die geltend gemachten Gefahren, denen er und seine Familie in Spanien ausgesetzt seien, ändern nichts an der nach Art. 12 Abs. 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) angenommenen Zuständigkeit Spaniens für die Bearbeitung der Asylanträge der Antragsteller. Wie bereits im Beschluss vom 27. Juni 2022 (unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union) dargestellt, kann sich der Antragsteller zu 1 der Überstellung nach Spanien grundsätzlich nur mit dem Argument widersetzen, dass im dortigen Asylsystem systemische Mängel vorliegen würden und ihm deshalb die Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung drohe, die mit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK einherginge (VG München, B.v. 27.6.2022, a.a.O., Rn. 20).
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Das Vorbringen vom 2. August 2022, dem Antragsteller zu 1 und seiner Familie drohten in Spanien eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben, weil die Familie bzw. Bekannte der Antragstellerin zu 2 sie dort verfolgen würden, ist nicht geeignet, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgestellte Vermutung des gegenseitigen Vertrauens (EuGH, U.v. 10.12.2013 - C-394/12, „Abdullahi“ - juris Rn. 52 ff.; EuGH, U.v. 19. März 2019 - C-163/17, „Jawo“ - Rn. 80 ff.) zwischen den Mitgliedstaaten zu erschüttern. Selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens des Antragstellers zu 1, dass die Familie bzw. Bekannte der Antragstellerin zu 2 in Spanien nach ihm und seiner Familie suchen würden, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, inwieweit es ihm unzumutbar sein sollte, sich diesbezüglich an die spanische Polizei zu wenden. Spanien ist ein Rechtsstaat und es ist weder ersichtlich noch vom Antragsteller vorgetragen worden, dass die spanischen Behörden weder willens noch in der Lage seien, den Antragsteller zu 1 und seine Familie effektiv vor der Familie bzw. den Bekannten der Antragstellerin zu 2 zu schützen.
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Ebenso führt die vom Antragsteller zu 1 geltend gemachte psychische Erkrankung nicht zu einem Übergang der (unionsrechtlichen) Zuständigkeit auf die Antragsgegnerin. Auch wenn in besonders gelagerten Ausnahmefällen mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GRCh sowie die sich aus Art. 16 Dublin III-VO ergebende Wertung bei schweren Krankheiten das Ermessen zur Ausübung des Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO auf Null reduziert sein kann (vgl. BayVGH, U.v. 13.12.2015 - 13a B 15.50124 - juris Rn. 3, 22 ff.; siehe allerdings einschränkend EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/16 PPU - juris Rn. 65-70, der auch insoweit auf Art. 4 GRCh und das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens abstellt), ist diese Schwelle nach den vorliegenden ärztlichen Attesten nicht erreicht.
16
Nach Aktenlage dürfte der vorliegende Fall schon in tatsächlicher Hinsicht nicht dem zitierten Fall des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vergleichbar sein (vgl. BayVGH, a.a.O., Rn. 3), da sich die (eher knapp gehaltenen) ärztlichen Atteste nicht näher mit der Frage verhalten, weshalb die Weiterbehandlung der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 in Spanien aus ärztlicher Sicht nicht möglich sein sollte. Dies gilt insbesondere deshalb, weil nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die psychische Erkrankung des Antragstellers zu 1 auch in Spanien behandelbar ist (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/16 PPU - juris Rn. 70). Jedenfalls fehlen in allen Attesten substantiierte Ausführungen, weshalb sich die psychische Erkrankung des Antragstellers zu 1 bei einer Überstellung nach Spanien, auch unter Berücksichtigung einer Weiterbehandlung in Spanien, wesentlich verschlechtern sollte. Soweit die ärztlichen Atteste ausführen, dass der Antragsteller zu 1 „glaubhaft“ die Verfolgungsgefahr in Spanien durch Angehörige der Antragstellerin zu 2 und damit einhergehende Leib- und Lebensgefahr geschildert habe, betrifft dies einen Aspekt, der der rechtlichen Würdigung des Gerichts vorbehalten ist. Da die ärztlichen Atteste nicht substantiiert und nachvollziehbar ausführen, weshalb aus medizinischer Sicht die stationär-psychiatrische Behandlung des Antragstellers zu 1 ausschließlich in Deutschland (und nicht etwa auch in Spanien) möglich sein solle, kann kein besonders gelagerter Ausnahmefall angenommen werden, der das Ermessen der Antragsgegnerin nach Art. 17 Dublin III-VO - auch unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 GRCh und Art. 16 Dublin III-VO - auf Null reduziert.
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b) Die Abschiebung nach Spanien ist auch weiterhin möglich i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, da weder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG noch ein inlandsbezogenes Abschiebehindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorliegen (vgl. dazu allgemein: BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rn. 12).
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aa) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Im Falle einer Erkrankung ist die konkrete Gefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG mittels einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung glaubhaft zu machen. Dabei gilt nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG die Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist es ferner nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleich ist.
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Die in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG enthaltene gesetzliche Vermutung ist nur dann widerlegt, wenn das ärztliche Attest die in § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG vorgegebenen Anforderung wahrt (sog. qualifiziertes ärztliches Attest). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände enthalten, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Legt der Ausländer ärztliche Fachberichte vor, sind diese zur Glaubhaftmachung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur geeignet, wenn sie nachvollziehbar die Befundtatsachen angeben, die Methode der Tatsachenerhebung benennen und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie die Folgen darlegen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben. Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung richten sich jeweils nach den Umständen des Einzelfalls. Dem Arzt, der ein Attest ausstellt, ist es untersagt, etwaige rechtliche Folgen seiner fachlich begründeten Feststellungen und Folgerungen darzulegen oder sich mit einer rechtlichen Frage auseinanderzusetzen (BayVGH, B.v. 18.10.2013 - 10 CE 13.1890 - juris Rn. 21; VGH BW, B.v. 10.7.2003 - 11 S 2262/02 - juris Rn. 12). Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zu den prognostizierten Folgerungen kommt und welche Tatsachen dieser Einschätzung zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 - 10 CE 17.349 - juris Rn. 19; B.v. 5.1.2017 - 10 CE 17.30 - juris Rn. 7).
20
Eine ärztliche Bescheinigung ist mithin nur dann i.S.v. § 60 Abs. 2c Satz 2 AufenthG als qualifiziert anzusehen und zur Glaubhaftmachung geeignet, wenn sie von der Ausländerbehörde in groben Zügen nachvollzogen werden kann. Erschließen sich die Gründe für die Reiseunfähigkeit des Ausländers nicht schon aus der Diagnose oder sonstigen Feststellungen in der ärztlichen Bescheinigung von selbst, muss das zur Glaubhaftmachung hierzu vorgelegte ärztliche Attest eine nachvollziehbare Begründung enthalten. Dies gilt vor allem bei diagnostizierten psychischen Erkrankungen oder Störungen, wenn das ärztliche Attest die Reiseunfähigkeit nur behauptet, aber nicht begründet, da die Reisefähigkeit in der Regel durch begleitende Maßnahmen (Verabreichung von Medikamenten, polizeiliche oder ärztliche Begleitung des gesamten Abschiebevorgangs, Übergabe an medizinisches Personal im Zielstaat) sichergestellt werden kann (vgl. Sächsisches OVG, B.v. 22.8.2019 - 3 B 394/18 - juris Rn. 12, 13).
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Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben sind die vorgelegten Atteste nicht geeignet, die in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG enthaltene Vermutung zu widerlegen. Die Atteste enthalten zwar eine fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes unter Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10. Die insoweit erforderlichen Befundtatsachen sind unter Berücksichtigung der Methode der Tatsachenerhebung allerdings nicht hinreichend nachvollziehbar dargestellt. Die angegebene „hohe Suizidgefahr“ wird nur behauptet und nicht ausreichend mit Anknüpfungstatsachen begründet.
22
Soweit sich das Attest auf eine „glaubhafte geschilderte Gefahr“ für den Antragsteller zu 1 und seine Familie in Spanien bezieht, stellt dies eine Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen dar, die dem Gericht und nicht den behandelnden Ärzten vorbehalten sind. Bezüglich der in den ärztlichen Attesten weiter angeführten Suizidalität beim Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Spanien ist ebenfalls nicht hinreichend nachvollziehbar erläutert, wie die behandelnden Ärzte zu dieser Einschätzung kommen. Auch wenn das Gericht keinesfalls ausblendet, dass bei der Anamnese psychischer Krankheiten die Befragung des Patienten unumgänglich ist, reicht es für die Diagnose der drohenden Suizidalität im Falle einer Überstellung nicht aus, dass in den schriftlichen Ausführungen des Attests im Wesentlichen nur auf die Angaben des Patienten Bezug genommen wird (st. Rspr., s. etwa VG München, B.v. 12.11.2019 - M 12 E 19.5401 - juris Rn. 32; VG Würzburg, B.v. 14.10.2019 - W 6 E 19.1333 - juris Rn. 28; VG Karlsruhe, B.v. 11.3.2019 - 1 K 6913/18, A 1 K 6963/18 - juris Rn. 71 f.; OVG LSA, B.v. 6.9.2017 - 2 M 83/17 - juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 5.7.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rn. 24; OVG NW, U.v. 21.1.2015 - 13 A 1201/12.A - juris Rn. 44).
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Bei Äußerung von Suizidgedanken ist anhand von Realkennzeichen und weiterer nach außen tretender objektiver Anknüpfungstatsachen eine eigene Würdigung der Angaben des Patienten durch den behandelnden Facharzt erforderlich, was im Attest nachvollziehbar dargestellt werden muss (vgl. etwa VG München, B.v. 12.11.2019 - M 12 E 19.5401 - juris Rn. 32; VG Karlsruhe, B.v. 11.3.2019 - 1 K 6913/18, A 1 K 6963/18 - juris Rn. 72; BayVGH, B.v. 5.7.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rn. 24). Bei dieser erforderlichen Bewertung der Suizidgefahr durch den behandelnden Arzt hat dieser, wie oben dargestellt, auch die Möglichkeit der ärztlichen Begleitung einer Überstellung bis zur Ankunft im Zielstaat und der ärztlichen Betreuung in der Zeit danach (vgl. dazu BayVGH, B.v. 8.2.2022 - 10 CE 22.355 - juris Rn. 21) in seine Bewertung der Suizidgefahr einzustellen. In anderen Worten, das ärztliche Attest muss im konkreten Fall nachvollziehbar darlegen, weshalb aus ärztlicher Sicht bei einer Überstellung nach Spanien und der dortigen Fortsetzung der stationär-psychiatrischen Behandlung des Antragstellers zu 1 dennoch die konkrete Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands droht.
24
Diesen Anforderungen werden die vorliegenden Atteste im Hinblick auf die angenommene „hohe Suizidgefahr“ nicht gerecht. Das noch am weitesten gehenden Attest vom 20. Juli 2022 beschreibt zwar noch im Ansatz Eindrücke des behandelnden Amtsarztes vom Antragsteller zu 1 im Hinblick auf äußerliche Anzeichen („wirkte im Kontakt verzweifelt“, „psychomotorisch massiv unruhig“, „wirkte sehr getrieben“), jedoch bleibt auch dies aufgrund des Fehlens von Befundtatsachen (z.B. Ergebnisse von Untersuchungen zum Ausschluss von Differentialdiagnosen) letztendlich vage und unkonkret. Gleiches gilt bezüglich „gab Suizidgedanken und konkrete Planungen an“, ohne dass dies in irgendeiner Weise näher beschrieben wird, geschweige denn aus ärztlicher Sicht sachlich-kritisch bewertet wird (was keinesfalls bedeutet, solche Äußerungen ärztlicherseits in Abrede zu stellen). Die weiteren Atteste vom 27. Juli 2022 und 23. August 2022 sind bezüglich der „hohen Suizidgefahr“ noch vager, da insoweit lediglich Behauptungen ohne nähere Begründung aufgestellt werden, bzw. juristische und medizinische Wertungen in unzulässiger Weise vermischt werden.
25
bb) Nach den obigen Ausführungen liegt schließlich auch kein Abschiebehindernis i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vor. Die Abschiebung des Antragstellers zu 1 ist nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Dies wäre der Fall, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Gefahr für das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Rechtsgut Leib und Leben zu befürchten ist. Zum einen scheidet daher eine Abschiebung aus, wenn infolge der Abschiebung - unabhängig vom konkreten Zielstaat - eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands der betroffenen Person droht. Dies ist zum einen der Fall, wenn die Person wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Transports wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportmittelbedingt entsteht (sog. Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn - außerhalb des Transports - das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand der Person unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom konkreten Zielstaat) sich wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, sog. Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn (s. zum Ganzen BayVGH, B.v. 8.2.2022 - 10 CE 22.355 - juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 20.1.2022 - 19 CE 21.2437 - juris Rn. 19).
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Gemessen daran ist mit den ärztlichen Attesten vom 27. Juli 2022 und 23. August 2022 auch diesbezüglich nicht in einer § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genügenden Weise dargelegt, dass der Antragsteller zu 1 nicht als reisefähig anzusehen sei. Insoweit ist auch die angenommene Reiseunfähigkeit nicht hinreichend nachvollziehbar begründet. Soweit auf die „glaubhaft berichtete Gefahr“ für den Antragsteller zu 1 und seine Familie verwiesen wird, gilt das Oben Geschriebene (Rn. 19 und 22).
27
Lediglich ergänzend ist der Klarstellung halber anzumerken, dass das Gericht mit diesem Beschluss nicht die medizinische Fachkompetenz der behandelnden Ärzte infrage stellt und auch kein besonders detailliertes oder übermäßig umfangreiches ärztliches Fachgutachten verlangt (s. auch VG Würzburg, U.v. 14.10.2019 - W 6 E 19.1333 - juris Rn. 30, 36). Da das Gericht aber § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG und die hierzu etablierten rechtlichen Maßstäbe anzuwenden hat, ist es Sache des Antragstellers zu 1 bzw. der behandelnden Ärzte, mit einem Attest, dass diese Maßstäbe - wie sie in diesem Beschluss dargestellt sind (vgl. oben Rn. 19 f.) - wahrt, um die Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG zu widerlegen.
28
cc) Unabhängig von der Begründung dieses Beschlusses ist abschließend auf die Verpflichtung der Antragsgegnerin hinzuweisen, für den Fall einer Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, insbesondere, dass sichergestellt ist, dass erforderliche Hilfen (insbesondere medizinische Versorgung) während der Abschiebung und nach der Ankunft im Zielstaat dem Antragsteller zu 1 zur Verfügung stehen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rn. 14).
29
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
30
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).