VG Augsburg, Urteil v. 25.03.2022 – Au 8 K 22.30091
Titel:
Verbescheidungsklage wegen Konversion - Afghanistan
Normenketten:
VwGO § 75
AsylG § 71
VwVfG § 51
Leitsätze:
1. Mit der Untätigkeitsklage kann isoliert die Verpflichtung des Bundesamts zur Entscheidung über den Asylfolgeantrag begehrt werden, auch wenn bereits eine Anhörung stattgefunden hat. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein zureichender Grund für die Nichtverbescheidung des Antrages im Sinne des § 75 S. 3 VwGO liegt nicht in der "volatilen Lage in Afghanistan", wenn nur die Glaubwürdigkeit einer Konversion zum Christentum zu bewerten ist. (Rn. 17 und 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untätigkeitsklage, Zulässigkeit einer Verbescheidungsklage, Anspruch auf Entscheidung über Asylfolgeantrag (bejaht), kein zureichender Grund einer derzeit (etwaig) volatilen Lage in Afghanistan für die im Asylfolgeverfahren zu klärende Frage einer Konversion, Verbescheidungsklage, Afghanistan, Asylfolgeverfahren, Konversion
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21193
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylfolgeantrag des Klägers vom 1. April 2020 zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Entscheidung über seinen Asylfolgeantrag.
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Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, er gehört zum Volksstamm der Hazara. Sein Asylerstverfahren ist rechtskräftig abgeschlossen (BayVGH, B.v. 3.2.2020 - 13a ZB 18.31119; VG Augsburg, U.v. 6.4.2018 - Au 5 K 17.32882). Am 1. April 2020 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag verbunden mit dem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zum Vorliegen von Abschiebungsverboten. Er sei zum christlichen Glauben konvertiert und sein Glaube habe sich inzwischen identitätsprägend verfestigt. Am 16. Juni 2020 wurde der Kläger informatorisch durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) angehört. Mit Bescheid vom 22. Juni 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig (Ziffer 1) sowie den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 5. Mai 2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Ziffer 2) ab. Mit Urteil des Gerichts vom 4. März 2021 (Au 8 K 20.31030) wurde der Bescheid des Bundesamts vom 22. Juni 2020 aufgehoben.
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Mit Schreiben vom 22. Dezember 2021 ließ der Kläger die Beklagte bis 5. Januar 2022 um eine unverzügliche Entscheidung bitten und stellte die Erhebung einer Untätigkeitsklage in Aussicht.
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Am 1. Februar 2022 ließ der Kläger Untätigkeitsklage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erheben und beantragen,
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die Beklagte zu verpflichten, über den Asylfolgeantrag des Klägers (Az. der Beklagten: ...) zu entscheiden.
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Dem Kläger könne ein weiteres Zuwarten nicht mehr zugemutet werden. Er habe einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt in angemessener Zeit über seinen Asylfolgeantrag entscheide. Es liege kein zureichender Grund für die Nichtbescheidung vor, insbesondere habe das Bundesamt auf das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 22. Dezember 2021 nicht reagiert und nicht mitgeteilt, weshalb eine fristgemäße Entscheidung nicht möglich sei.
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Die Beklagte trat der Klage mit Schriftsatz vom 8. Februar 2022 entgegen. Für sie ist beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Klage sei unzulässig, insbesondere aber auch unbegründet. Ein Bescheid habe zu Recht noch nicht erlassen werden können. Unter Bezugnahme und teilweiser Wiedergabe des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juli 2018 - 1 C 18.17 -führt die Beklagte insbesondere aus, eine Untätigkeitsbescheidungsklage sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar dann zulässig, wenn zum Zeitpunkt des Klageantrags noch keine Anhörung des Schutzsuchenden stattgefunden habe. In Fällen wie dem hier vorliegenden, in denen jedoch bereits eine Anhörung stattgefunden habe, ergebe sich hingegen kein Rechtschutzbedürfnis für eine Untätigkeitsbescheidungsklage. § 113 Abs. 5 VwGO setze voraus, dass im Regelfall die Untätigkeitsklage als Vornahmeklage und nicht als reine Bescheidungsklage zu erheben sei. Die vom Bundesverwaltungsgericht angesprochenen Verfahrensgarantien seien jedoch nur dann gewahrt, wenn eine Anhörung stattgefunden habe, weshalb ein Rechtsschutzbedürfnis vorliegend nicht gegeben sei. Unabhängig hiervon sei die Klage jedoch auch unbegründet. Es liege ein zureichender Grund i.S.v. § 75 Satz 1 VwGO für die noch nicht erfolgte Verbescheidung des Asylantrags vor. Als mögliche, zureichende Gründe für eine Verzögerung seien u.a. anerkannt ein besonderer Umfang und besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung oder die außergewöhnliche Belastung einer Behörde, auf die durch organisatorische Maßnahmen nicht kurzfristig reagiert werden könne. Was im Einzelfall als „angemessene“ Frist anzusehen sei, richte sich nach der Komplexität und Reichweite der zu treffenden Entscheidung und nach der in tatsächlicher Hinsicht erforderlichen Sachverhaltsaufklärung. Ein aus § 75 VwGO abgeleiteter Grundsatz, eine Behörde müsse ein Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren innerhalb von drei Monaten abschließen, werde der gebotenen Einzelfallbetrachtung nicht gerecht. Das BVerwG leite aus Art. 31 Abs. 3 bis 5 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU eine angemessene Verfahrensdauer von sechs Monaten und eine absolute Höchstfrist für die Entscheidung von 21 Monaten ab. Im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung würden regelmäßig die besondere Komplexität des Verfahrens, die besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung und/ oder fehlende bzw. unzureichende Mitwirkung des Ausländers fristverlängernd wirken. Im vorliegenden Fall habe eine Entscheidung aus folgenden Gründen bisher noch nicht getroffen werden können: Aufgrund der volatilen Lage in Afghanistan lasse sich nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Vorgänge im Herkunftsland des Klägers auf dessen Asylbegehren haben würden. Valide Aussagen über einen evtl. Schutzstatus könnten derzeit nicht getroffen werden. Aus den vorstehenden Ausführungen werde ersichtlich, dass das Bundesamt aufgrund eines zureichenden Grundes im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO bisher daran gehindert gewesen sei, eine Sachentscheidung zu treffen. Vorstehende Umstände seien für die Klägerseite erkennbar gewesen. Angesichts dessen habe die Klägerseite (noch) nicht mit einer Entscheidung rechnen können, so dass kein Raum für ein Eingreifen des § 161 Abs. 3 VwGO sei.
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Mit Schreiben vom 14. Februar 2022 ließ der Kläger Stellung nehmen und im Wesentlichen ausführen, dass das Vorbringen der Beklagten nicht nachvollziehbar sei. Die Lage in Afghanistan sei nicht volatil. Die Taliban hätten die Macht übernommen. Daran werde sich auf absehbarer Zeit nichts mehr ändern. Wie die Taliban mit Konvertiten verfahren werde, müsse nicht näher dargelegt werden.
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Mit Schreiben vom 25. Februar 2022 ließ der Kläger sein bisheriges Vorbringen im Wesentlichen dergestalt vertiefen, dass sich aus einem Bericht aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. Februar 2022 ergebe, dass das Bundesamt die Asylanträge von alleinstehenden jungen afghanischen Männern offenbar ganz bewusst unbearbeitet lasse. Dass die Lage in Afghanistan nicht „volatil“ sei, ergebe sich auch daraus, dass das VG München - unter Anführung von U.v. 31.1.2022 - 24 K 17.39675 - nun über die Klagen von afghanischen Asylbewerbern entscheide.
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Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 3. März 2022 (Kläger) und 17. März 2022 (Beklagte) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte. Zum Verfahren beigezogen wurde auch die Gerichtsakte der Verwaltungsstreitsache Au 8 K 20.31030.
Entscheidungsgründe
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Die Untätigkeitsklage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO auf Grund der vorliegenden Zustimmungserklärungen ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch darauf, dass die Beklagte über seinen Asylfolgeantrag entscheidet.
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1. Mit der Untätigkeitsklage kann - wie beantragt - isoliert die Verpflichtung des Bundesamts zur Entscheidung über den Asyl(folge) antrag begehrt werden. Das Gericht ist nicht gehalten, selbst inhaltlich über das Asylbegehren zu befinden und unmittelbar hierüber zu entscheiden (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 - 13a B 16.30951). Etwas Anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juli 2018. In diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht die Zulässigkeit einer Verbescheidungsklage jedenfalls für den Fall bejaht, dass noch keine Anhörung beim Bundesamt stattgefunden hat (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 - 1 C 18.17 - juris Ls. 1 und Rn. 32 ff.). Eine Aussage dahingehend, dass in der vorliegenden Fallkonstellation, in der bereits eine Anhörung des Klägers (vgl. § 25 AsylG) stattgefunden hat, eine Verbescheidungsklage unzulässig wäre, lässt sich dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts indes nicht entnehmen. Vornehmlich im Hinblick auf das Recht des Klägers auf einen wirksamen Rechtsbehelf (vgl. Art. 39 Abs. 1 RL 2005/85/EG), dessen Prüfung sich nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU neben Rechtsauch auf Tatsachenfragen erstreckt (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 - 1 C 18.17 - juris Rn. 45) besteht auch in den Fällen, in denen bereits eine Anhörung stattgefunden hat, ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Verbescheidungsklage. Denn die Zulassungsgründe für eine Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil ermöglichen im Asylrecht nur eine eingeschränkte Überprüfung (vgl. § 78 Abs. 2 AsylG). Vor diesem Hintergrund ist auch für die vorliegende Konstellation, in der bereits eine Anhörung stattgefunden hat, aufgrund der Besonderheiten des Asylrechts ein Rechtsschutzbedürfnis für eine (reine) Verbescheidungsklage gegeben (vgl. hierzu VG Augsburg, U.v. 9.2.2022 - Au 4 K 21.31111 - n.n.v. Rn. 17; VG Aachen, U.v. 21.12.2021 - 5 K 1960.21.A - juris Rn. 35 ff.).
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2. Die Klage ist auch begründet, da über den Asylfolgeantrag des Klägers ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist sachlich entschieden wurde. Die in § 75 Satz 2 VwGO genannte Frist von drei Monaten ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen, der Asylfolgeantrag des Klägers wurde bereits am 1. April 2020 gestellt. Es kann vorliegend offen bleiben, ob vor dem Hintergrund von § 24 AsylG bzw. Art. 31 RL 2013/32/EU die Drei-Monatsfrist modifiziert wird. Eine sich aus Art. 31 Abs. 5 RL 2013/32/EU u.U. ergebende Höchstfrist von maximal 21 Monaten für die Entscheidung ist zum maßgeblichen Zeitpunkt abgelaufen (vgl. dazu VG Aachen, U.v. 21.12.2021 - 5 K 1960/21.A - juris Rn. 24; Oberhäuser, Migrationsrecht, 1. Aufl. 2019, § 22 Rn. 61 ff. m.w.N.). Für die Beurteilung des Gerichts, ob die Klage schon zulässig ist oder ob wegen Vorliegens eines zureichenden Grundes für die Verzögerung nach Satz 3 vorzugehen ist, kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an; es genügt dabei für die Zulässigkeit der Klage, dass in diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen gegeben sind (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 75 Rn. 11).
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Ein zureichender Grund für die Nichtverbescheidung des Antrages im Sinne des § 75 Satz 3 VwGO liegt jedoch nicht vor. Ein zureichender Grund kann sich etwa aus dem besonderen Umfang oder der besonderen Schwierigkeit der Sachaufklärung bzw. der besonderen Schwierigkeit des zu entscheidenden Falles ergeben (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 75 Rn. 13). Anhaltspunkte hierfür sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
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Die Beklagte beschränkt ihr Vorbringen im Wesentlichen darauf, dass in Afghanistan derzeit eine volatile Lage bestehe. Für die im Rahmen des Asylfolgeverfahrens des Klägers vornehmlich zu klärende Frage, ob die Konversion des Klägers letztendlich tatsächlich glaubhaft sowie das Christentum für den Kläger inzwischen Teil seiner religiösen Identität geworden ist (vgl. VG Augsburg, U.v. 4.3.2021 - Au 8 K 20.31030 - Rn. 32), erweist sich eine - nicht näher konkretisierte - (etwaig) volatile Lage nicht als zureichender Grund für eine Nichtverbescheidung.
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Ein zureichender Grund für die Nichtverbescheidung über den Asyl(folge) antrag ist daher nicht erkennbar, so dass die Voraussetzungen für eine Nachfristsetzung gemäß § 75 Satz 3 VwGO nicht gegeben sind.
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3. Der Kläger hat demnach einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt über seinen Asylfolgeantrag entscheidet, so dass der Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben war. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.