OLG München, Endurteil v. 04.07.2022 – 21 U 5478/20
Titel:
Keine Verjährung in Diesel-Fall bei erst im März 2020 zugestellter Klage
Normenketten:
BGB § 31, § 195, § 199 Abs. 1, § 826, § 852 S. 1
ZPO § 167, § 287
Leitsätze:
1. Zur Frage der Verjährung von erst nach 2018 erhobenen Klagen vgl. auch BGH BeckRS 2022, 4175; BeckRS 2021, 22216; BeckRS 2020, 37753; OLG Jena BeckRS 2021, 59569 sowie BeckRS 2022, 37682 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zustellung einer am 30.12.2019 eingereichten Klage am 2.3.2020 ist "demnächst" iSd § 167 ZPO, wenn das Landgericht den Gerichtskostenvorschuss erst mit Verfügung vom 12.2.2020 angefordert hat und daraufhin der Vorschuss bereits am 17.2.2020 und somit nicht erst vorwerfbar verspätet einbezahlt worden ist (anders OLG München BeckRS 2022, 20973 für am 14.2.2020 angeforderte Gerichtskosten). (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zu typischen Detailfragen aus VW-Dieselfällen hier: Gesamtlaufleistung 200.000 km; kein Annahmeverzug; keine Verzugszinsen; kein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten wegen mangelnder Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit der Anwaltsbeauftragung. (Rn. 45, 48, 51 und 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 189, unzulässige Abschalteinrichtung, (keine) Verjährung, demnächst, Anforderung des Gerichtskostenvorschusses, Vorteilsausgleich, Nutzungsentschädigung, Annahmeverzug, Gesamtlaufleistung
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Endurteil vom 04.08.2020 – 73 O 3483/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20995
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 04.08.2020, Az. 73 O 3483/19, teilweise abgeändert und klarstellend insgesamt wie folgt neu gefasst:
1.1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 20.175,91 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 23.230,61 € vom 03.03.2020 bis zum 15.06.2020, aus 21.595,06 € vom 16.06.2020 bis 29.05.2022 und aus 20.175,91 € seit dem 30.05.2022 Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs … mit der Fahrgestellnummer … zu zahlen.
1.2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
1.3. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz hat die Klagepartei 30% und die Beklagte 70% zu tragen.
2. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klagepartei 22% und die Beklagte 78% zu tragen.
4. Das Urteil und das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Ingolstadt - soweit es aufrechterhalten wurde - sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klagepartei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Entscheidungsgründe
I.
1
Gegenstand des Rechtsstreits sind Ansprüche, die die Klagepartei gegen die Beklagte wegen des Erwerbs eines Diesel-Pkws geltend macht.
2
Die Klagepartei erwarb am 17.02.2015 zu einem Preis von 31.570,00 € brutto von einem Dritten ein Neufahrzeug …, 103 kW (140 PS). Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor EA189 ausgestattet. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt. Die Beklagte ist die Herstellerin des Pkws. Der Kilometerstand bei Erwerb betrug 0 km, zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erster Instanz am 16.06.2020 54.202 km und zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 30.05.2022 72.183 km.
3
Zur Abgasreinigung wird im streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasrückführung eingesetzt. Das Fahrzeug ist betroffen von einem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (im Folgenden: KBA) mit der Begründung „unzulässige Abschalteinrichtung“. Die im Zusammenhang mit dem Motor (zunächst) verwendete Software erkennt, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wird und schaltet in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid (NOx)-optimierten Modus. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Für die Erteilung der Typgenehmigung der Emissionsklasse Euro 5 maßgeblich war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten.
4
Die Klagepartei ließ das vom Kraftfahrt-Bundesamt (im Folgenden: KBA) freigegebene und zur weiteren Nutzbarkeit des Fahrzeugs erforderliche Softwareupdate bereits aufspielen.
5
Vorgerichtlich forderte die Klagepartei mit anwaltlichem Schreiben vom 23.12.2019 die vollständige Kaufpreiserstattung abzüglich einer Nutzungsentschädigung ohne Benennung von Kilometerleistungen Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie die Zahlung der Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung unter Fristsetzung bis zum 28.12.2019.
6
Mit Klage vom 30.12.2019, bei Gericht eingegangen am selben Tag und der Beklagten zugestellt am 02.03.2020 (nachdem die Gerichtskostenanforderung vom 12.02.2020 den Klägervertretern am 13.02.2020 zugestellt und daraufhin am 17.02.2020 der Vorschuss einbezahlt worden war), forderte die Klagepartei zuletzt die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer bezifferten Nutzungsentschädigung nebst Delikts- und Verzugszinsen Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung von Annahmeverzug der Beklagten mit der Rücknahme des Fahrzeugs und die Verurteilung zur Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Rechtshängigkeitszinsen.
7
Die Beklagte beruft sich auf Verjährung.
8
Ergänzend wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO.
9
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 04.08.2020 überwiegend zugesprochen; es hat verurteilt zur Zahlung von 25.866,14 € nebst Verzugszinsen Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs und zur Erstattung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.358,86 €. Außerdem ist Annahmeverzug der Beklagten festgestellt worden. Die Kostenverteilung ist auf 22% zu Lasten der Klagepartei und auf 78% zu Lasten der Beklagten festgesetzt worden. Die Beklagte hafte nach § 826 BGB.
10
Hiergegen richtet sich die von der Beklagten eingelegte Berufung.
11
Die Beklagte beantragt (Schriftsatz vom 14.09.2020, Bl. 309 ff. d.A.),
das am 04.08.2020 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt, Az. 73 O 3483/20 im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
12
Die Klagepartei beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
13
Der Senat hat über den Rechtsstreit am 30.05.2022 mündlich verhandelt. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird weiter Bezug genommen auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.
II.
14
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache teilweise Erfolg. Die Beklagte haftet aber gleichwohl nach §§ 826, 31 BGB wegen des Erwerbs des hier streitgegenständlichen Diesel-Pkws durch die Klagepartei, allerdings in geringerem Umfang als erstinstanzlich tenoriert in Bezug auf die durch die Klagepartei gezogenen Nutzungen wie auch ausgesprochenen Zinsen. Ferner besteht kein Annahmeverzug der Beklagten und kein Anspruch der Klagepartei in Bezug auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten.
Im Einzelnen:
15
1. Die Beklagte haftet aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dabei kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass sie die - u.a. im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzten - Motoren EA189 samt Motorsteuerungssoftware nicht entwickelt bzw. nicht mitentwickelt hat. Sie handelte durch die ihr zuzurechnenden Repräsentanten i.S.v. § 31 BGB sittenwidrig i.S.v. § 826 BGB, indem sie entschied, Motoren EA189 in Kenntnis der dazu programmierten Umschaltlogik als Software zur Erschleichung der Typgenehmigung in die von ihr hergestellten Fahrzeuge serienweise einzubauen, um diese anschließend in den Verkehr zu bringen. Mindestens ein Repräsentant der Beklagten im Sinne von § 31 BGB hat die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB verwirklicht.
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Sittenwidrig ist nach der nunmehr auch speziell in Bezug auf Dieselfälle seitens des BGH gefestigten Rechtsprechung ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 14 f.).
17
Ein Automobilhersteller handelt gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 16 ff.).
18
Bereits die objektive Sittenwidrigkeit des Herstellens und des Inverkehrbringens von Kraftfahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Verhältnis zum Fahrzeugerwerber setzt voraus, dass es in Kenntnis der Abschalteinrichtung und im Bewusstsein ihrer - billigend in Kauf genommenen - Unrechtmäßigkeit geschieht (vgl. BGH, Urteil vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 21, Beschluss vom 19.01.2021, Az.: VI ZR 433/19, Rdnr. 19, vom 09.03.2021, Az.: VI ZR 889/20, Rdnr. 28).
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a) Ein derartiges Vorstellungsbild steht zur Überzeugung des Senats fest im Hinblick auf Personen, für deren Verhalten die Beklagte einzustehen hat. Der Senat ist überzeugt i.S.v. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO, dass wenigstens ein Repräsentant der Beklagten i.S.v. § 31 BGB von der - evident unzulässigen - Umschaltlogik gewusst hat bei der Entscheidung über den Einsatz von Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten.
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Soweit die Beklagte einwendet, eine Überzeugungsbildung i.S.v. § 286 ZPO verstoße gegen BGH, Urteil vom 26.04.1989, Az.: IVb ZR 52/88, ist festzuhalten, dass sich der BGH in seiner Urteilsserie vom 25.11.2021 u.a. explizit mit der Prüfung der Feststellungen auf der Grundlage einer Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO in den Ausgangsentscheidungen befasst und seine Beurteilung ausführlich begründet hat (Az.: VII ZR 238/20, Rdnr. 29 ff., VII ZR 243/20, Rdnr. 28 ff., VII ZR 257/20, Rdnr. 30 ff. und VII ZR 38/21, Rdnr. 28 ff.; deutlich dazu: BGH, Beschluss vom 12.01.2022, Az.: VII ZR 256/20, Rdnr. 18). Der BGH hat insbesondere auch klargestellt, dass die Tatsachenfeststellung in Dieselfällen nicht beschränkt ist auf Feststellungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungs- und Beweislast (BGH, Urteil vom 25.11.2021, Az.: VII ZR 243/20, Rdnr. 35).
21
Die Beklagte führt aus, im Rahmen der grundsätzlichen Entscheidung über die Verwendung des Motors EA189 in Fahrzeugen ihrer Herstellung durch das Produkt-Strategie-Komitee im Jahr 2005/2006, das sich aus einzelnen Mitgliedern des Vorstands sowie einzelnen Mitgliedern aus den Fachabteilungen zusammensetzte, und der fortlaufenden nochmaligen Entscheidung zum Einsatz des Motors EA189 jeweils in Bezug auf das konkret entwickelte Modell (Bl. 438 ff. d.A.), habe man lediglich den serienmäßigen Einsatz des Motors EA189 beschlossen, sich dabei aber nicht mit der konkreten technischen Ausstattung einschließlich der Umschaltlogik befasst, man habe insbesondere im Produkt-Strategie-Komitee nur über den Einsatz des Motorentyps entschieden und dabei nur finanzielle und zeitliche Planungsaspekte einbezogen, nicht jedoch technische Details der streitgegenständlichen Software (Bl. 542. d.A.). Der Senat ist aber davon überzeugt, dass wenigstens ein Repräsentant der Beklagten i.S.v. § 31 BGB bei der Entscheidung über den Einsatz von Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten von der - evident unzulässigen - Umschaltlogik gewusst hat, unabhängig von der Frage der ausdrücklichen Besprechung der Umschaltlogik innerhalb der Erörterungen des Produkt-Strategie-Komitees.
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Beim Motor eines Fahrzeugs handelt es sich um dessen „Kernstück“, nicht bloß um ein untergeordnetes Zuliefererteil. Dies bestätigen auch die Ausführungen der Beklagten, wonach die Entscheidung über den in einen neuen Fahrzeugtyp einzusetzenden Motor im Rahmen des 60-monatigen Zeitraums zur Entwicklung eines neuen Fahrzeugmodells einen „Meilenstein“ darstellt (Bl. 442 ff. d.A.). Bei den Emissionswerten eines Fahrzeugs handelt es sich wiederum nicht um bloße technische Details und damit Fragen von vollkommen untergeordneter Bedeutung, im Gegenteil: Gleichzeitig handelt es sich um eine Entscheidung von großer Tragweite mit erheblichen, auch persönlichen, Haftungsrisiken für die Entscheider.
23
Hinzu kommt, dass das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und den durch die nach den gesetzgeberischen Vorgaben zu den Euro-Schadstoffklassen stets strengeren Anforderungen an die Begrenzung der Stickoxidemissionen seinerzeit bei Automobilherstellern allgemein bekannt war. Die Einhaltung der relevanten Stickoxidgrenzwerte für den Motor EA189 stellte unter Berücksichtigung des grundsätzlichen Verbots von Abschalteinrichtungen eine Herausforderung dar, die jedem Kraftfahrzeughersteller, der sich wie die Beklagte selbst mit der Entwicklung von Dieselmotoren befasste, bekannt war. Die Beklagte selbst räumt auch ein, dass bei der Entscheidung über den Einsatz des Motors EA189 finanzielle Aspekte einbezogen wurden.
24
In diesem Zusammenhang nicht zu überzeugen vermag der Einwand der Beklagten, bei den von ihr entwickelten und hergestellten Dieselmotoren handele es sich um ganz andere Motoren. Zwar mögen diese Motoren leistungsstärker und die Zylinder anders angeordnet sein. Das grundlegende Problem der Entstehung von Stickoxiden aufgrund hoher Verbrennungstemperaturen - auf die Ausführungen der Beklagten 351 ff. d.A. wird Bezug genommen - stellt sich aber bei jedem Dieselverbrennungsmotor. Die Physik bleibt immer gleich. Auch gelten für alle diese Motoren die gleichen gesetzlichen Stickoxidgrenzwerte. Nach dem Beklagtenvortrag arbeitet die Automobilindustrie bereits seit Jahrzehnten an Strategien zur Optimierung des Ausstoßes von Stickoxiden, und zwar zunächst im Wesentlichen durch eine Herabsenkung der Verbrennungstemperaturen durch Abgasrückrückführung; dem sind jedoch nach dem Vortrag der Beklagten Grenzen gesetzt, denen durch die Verwendung von sog. Thermofenstern - nach dem Beklagtenvortrag auch selbst noch in modernsten Dieselfahrzeugen der neuesten Generation - begegnet wird (Bl. 353 d.A.).
25
Ferner sind der Beklagten ausweislich ihres Vortrags durchaus Aspekte der Abgasreinigung im Zusammenhang mit dem Motor EA189 bekannt: sie weiß, dass bei den für den deutschen Markt bestimmten Fahrzeugen mit Motor EA189 der Euroschadstoffnorm 4 bis 6 die Abgasreinigung durch Hochdruck-Abgasrückführung, durch einen Dieseloxidationskatalysator und Dieselpartikelfilter („Hardwarekomponenten“) stattfindet, aber eine Abgasnachbehandlung durch Stickstoffspeicherkatalysator wie bei den für den USamerikanischen Markt bestimmten Fahrzeugen nicht zum Einsatz kommt (Bl. 540 f. d.A.). Die Beklagte führt außerdem aus, vor der Verwendung der Motoren EA189 habe sie von der … Motoren EA188 erworben - die beiden Motoren unterschieden sich, da die … den Motortyp EA188 weiterentwickelt und die Technik von der Pumpe-Düse-Einspritzung auf die innovative Common-Rail-Einspritzung mit dem Ergebnis des Motortyps EA189 umgestellt habe (Bl. 444 d.A.). Die Einspritzcharakteristik ist aber wesentlich für die Optimierung des Verbrennungsprozesses und steht damit im Zusammenhang mit der Abgasreinigung durch Abgasrückführung, auf die Ausführungen der Beklagten zur Funktionsweise des Softwareupdates wird Bezug genommen (Schriftsatz Beklagtenvertreter vom 28.04.2020, S. 8 ff.).
26
Auch angesichts des von der Beklagten beschriebenen ausgeklügelten Systems von Kontroll- und Berichtspflichten (Bl. 465 ff. d.A.) erscheint es nicht plausibel, dass diese sämtlich gerade bei der hier inmitten stehenden Kenntnis von der Umschaltlogik - einer Software, die die Zulassungsfähigkeit hinsichtlich einer maßgeblichen Eigenschaft des Motors, nämlich seiner Abgasemissionen zumal bei Kenntnis der Schwierigkeit zur Lösung des Problems, überhaupt erst ermöglichte - versagt haben sollen.
27
Zwar hat die Beklagte ihren Vortrag zur von ihr behaupteten Unkenntnis in Bezug auf die Umschaltlogik von Personen, deren Handeln sie sich nach § 31 BGB zurechnen lassen muss, mittlerweile vertieft. Sie trägt vor, mittlerweile seien die internen Untersuchungen abgeschlossen. Danach hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass Vorstände im aktienrechtlichen Sinn bzw. andere Repräsentanten die für eine Haftung nach § 826 BGB maßgeblichen Kenntnisse gehabt hätten, und führt dies auch konkret aus in Bezug auf von der Klagepartei benannte Personen.
28
Dies überzeugt den Senat jedoch nicht. Denn die Beklagte räumt ein, dass zu der Ebene der Bereichsleiter im Zeitraum von 2006 bis 2015 jeweils ca. 70 Personen gehört hätten. Befragungen sämtlicher dieser Einzelpersonen seien aber weder erforderlich noch praktisch umsetzbar (Bl. 460 d.A.). Das teilt der Senat nicht, der nicht erkennen kann, dass die Anhörung dieser gleichwohl noch überschaubaren Anzahl von Personen zur Aufklärung dieses für die Beklagte aus dem Tagesgeschäft herausragend bedeutsamen Sachverhalts nicht praktisch umsetzbar sein soll, zumal es nach dem Vortrag der Beklagten auch der zur Untersuchung im … Konzern eingesetzten Kanzlei … möglich war, mehr als 700 Befragungen durchzuführen einschließlich einer Sicherung von über 21.000 elektronischen Datenträgern bei weltweit über 3.500 Mitarbeitern (Bl. 453 d.A.). Dies gilt umso mehr, als die Beklagte nach ihren eigenen Ausführungen im Zeitraum von 2006 bis 2015 streng hierarchisch organisiert war mit Berichtsund Kontrollpflichten. Danach sei die Beklagte von sieben Vorständen geleitet worden und sei in sieben Vorstandsbereiche gegliedert gewesen, welche die erste Berichtsebene darstellten. Der Vorstandsebene nachgelagert gewesen seien Untergliederungen, die als Bereiche bezeichnet worden seien und welche die zweite Berichtsebene darstellten. An ihrer Spitze standen bereits die Bereichsleiter (Bl. 465 ff. d.A.). Die Notwendigkeit ihrer Befragung drängt sich indes auf, zumal der BGH bereits in der Entscheidung vom 25.05.2020 (Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 33) dem restriktiven Begriffsverständnis des Repräsentanten i.S.v. § 31 BGB der dortigen Beklagten (und der hiesigen Beklagten explizit in Bezug auf Bereichsleiter, Bl. 458 ff. d.A., denen aber selbst die Beklagte gleichwohl „eine dem Tätigkeitsprofil der Vorstandsmitglieder angenäherte Funktion innerhalb der Organisationsstruktur der Beklagten“ zubilligt) nicht gefolgt ist. Ob überhaupt wenigstens einzelne und ggfls. welche Bereichsleiter befragt wurden, bleibt aber unklar.
29
Eine Indizwirkung im Sinne der Beklagten vermag der Senat schließlich nicht in dem Umstand zu sehen, dass die internen Ermittlungen nicht zu Schadensersatzansprüchen der Beklagten gegen ihre Verantwortlichen bzw. zu weiteren staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren geführt hätten. Nach den Ausführungen der Beklagten bezogen sich die nach Darstellung der Beklagten umfangreichen internen Ermittlungen der Kanzlei … in Zusammenarbeit mit Deloitte zur Beklagten im Schwerpunkt ohnehin nicht auf den hier inmitten stehenden Sachverhalt der Verwendung der Motoren EA189, sondern auf Manipulationen bei den von der Beklagten selbst entwickelten 3-l-V6-Motoren (Bl. 453 ff. d.A., Anlagen BB3 u. BB4) und eine Befragung der Bereichsleiter bleibt offen. Die Staatsanwaltschaft München II hat gegenüber der Beklagten wegen Aufsichtspflichtverletzungen im Bereich „Abgas Service / Zulassung Aggregate“ bei der Prüfung von Fahrzeugen auf ihre regulatorische Konformität u.a. wegen des Einsatzes des Motors EA189 in Fahrzeugen weltweit ein Ordnungswidrigkeitenverfahren geführt und ein Bußgeld verhängt (Anlage K13). Dies allein und der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig kein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, lässt keinen Rückschluss zu auf die dort jeweils bestehenden Kenntnisse und Entscheidungsmotive - erst recht nicht allein im Sinne des Beklagtenvortrags. Die Beklagte selbst legt überdies als Anlage BB5 das „Statement of Facts“ vor, aus dem sich ergibt, dass es im Hinblick auf die Vorgänge in den USA u.a. durch Angestellte der Beklagten zur Vernichtung von Unterlagen gekommen ist mit dem Ziel der Vermeidung rechtlicher Konsequenzen (ebenda, Nr. 73).
30
Die umfänglichen Ausführungen - teilweise einschließlich von Beweisangeboten - der Beklagten zur fehlenden Kenntnis ihrer Vorstände im aktienrechtlichen Sinne und sonstiger Repräsentanten mit der Begründung, sie habe den Motor nicht entwickelt bzw. nicht mitentwickelt, sei am Homologationsprozess nicht beteiligt gewesen und habe aufgrund des bestehenden Baukastenprinzips mit automatisierten Produktionsprozessen ohne Einwirkungsoder Überprüfungsmöglichkeit beim Aufspielen der Motorsteuerungssoftware bzw. später bei der Überwachung der Produktion keine Kenntnisse erlangen können, verfangen nicht, da der Senat - bei Wahrunterstellung des Vortrags der Beklagten insoweit - bereits in der Entscheidung über die Verwendung des Motors EA189 in Kenntnis der Umschaltlogik das deliktische Handeln sieht.
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Diese Wertung liegt bereits den Entscheidungen des Senats zugrunde, zu denen durch den BGH unter dem 25.11.2021 bestätigende Entscheidungen (Az.: VII ZR 238/20, VII ZR 243/20, VII ZR 257/20 und VII ZR 38/21) ergangen sind. Der Senat hat hierauf mit Verfügung vom 16.12.2021 (Bl. 479/480 d.A.) und unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Beklagten erneut, nochmals ausführlicher, mit Beschluss vom 02.05.2022 (Bl. 500/503 d.A.), hingewiesen. Eine inhaltliche Ergänzung des Vortrags im Sinne dieser Hinweise erfolgte indes weder schriftsätzlich noch im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Denn die Beklagte beschränkt sich darauf, eine Kenntnis von der Umschaltlogik in Abrede zu stellen, ohne aber die - in Bezug auf das streitgegenständliche Fahrzeug - konkret Beteiligten zu benennen und spezifisch zu ihrem Kenntnisstand - ggfls. nach Befragung im Rahmen der internen Ermittlungen - vorzutragen. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf den Hinweisbeschluss vom 02.05.2022, dort Ziffer 1. b) Überdies ist damit das Bestreiten der Beklagten auch unzureichend im Sinne von § 138 Abs. 3 ZPO.
32
Wer einen Anspruch aus § 826 BGB geltend macht, trägt im Grundsatz die volle Darlegungsund Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Bei der Inanspruchnahme einer juristischen Person hat der Anspruchsteller dementsprechend auch darzulegen und zu beweisen, dass ein verfassungsmäßig berufener Vertreter (§ 31 BGB) die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB verwirklicht hat. In bestimmten Fällen ist es Sache der Gegenpartei, sich im Rahmen der ihr nach § 138 Abs. 2 ZPO obliegenden Erklärungslast zu den Behauptungen der beweisbelasteten Partei substantiiert zu äußern. Dabei hängen die Anforderungen an die Substantiierung des Bestreitens zunächst davon ab, wie substantiiert der darlegungspflichtige Gegner - hier die Klagepartei - vorgetragen hat. In der Regel genügt ein einfaches Bestreiten. Eine sekundäre Darlegungslast kann den Prozessgegner der primär darlegungsbelasteten Partei treffen, wenn diese keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung hat, während der Gegner alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm unschwer möglich und zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Genügt der Anspruchsgegner seiner sekundären Darlegungslast nicht, gilt die Behauptung des Anspruchstellers nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden (z.B. BGH, Urteil 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 25 ff.). Nach diesen Grundsätzen setzt eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten zu Vorgängen innerhalb ihres Unternehmens, die auf eine Kenntnis ihrer Repräsentanten von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung schließen lassen sollen, jedenfalls voraus, dass das Parteivorbringen hinreichende Anhaltspunkte enthält, die einen solchen Schluss nahelegen (BGH, Urteil vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 28).
33
Anders als die Beklagte einwendet, sind die möglichen Anhaltspunkte nicht beschränkt auf die im Urteil des BGH vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 30, genannten Umstände. Maßgeblich bleibt der Vortrag im Einzelfall, was bestätigt wird durch BGH, Beschluss vom 15.09.2021, Az.: VII ZR 52/21, Rdnr. 24 ff.
34
Nach diesen Grundsätzen traf die Beklagte die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, wer die Entscheidung über den serienmäßigen Einsatz der Motoren EA189 mit der Umschaltlogik getroffen hat. Die Umstände, nach denen vorliegend eine Kenntnis der für die Beklagte handelnden und dieser zuzurechnenden Personen naheliegt, ergeben sich bereits aus den vorstehenden Ausführungen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Herstellung kostengünstiger Motoren bei gleichzeitiger Einhaltung der gesetzlich weiter verschärften Stickoxidgrenzwerte sowie grundsätzlichem Verbot des Einsatzes von Abschalteinrichtungen war bei Automobilherstellern bekannt. Die Beklagte selbst entwickelt Dieselmotoren. Gleichzeitig waren der Beklagten die Hardwarekomponenten wie auch Aspekte der Funktion der Abgasreinigung im Zusammenhang mit dem Einsatz der Motoren EA189 (im Vergleich zu dem bis dahin verwendeten …motor EA188) bekannt. Die Entscheidung über den serienweisen Einsatz der Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten betraf eben nicht bloß ein untergeordnetes Zuliefererteil, sondern den Motor als „Kernstück“ des Fahrzeugs; die Emissionseigenschaften des Fahrzeugs sind für dieses wesentlich und nicht bloß ein technisches Detail. Die Entscheidung über den serienweisen Einsatz der Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten war mit erheblichen, auch persönlichen, Haftungsrisiken der entscheidenden Personen verbunden. Eine Unkenntnis des Einsatzes der Umschaltlogik auf Ebene von Personen, die der Beklagten zuzurechnen sind nach § 31 BGB, erscheint ausgeschlossenen, zumal in Anbetracht des ausgeklügelten und streng hierarchischen Kontroll- und Berichtswesen innerhalb der Beklagten. Dem ist die Beklagte, wie sich ebenfalls aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, nicht hinreichend entgegengetreten; insbesondere blieben ihre Angaben zu ihren internen Ermittlungen, auf deren negatives Ergebnis die Beklagte sich beruft, unzureichend, jedenfalls im Hinblick auf die Befragung der Bereichsleiter. Der Vortrag zum Kenntnisstand der Beteiligten im Rahmen des Produkt-Strategie-Komitees blieb zu pauschal.
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2. Vor diesem Hintergrund ist auch der Schädigungsvorsatz zu bejahen. Dieser enthält ein Wissens- und Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben; Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in Kenntnis der Umschaltlogik den serienmäßigen Einsatz der Motoren in ihren Fahrzeugen anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.
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3. Die Einwände der Beklagten gegen das Bestehen der haftungsbegründenden Kausalität greifen nicht durch.
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Schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass die Klagepartei den streitgegenständlichen Pkw nicht gekauft hätte, wenn sie um die unzulässige Software und die davon ausgehende Gefahr der Betriebsuntersagung gewusst hätte; der Schaden liegt in der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 47 ff.). Kein vernünftiger Käufer hätte in Kenntnis dieses Sachverhalts, insbesondere der Gefahr der Betriebsuntersagung, den Pkw erworben, zumal zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht die Möglichkeit bestanden hätte, mittels des erst später entwickelten Softwareupdates die Manipulation am Motor zu beseitigen. Der Rückruf durch das KBA erfolgte erst später. Auf die Frage der Umweltfreundlichkeit des Fahrzeugs als Kaufmotiv kommt es damit - anders als die Beklagte einwendet - nicht an.
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Auch aufgrund der Angaben der Klagepartei persönlich im Rahmen ihrer Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat und des hierbei von ihr gewonnenen Eindrucks ist der Senat vom Bestehen der Kausalität überzeugt. Die Beklagte hat auf die förmliche Parteieinvernahme verzichtet.
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4. Der Anspruch ist auch nicht bereits verjährt.
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Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre. Sie beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Die Klagepartei hat zur Überzeugung des Senats nicht bereits im Jahr 2015 Kenntnis von der Betroffenheit ihres Fahrzeugs erlangt. Die Unkenntnis im Jahr 2015 war auch nicht grob fahrlässig. Vorliegend trat Verjährung frühestens mit Ablauf des 31.12.2019 ein; die Klageerhebung noch im Jahr 2019 erfolgte rechtzeitig, 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Im Einzelnen:
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Nach der Rechtsprechung des BGH kommt es hinsichtlich der Kenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB in Dieselfällen darauf an, dass der Käufer Kenntnis erlangt hat vom „Dieselskandal“ allgemein, von der konkreten Betroffenheit seines Wagens hiervon sowie von der Relevanz dieser Betroffenheit für seine Kaufentscheidung, wobei von letzterem naturgemäß auszugehen ist (BGH, Urteil vom 17.12.2020, Az.: VI ZR 739/20, Rdnr. 5, 8, 17, vom 29.07.2021, Az.: VI ZR 1118/20, Rdnr.14 ff., Beschluss vom 15.09.2021, Az. VII ZR 294/20, Rdnr. 8 f., Urteilsserie vom 10.02.2022, Az.: VII ZR 692/21, Rdnr. 24, Az.: VII ZR 717/21, Rdnr. 24, Urteil vom 21.02.2022, Az.: VIa ZR 8/21, Rdnr. 37). Der Senat hat die Klagepartei hierzu im Termin zur mündlichen Verhandlung befragt. Danach hat der Kläger zwar wohl noch Ende des Jahres 2015 vom Dieselskandal allgemein Kenntnis erlangt; keinesfalls hat er jedoch noch im Jahr 2015 von der konkreten Betroffenheit seines Fahrzeuges erfahren. Der Kläger machte einen glaubwürdigen Eindruck und seine Ausführungen waren in sich widerspruchsfrei sowie überzeugend; freimütig hat der Kläger auch den Empfang des Halteranschreibens im Jahr 2016 eingeräumt und nachvollziehbar geschildert, warum er davon ausging, er sei mit seinem Audi-Fahrzeug nicht vom VW-Abgasskandal betroffen.
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Zur Überzeugung des Senats war hier auch die Nichtverschaffung der konkreten Kenntnis von der konkreten Betroffenheit noch im Jahr 2015 - auch bei Unterstellung einer allgemeinen Kenntnis vom „Dieselskandal“ im Jahr 2015 - nicht grob fahrlässig i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, und zwar auch unter Berücksichtigung der insofern breiten Medienberichterstattung, Information der Händler wie Servicepartner und Schaffung einer Abfragemöglichkeit im Internet. Der Zeitraum vom Bekanntwerden des „Dieselskandals“ im September 2015 bis zum 31.12.2015 war recht kurz. Auch bei Unterstellung einer Kenntnis vom „Dieselskandal“ allgemein noch im Jahr 2015 hat die Klagepartei nachvollziehbar dargelegt, dass sie dies jedenfalls zunächst nicht auf Audi bezogen hat. Ferner hat nach dem Beklagtenvortrag u.a. die … AG innerhalb dieses Zeitraums fortlaufend informiert zur Kooperation mit dem KBA, den so geplanten Abhilfemaßnahmen und Ankündigungen zu deren Umsetzung (Klageerwiderung, S. 23 ff.; Bl. 318 d.A.). Ein Zuwarten, zumindest bis zum Ende des Jahres 2015 war damit jedenfalls nicht schlechterdings unverständlich; der Senat nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Rdnr. 12+35, Urteilsserie vom 10.02.2022, Az.: VII ZR 396/21, Rdnr. 21 ff., Az.: VII ZR 679/21, Rdnr. 24 ff., Az.: VII ZR 692/21, Rdnr. 25 ff., vom 21.02.2022, Az.: VIa ZR 8/21, Rdnr. 38 ff.).
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Die Zustellung der Klage vom 30.12.2019 erfolgte zwar erst am 02.03.2020; dies stellt sich hier aber gleichwohl noch als „demnächst“ i.S.d. § 167 ZPO dar. Denn nachdem seitens des Landgerichts der Gerichtskostenvorschuss erst mit den Klägervertretern am 13.02.2020 zugestellter Verfügung vom 12.02.2020 angefordert worden war, wurde daraufhin der Vorschuss bereits am 17.02.2020 und somit nicht erst vorwerfbar verspätet einbezahlt (siehe z.B. Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 167 ZPO, Rdnr. 15 m.w.N.; Thomas/Putzo/Hüßtege, 43. Aufl. 2022, § 167 ZPO, Rdnr. 11 f. m.w.N.).
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5. Im Wege der Vorteilsanrechnung ist das streitgegenständliche Fahrzeug herauszugeben und das Eigentum zu übertragen sowie ein Ersatz der gezogenen Nutzungen vorzunehmen (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 65 ff.).
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Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Der Senat schätzt in Anbetracht des festgestellten Fahrzeugtyps sowie der konkreten Nutzung die mögliche Gesamtlaufleistung auf 200.000 km. Mit dieser Schätzung bewegt sich der Senat innerhalb der Bandbreite der von anderen Gerichten jeweils vorgenommenen Schätzung der gesamten Laufleistung (u.a. BGH, Urteil vom 27.07.2021, Az.: VI ZR 480/19, Rdnr. 26). Weitere aussagekräftige Umstände, welche die zu erwartende Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs beeinflussen, sind weder dargetan noch ersichtlich.
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Der Senat stellt in ständiger Rechtsprechung auf die nach der Rechtsprechung des BGH gebilligte lineare Berechnung des Nutzungsersatzes ab. Aus der grundsätzlichen Billigung einer linearen Berechnungsmethode folgt zwar nicht zwingend, dass andere Berechnungsmethoden unzulässig wären, da dem Tatrichter nach § 287 ZPO ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt wird. Da der Schaden aber in dem ungewollten Vertragsschluss liegt, ist der vom Bundesgerichtshof erfolgte Rückgriff auf die Wertung des Nutzungsersatzes nach § 346 Abs. 2 Nr. 2 BGB aber folgerichtig. Der Senat folgt ausdrücklich nicht dem Ansatz, den Wert der Nutzung eines Neuwagens höher anzusetzen als den eines älteren Fahrzeugs. Die lineare Berechnung ist dem Geschädigten zumutbar und entlastet die Schädigerin nicht unangemessen. Sie entspricht schon vom Wortlaut den „gezogenen Nutzungen“. Entgegen dem Einwand der Beklagten ist eine Ausweitung der Vorteilsanrechnung - etwa wegen des Wertverlusts des Fahrzeugs - nicht angezeigt (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 36, vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 15, vom 20.07.2021, Az.: VI ZR 533/20, Rdnr. 33, vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Rdnr. 46, vom 21.04.2022, Az.: VI ZR 285/21).
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Danach errechnet sich bei Berücksichtigung der Nutzung des Fahrzeugs bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit einer Kilometerleistung von insgesamt 72.183 km ein Erstattungsanspruch i.H.v. 20.175,91 €.
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6. Die Klagepartei hat die Beklagte nicht in Annahmeverzug versetzt.
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Der Feststellungsantrag zum Annahmeverzug ist zwar zulässig, §§ 756, 726 Abs. 1 ZPO; er ist aber unbegründet, weil die Voraussetzungen der §§ 293, 295 BGB vorliegend nicht erfüllt sind. Die Klagepartei hat die Beklagte nicht in Annahmeverzug versetzt. Das anwaltliche Mahnschreiben vom 23.12.2019 (Anlage K11) war hierzu nicht geeignet; aber auch im Laufe des Prozesses ist durch die Antragstellung kein Annahmeverzug eingetreten. Denn die Klagepartei hatte anfangs - nicht geschuldete - Deliktszinsen (dazu sogleich) gefordert und die (zur Berechnung der Nutzungsentschädigung notwendige) mögliche Gesamtlaufleistung zu hoch angesetzt hat (zunächst vorgerichtlich 350.000 km, sodann 300.000 km, vgl. Anlage K11 und Bl. 83 ff. d.A.). Damit hat die Klagepartei durchgängig wesentlich zu viel gefordert, was die Entstehung von Annahmeverzug ausschließt (BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Rdnr. 50, vom 29.06.2021, Az.: VI ZR 130/20, Rdnr. 16, vom 18.05.2021, Az.: VI ZR 167/20, Rdnr. 15, vom 02.02.2021, Az. VI ZR 449/20, Rdnr. 9, vom 19.01.2021, Az.: VI ZR 8/20, Rdnr. 18, vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 85). Auch die Antragstellung betreffend die Berufung der Beklagten ergibt vorliegend, dass die Klagepartei - wie oben dargelegt - nach wie vor einen deutlich höheren Schadenersatz fordert, als er ihr zusteht; dies hindert daher nach wie vor den Eintritt von Annahmeverzug.
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7. Der Anspruch ist nicht bereits ab 29.12.2019 wegen Verzugs zu verzinsen, sondern erst ab Rechtshängigkeit, mithin ab 03.03.2020, §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2, 187 Abs. 1 BGB.
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Der Klagepartei steht kein Anspruch auf Verzugszinsen zu gem. §§ 288, 286 Abs. 1, 2 BGB. Das anwaltliche Aufforderungsschreiben wirkte nicht verzugsbegründend; auf die vorstehenden Ausführungen wird Bezug genommen. Andere verzugsbegründende Umstände sind nicht ersichtlich, insbesondere weder unter dem Gesichtspunkt „fur semper in mora“ noch unter dem Aspekt einer ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung, § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 22, vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 26 f., vom 19.01.2021, Az.: VI ZR 8/20, Rdnr. 17 ff., BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Rdnr. 51).
52
Die vom Senat vorgenommene Zinsstaffel trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klagepartei die auf den Kaufpreiserstattungsanspruch anzurechnenden Nutzungsvorteile zum Teil erst zwischen dem Eintritt der Rechtshängigkeit und dem Schluss der mündlichen Verhandlung erlangt hat (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 38). Maßgeblich ist danach, in welcher Höhe unter Berücksichtigung der anzurechnenden Nutzungsvorteile bei Eintritt der Rechtshängigkeit eine verzinsliche Hauptforderung bestand und wie sich diese im Laufe des Verfahrens angesichts der fortlaufenden Nutzung des Fahrzeugs entwickelte (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 23).
53
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erster Instanz (16.06.2020) bestand eine Hauptforderung von 23.014,21 €; zu demjenigen der mündlichen Verhandlung zweiter Instanz (30.05.2022) von 20.175,91 €. Weil die Fahrleistung des Autos während des Zinszeitraums nicht taggenau nachvollzogen werden kann, ist der Senat im Wege der Schätzung gemäß § 287 ZPO von einer gleichmäßigen Nutzung ausgegangen, also von einer linearen Entwicklung des Kilometerstandes; dies deckt sich auch mit den betreffenden Angaben des informatorisch angehörten Klägers (Protokoll vom 30.05.2022, S. 3 = Bl. 556 d.A.). Diese lineare Entwicklung berücksichtigt der Senat in der Weise, dass für die dazwischen liegenden Zinszeiträume ein Mittelwert zugrunde gelegt wird. Der Senat hat (auf der Basis einer durchschnittlichen monatlichen Fahrleistung von etwa 914 km und eines Kilometerstands von 54.202 km am 16.06.2020 zudem geschätzt, dass sich der Kilometerstand bei Eintritt der Rechtshängigkeit (02.03.2020) auf rund 51.460 km belief, so dass die Hauptforderung damals auf rund 23.447,00 € lautete.
54
8. Es besteht kein Anspruch auf Ersatz der Rechtsanwaltskosten nach §§ 826, 31, 249 BGB.
55
Bei der Beurteilung der Frage, ob und in welchem Umfang der dem Geschädigten zustehende Schadensersatzanspruch auch die Erstattung von Rechtsanwaltskosten umfasst, ist zwischen dem Innenverhältnis des Geschädigten zu dem für ihn tätigen Rechtsanwalt und dem Außenverhältnis des Geschädigten zum Schädiger zu unterscheiden. Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch ist grundsätzlich, dass der Geschädigte im Innenverhältnis zur Zahlung der in Rechnung gestellten Kosten verpflichtet ist und die konkrete anwaltliche Tätigkeit im Außenverhältnis aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig war (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 25, vom 22.06.2021, Az.: VI ZR 353/20, Rdnr. 5 ff., vom 24.01.2022, Az.: VIa ZR 100/21, Rdnr. 12 f.).
56
Die Rüge der Beklagten zur mangelnden Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit (Bl. 356 ff. d.A.) greift durch. Die im anwaltlichen Mahnschreiben (Anlage K11) gesetzte Frist war kurz bemessen, sie betrug weniger als eine Woche und erstreckte sich über die Weihnachtsfeiertage. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass kein ernsthaftes Interesse an einem vorgerichtlichen Vergleichsschluss bestand.
III.
57
1. Die Kostenentscheidung erster Instanz beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO, die Kostenentscheidung zweiter Instanz auf §§ 97, 92 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die erhobene Forderung von Deliktszinsen ist zu Lasten der Klagepartei zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 24.03.2022, Az.: VII ZR 266/20, Rdnr. 32). Es besteht kein Anspruch auf Deliktszinsen; auf die ständige Rechtsprechung des BGH wird Bezug genommen (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 17 ff., vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 21 ff.).
58
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
59
3. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die maßgeblichen Rechtsfragen zur Haftung in der Folge des Dieselabgasskandals, insbesondere im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit i.S.v. § 826 BGB wie auch die Anforderungen an den Vortrag der Parteien sind mittlerweile höchstrichterlich geklärt (deutlich: BGH, Beschluss vom 29.09.2021, Az.: VII ZR 223/20, Rdnr. 8, vom 15.09.2021, VII ZR 2/21, Rdnr. 4, 24). Dies gilt auch in Bezug auf eine Haftung der Beklagten bei Fahrzeugen ihrer Herstellung mit Motoren EA189 (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Beschluss vom 15.09.2021, Az.: VII ZR 52/21, Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Urteilsserie vom 25.11.2021: Az.: VII ZR 238/20, VII ZR 243/20, VII ZR 257/20 und VII ZR 38/21, Urteil vom 21.12.2021, Az.: VI ZR 875/20, Beschluss vom 12.01.2022, Az.: VII ZR 256/20, vom 27.01.2022, Az.: III ZR 195/20, Urteil vom 24.03.2022, Az.: VII ZR 266/20). Es ist Aufgabe der Instanzgerichte, diese Rechtsgrundsätze auf den jeweils vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Divergierende Ergebnisse aufgrund der Würdigung des jeweils vorgetragenen Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht begründen indes keine Divergenz i.S. des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO. Von einer Divergenz in diesem Sinne ist vielmehr nur dann auszugehen, wenn den Entscheidungen sich widersprechende abstrakte Rechtssätze zugrunde liegen (BGH, Beschluss vom 09.07.2007, Az.: II ZR 95/06, Rdnr. 2).