OLG München, Beschluss v. 04.08.2022 – 27 U 2107/22
Titel:
Keine Aussetzung von sog. Diesel-Verfahren
Normenketten:
ZPO § 148
BGB § 823 Abs. 2
EG-FGV § 6, § 27
AEUV Art. 267
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
Leitsätze:
1. Hat ein anderes Gericht in einer Rechtssachen, die der beim nunmehr befassten Gericht anhängigen ähnelt und die gleiche Problematik betrifft, dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 - 3 AEUV vorgelegt, ist das befasste Gericht nicht verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten und das bei ihm rechtshängige Verfahren analog § 148 ZPO auszusetzen (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Bundesgerichtshof wollte mit seiner Presseerklärung vom 01.07.2022 keine Wartepflicht der Instanzgerichte statuieren. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 haben nur solche Schäden im Blick, die dadurch entstehen, dass ein Fahrzeug nicht zugelassen oder nicht weiterveräußert werden kann. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, Vorabentscheidungsersuchen, Aussetzung, drittschützende Wirkung, Schlussanträge, Generalanwalt, Pressemitteilung des BGH, Wartepflicht
Vorinstanz:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 20.06.2022 – 27 U 2107/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19999
Tenor
1. Der Antrag der Klägerin, das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Rechtsstreits vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-100/21 auszusetzen, wird zurückgewiesen.
Auf Antrag der xx vom 01.08.2022 wird die Frist zur Stellungnahme auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 20.06.2022 verlängert bis 01.09.2022.
Gründe
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1. Der Senat hat die Argumentation in dem Schriftsatz der Klägerin vom 01.08.2022 geprüft, hält aber an seiner im Hinweisbeschluss vom 20.06.2022 dargelegten Rechtsauffassung fest. Auch die Stellungnahme des Generalanwaltes beim Europäischen Gerichtshof vom 02.06.2022 - C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, gibt zu einer Aussetzung des Verfahrens keine Veranlassung. In Anwendung seines richterlichen Ermessens hält der Senat weiterhin (vgl. Hinweisbeschluss vom 20.06.2022, S. 20 f.) eine Aussetzung des Verfahrens nicht für sachgerecht.
2
a) Der Senat hat die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, insbesondere die Urteile des EuGH vom 17.12.2020 - C-693/18, NJW 2021, 1216 und vom 14.07.2022 (C-128/20, BeckRS 2022, 16622, C-134/20, BeckRS 2022, 16621, C-145/20, BeckRS 2022, 16620) ausgewertet und seine Entscheidung hieran orientiert. Auf dieser Grundlage hat der Senat unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die Überzeugung gebildet, dass vorliegend die richtige Anwendung des Unionsrechts, insbesondere die Frage des Drittschutzes des Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 und der RL 2007/46/EG angesichts des Wortlauts, der Regelungssystematik und des Regelungszwecks des geltenden Unionsrechts derartig offenkundig zu beantworten ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 04.08.2021 - VII ZR 280/20, BeckRS 2021, 28852 Rn. 1; BGH, NJW 2020, 2798, 2799 f.) und der Senat hierdurch auch nicht von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht. Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Der Senat ist nicht bereits deshalb zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, weil einzelstaatliche Gerichte in Rechtssachen, die der beim Senat anhängigen ähneln und die gleiche Problematik betreffen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 - 3 AEUV vorgelegt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 - C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 8..1095 BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Ebenso wenig ist der Senat verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten und das bei ihm rechtshängige Verfahren analog § 148 ZPO auszusetzen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 - C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Der Bundesgerichtshof hat dies jüngst mit Beschluss vom 14.06.2022 - VIII ZR 409/21, BeckRS 2022, 15514 für eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (wiederum durch das Landgericht Ravensburg) zum Verhältnis zwischen Verbraucherkreditlinie und Kilometerleasingverträgen nochmals ausdrücklich bestätigt.
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Eine Verpflichtung der Instanzgerichte, Verfahren aus dem Bereich der sogenannten Abgasthematik bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/21 auszusetzen, ist auch der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2022, Nr. 104/2022, zur Sache VIa ZR 335/21 nicht zu entnehmen. Eine solche Verpflichtung besteht nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesgerichtshofs im Falle von Vorabentscheidungsersuchen anderer nationaler Gerichte gerade nicht (s. o.). Demzufolge hat der Senat auch keinen Anlass anzunehmen, dass der Bundesgerichtshof mit seiner Presseerklärung vom 01.07.2022 im Verfahren VIa ZR 335/21 hiervon abweichen und eine Wartepflicht der Instanzgerichte statuieren wollte. Der Senat versteht diese Pressemitteilung vielmehr dahin, dass der Bundesgerichtshof gelegentlich der Verhandlung am 21.11.2022 denjenigen Gerichten, die in Ausübung ihres richterlichen Ermessens ein Abwarten der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für tunlich erachtet haben, die sich aus einer bis dahin erwarteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für die bundesdeutsche Ziviljustiz ergebenden Konsequenzen nahebringen will (vgl. Senat, Beschluss vom 08.07.2022 - 27 U 4021/21). Auch der Hinweis der Klägerin, dass der 7. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in Ansehnung der bevorstehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bzw. des Votums des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof vom 02.06.2022 einen bevorstehenden Verhandlungstermin in dem Verfahren Az. VII ZR 412/21 aufgehoben habe, gebietet insoweit keine andere Entscheidung.
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b) Ein Grund zur Aussetzung des Verfahrens gemäß § 148 ZPO (analog) liegt nicht vor. Die ausstehende Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 zu der Frage, ob Bestimmungen der RL 2007/46/EG Drittschutz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB vermitteln, ist für den anhängigen Rechtsstreit nicht vorgreiflich. Daran ändern auch die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 nichts (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 18.07.2022 - 7 U 198/21, BeckRS 2022, 18482 Rn. 27), zumal nach Art. 252 Abs. 2 AEUV der Generalanwalt öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Europäischen Gerichtshofs seine Mitwirkung erforderlich ist, stellt und der Europäische Gerichtshof weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden ist (vgl. EuGH, NJW 2020, 667 Rn. 49).
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aa) Zwar haben ausweislich der Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 19.12.2019, Rn. 75 ff., in der aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Gera inzwischen aus dem Register des Europäischen Gerichtshofs gestrichenen Rechtssache C-663/19 die RL 2007/46/EG und die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 insofern drittschützende Wirkung zugunsten der Fahrzeugerwerber, als deren Interesse betroffen ist, „dass ein erworbenes Fahrzeug zur Nutzung im Straßenverkehr zugelassen wird und dass diese Nutzung nicht aufgrund mangelnder Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ bzw. den für diesen Typ geltenden Rechtsvorschriften untersagt wird“. Der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst aber selbst der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 keine Wirkung zum Schutz der Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, zu (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.07.2022 - 2 U 3838/21, BeckRS 2022, 16603 Rn. 17 unter Hinweis auf Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 - C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, Rn. 41). Selbst wenn man der Auffassung des Generalanwalts folgen sollte, dass die Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG dahingehend auszulegen seien, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist (vgl. Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 - C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, Rn. 50), ändert dies nichts daran, dass die RL 2007/46/EG selbst mangels unmittelbarer Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) als Schutzgesetz ausscheidet (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.07.2022 - 2 U 3838/21, BeckRS 2022, 16603 Rn. 18 ff.; Grüneberg/Sprau, BGB, 81. Auflage 2022, § 823 Rn. 57 m. w. N.).
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bb) Unabhängig von der Frage, ob die Vorschriften der RL 2007/46/EG bzw. die zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV auch drittschützend sind, ist die Rückabwicklung eines angeblich ungewollten Vertrags nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls nicht vom Schutzzweck des Typgenehmigungsrechts erfasst. Neben weiteren Voraussetzungen kommt es für einen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB nämlich darauf an, dass sich im konkreten Schaden die Gefahr verwirklicht hat, vor der die betreffende Norm schützen sollte (vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 73; OLG Schleswig, Beschluss vom 18.07.2022 - 7 U 198/21, BeckRS 2022, 18482 Rn. 29). Das - auch hier - geltend gemachte wirtschaftliche Selbstbestimmungsinteresse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liegt nicht im sachlichen Aufgabenbereich der Vorschriften des Typgenehmigungsrechts bzw. des deutschen Umsetzungsrechts (vgl. BGH, Urteil vom 24.03.2022 - III ZR 270/20, BeckRS 2022, 10055 Rn. 28; BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 75 f.; OLG Schleswig, Beschluss vom 18.07.2022 - 7 U 198/21, BeckRS 2022, 18482 Rn. 29). Daran haben auch die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 nichts geändert. Die Schlussanträge haben nur solche Schäden im Blick, die dadurch entstehen, dass ein Fahrzeug nicht zugelassen oder nicht weiterveräußert werden kann (vgl. Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 - C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, Rn. 48). Schäden, die aus einer etwaig ungültigen und auch den Käufer schützenden Übereinstimmungsbescheinigung resultieren - z. B. Schäden aus einer verzögerten Fahrzeugzulassung oder einer konkret drohenden Betriebsuntersagung -, machen Kläger aber regelmäßig nicht geltend, wenn sie behaupten, einen vermeintlich ungewollten Vertrag rückgängig machen zu wollen (vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 74 ff.; OLG Schleswig, Beschluss vom 18.07.2022 - 7 U 198/21, BeckRS 2022, 18482 Rn. 29).
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cc) So liegt der Fall auch hier. Das Fahrzeug der Klägerin ist zugelassen und die Betriebserlaubnis nicht wieder entzogen worden. Als verletztes Schutzgut macht die Klägerin ihr wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht und damit den Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags geltend (vgl. Berufungsbegründung, S. 52). Der Bundesgerichtshof war berechtigt, die Frage, ob ein bestimmtes Interesse dem sachlichen Schutzbereich einer Norm unterfällt, selbst zu entscheiden. Denn die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs eines Schutzgesetzes obliegt den nationalen Gerichten (vgl. EuGH, NVwZ 2013, 565 Rn. 45 ff.; BGH, NVwZ 2022, 896 Rn. 11; Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 - C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, Rn. 55, 61). Der Bundesgerichtshof geht davon aus, dass bei Verfahren, in denen lediglich eine Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts geltend gemacht wird, sämtliche für den Fall relevanten europarechtlichen Fragestellungen geklärt sind (sog. „acte clair“, vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 74 ff.). Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass, im Hinblick auf das von der Klägerin im Schriftsatz vom 01.08.2022 in Bezug genommene Votum des Generalanwalts in der Rechtssache C-100/21 im vorliegenden Berufungsverfahren ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der vorgenannten Rechtssache abzuwarten (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 18.07.2022 - 7 U 198/21, BeckRS 2022, 18482 Rn. 39 m. w. N.). Der Senat schließt sich den überzeugenden Erwägungen des Bundesgerichtshofs an (vgl. BGH, Urteil vom 24.03.2022 - III ZR 270/20, BeckRS 2022, 10055 Rn. 29 m. w. N.). Die Berufungsbegründung und die Ausführungen im Schriftsatz der Klägerin vom 01.08.2022 geben keinen Anlass, davon abzuweichen.
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2. Die Klägerin wird darauf hingewiesen, dass in Anbetracht der bereits großzügig bemessenen Frist zur Stellungnahme mit weiterer Fristverlängerung aufgrund hoher Arbeitsbelastung ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr gerechnet werden kann.