VG München, Urteil v. 03.05.2022 – M 3 K 17.2574
Titel:
Vorläufiger Ausschluss vom Schulbesuch
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
BayEUG Art. 87 Abs. 1
Leitsätze:
1. Hat eine Sicherungsmaßnahme für den Schüler dieselben - auch sozialen - Auswirkungen wie die Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule bei schulischer Gefährdung, ist die Möglichkeit einzuräumen, nach Erledigung der Maßnahme zur Rehabilitation ihre Rechtmäßigkeit klären zu lassen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein vorläufiger Ausschluss vom Schulbesuch wird rechtswidrig, wenn ein Verfahren zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 S. 2 BayEUG genannten Entscheidungen nicht betrieben wird. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage, Rehabilitationsinteresse, Sicherungsmaßnahme, Keine Einleitung eines Überweisungsverfahrens, keine Einleitung eines Überweisungsverfahrens
Fundstelle:
BeckRS 2022, 11675
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Grundschule G. vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des staatlichen Schulamts F. vom 10. Mai 2017 rechtswidrig gewesen ist.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des vorläufigen Ausschlusses der Klägerin vom Besuch der Schule.
2
Die am 16. Dezember 2007 geborene Klägerin wurde zum Schuljahr 2014/15 an der Grundschule G. - Ährenfeldschule - (im Folgenden: die Schule) eingeschult.
3
Laut einem ärztlichen Bericht vom 27. November 2014 von Dr. F., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, liegen bei der Klägerin eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10 F90.1), Anpassungsstörungen (F43.2), eine umschriebene Entwicklungsstörung der Fein- und Graphomotorik (F82.1) und eine nicht näher bezeichnete binokulare Sehbeeinträchtigung (H54.9) vor. Die Klägerin zeige sehr ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten und könne nur stundenweise beschult werden. Sie benötige dringend die Unterstützung durch einen Integrationshelfer und solle Verhaltenstherapie erhalten.
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Mit Bescheid der Schule vom 24. Februar 2015 wurde die Klägerin vom 25. bis 27. Februar 2015 vom Unterricht ausgeschlossen wegen der Missachtung von Regeln, des Beschimpfens von Lehrkräften, des Schleuderns ihrer Hausschuhe und des Kratzens einer Lehrkraft.
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Laut förderdiagnostischem Bericht des Sonderpädagogischen Förderzentrums G. vom 15. März 2015 bestehe bei der Klägerin ein hoher sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich sozial-emotionale Entwicklung mit deutlichen Anpassungsschwierigkeiten an die schulischen Anforderungen, einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten und deutlichem Leidensdruck durch anhaltende schulische Misserfolgserlebnisse.
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Von März bis Mai 2015 wurde die Klägerin vorübergehend einzeln und verkürzt beschult, ab 19. Mai 2015 erhielt die Klägerin eine Schulbegleitung und wurde wieder in der Klasse, jedoch weiterhin verkürzt beschult.
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Mit Bescheid der Schule vom 4. August 2015 wurde die Klägerin auf Wunsch der Eltern für das Schuljahr 2015/16 in die Parallelklasse versetzt.
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Im Schuljahr 2015/16 besuchte die Klägerin vom 15. September bis 27. November 2015 die C. Schule.
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Am 8. April 2016 erhielt die Klägerin einen Verweis wegen Schubsens von Mitschülern auf dem Schulweg, Unterrichtsstörungen und Schlagen der Schulbegleitung und der Lehrkraft.
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Am 14. Juni 2016 wurde der Klägerin ein Verweis erteilt wegen Stoßens der Lehrkraft, Schlagens einer Mitschülerin und Handgreiflichkeiten gegenüber der Schulbegleitung.
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Im Schuljahr 2016/17 erhielt die Klägerin am 30. September 2016 einen Verweis wegen massiver Unterrichtsstörung und körperlicher Gewalt gegenüber der Schulbegleitung und einer Mitschülerin am 29. September 2016.
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Mit Bescheid der Schule vom 7. Oktober 2016 wurde die Klägerin bis auf weiteres vom Besuch des Unterrichts ausgeschlossen. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, die Klägerin störe täglich massiv den Unterricht, widersetze sich Regeln und Anweisungen und zeige aggressive Verhaltensweisen. Ein geregelter Unterricht sei nicht möglich. Am 30. September 2016 habe sie ihre Schulbegleitung geschlagen. Am 7. Oktober 2016 habe sie ihre Schultasche auf die Schulbegleitung geworfen. Die Schulbegleitung sei abgezogen worden, ein Ersatz nicht möglich.
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Mit Schreiben vom 12. Oktober 2016 legte die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten hiergegen Widerspruch ein.
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Mit Bescheid vom 25. Oktober 2016 hob die Schule den Bescheid vom 7. Oktober 2016 auf.
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Mit weiterem Bescheid vom 25. Oktober 2016 schloss die Schule die Klägerin längstens bis zu einer Entscheidung über die Überweisung an eine andere geeignetere Schulform vom Unterricht aus. Der Unterrichtsausschluss beginne mit Zugang des Schreibens, spätestens am 27. Oktober 2016. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin gefährde in erheblicher Weise die Gesundheit von Schülern, Lehrkräften und den ihr zur Seite gestellten Integrationshelfern. Am 20. September 2016 habe sie ihren Kopf gegen die Wand geschlagen. Am 23. September 2016 habe sie eine Schultasche gegen einen Mitschüler geworfen und die Auszeit verweigert. Außerdem habe sie einen Sitzwürfel gegen eine Mitschülerin geworfen, wiederum die Auszeit verweigert und ihre Schulbegleitung getreten. Am 26. September 2016 habe sie einen Stuhl durch das Klassenzimmer geworfen. Am 29. September 2016 habe sie eine Mitschülerin getreten und ihre Schulbegleitung geschlagen und getreten. Am 7. Oktober 2016 habe sie ihre Schultasche gegen ihre Schulbegleitung geworfen. Häufigkeit und Intensität der Vorfälle steigerten sich. Die Klägerin zerstöre auch fremdes Eigentum, wie ein Federmäppchen einer Mitschülerin und ein Bodenbild einer Lehrkraft. Die bisherigen Maßnahmen hätten nur kurzfristig Erfolg gehabt. Die Interessen der anderen Kinder, der Lehrkräfte und Schulbegleitungen hätten Vorrang vor einem weiteren Schulbesuch der Klägerin.
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Am 15. November 2016 fand ein Gespräch zwischen den Eltern der Klägerin, ihrem Bevollmächtigten sowie Vertretern der Schule, des Jugendamts, des Staatlichen Schulamts F. (im Folgenden: Schulamt) und der schulpsychologischen Beratung im Landkreis F. statt. Als zeitnah zu realisierende Beschulungsmöglichkeiten wies das Jugendamt auf eine Beschulungsmöglichkeit mit Unterbringung in einer Wohngruppe in L. oder E. hin; eine Beschulung in der Regelschule scheitere derzeit am Fehlen einer passenden Schulbegleitung. Nahegelegene Förderschulen hätten keinen freien Schulplatz. Hausunterricht käme als Übergangslösung in Betracht. Seitens der Eltern wurde eine Beschulung in L. und E. abgelehnt.
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Mit Schreiben vom 28. November 2016 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2016.
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Mit Schreiben vom selben Tag forderte der Bevollmächtigte der Klägerin Schule, Schulamt und Jugendamt auf, für eine Wiederbeschulung der Klägerin zu sorgen.
Hausunterricht könne nur eine Überbrückung sein. Seitens der Klägerin habe man schon Kontakt zu einigen E-Schulen aufgenommen. Nachdem es Konsens gewesen sei, dass in einer solchen Einrichtung die Klägerin am besten aufgehoben sei, sei es nun Aufgabe des Schulamts, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen.
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Mit am 21. Dezember 2016 versandten Schreiben teilte das Schulamt dem Bevollmächtigten der Klägerin mit, das Schulamt werde keine eigenen Lösungen im Alleingang vorschlagen. Die erfolgversprechendste Lösung, die Beschulung an einem Förderzentrum mit vollstationärer Unterbringung, werde von den Eltern der Klägerin abgelehnt. Antrag auf Hausunterricht sei nicht gestellt worden. Nachdem erst am 15. November 2016 klar geworden sei, was die Eltern wünschten, würden die zuständigen Stellen weitere Möglichkeiten prüfen.
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Mit Schreiben vom 15. Februar 2017 begründete die Klägerin den Widerspruch und führte im Wesentlichen aus, Art. 87 Abs. 1 BayEUG erlaube keine endgültigen Maßnahmen. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 1 BayEUG nicht vor. Zu den im Bescheid erwähnten Vorfällen wurde Stellung genommen. Eine Selbstgefährdung (wie am 20. September 2016) sei nicht tatbestandsmäßig. Am 23. September 2016 sei ein Streit der Klägerin mit der Schulbegleitung vorausgegangen. Die Klägerin habe einen Sitzwürfel geworfen, aber niemanden verletzt. Am 29. September 2016 sei die Klägerin gegen eine Mitschülerin gekippt; die Schule habe dann um ihre Abholung gebeten. Die Mutter habe bei Abholung gehört, dass die Klägerin die Schulbegleitung gefragt habe, warum diese sie an den Haaren ziehe. Am 7. Oktober 2016 sei die Klägerin zum Verlassen des Klassenzimmers aufgefordert worden und sei - darüber aufgebracht - über das Bodenbild der Lehrkraft gelaufen. Im Gang habe sie leicht den Hausschuh auf die Schulbegleitung geworfen, die diesen zurückgeworfen und die Klägerin am Bauch getroffen habe. Die Klägerin habe daraufhin den Schulranzen geworfen. Hieraus sei ersichtlich, dass die Schulbegleitung nicht passend gewesen sei. Die vorgeworfene Zerstörung fremden Eigentums sei übertrieben und nicht tatbestandsmäßig. Die Klägerin habe nicht hinreichend Gelegenheit zur Äußerung erhalten.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 2017, zugestellt am selben Tag, wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Die Selbstgefährdung der Klägerin am 20. September 2016 beeinträchtige zugleich die psychische Gesundheit ihrer Klassenkameraden. Die im Bescheid zugrunde gelegten Vorfälle seien durch die Beobachtungen der Klassenlehrerin bestätigt. Vom Verhalten der Klägerin gingen wiederholt Gesundheitsgefahren aus. Der zeitliche Aspekt der Maßnahme sei nicht zu beanstanden. Auf die weitere Begründung wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2017, bei Gericht eingegangen am selben Tag, hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht München erheben lassen und die Aufhebung des Bescheids vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2017 beantragt. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 1 BayEUG lägen nicht vor, da diese Norm voraussetze, dass eine Entscheidung nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG bereits ergangen oder angestrebt sei, woran es hier fehle. Faktisch handele es sich um einen unbefristeten Schulausschluss, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 86 BayEUG gegeben wären. Die Maßnahme sei nicht erforderlich, da der Besuch der Regelschule mit einer geeigneten Schulbegleitung möglich sei. Auch einem Hausunterricht hätte die Klägerin als Zwischenlösung zugestimmt, weitere Vorschläge hierzu seien jedoch seitens des Beklagten unterblieben. Im Hinblick auf die behauptete Gesundheitsgefährdung durch die Klägerin werde auf das Vorbringen im Widerspruchsverfahren Bezug genommen. Unzutreffend werde davon ausgegangen, dass frühere Maßnahmen wie die Versetzung in die Parallelklasse keinen Erfolg gezeigt hätten. Falsch sei die Darstellung der vermeintlichen Angebote zur weiteren Beschulung der Klägerin im Widerspruchsbescheid. Die Unterstützung durch eine sozialpädagogische Familienhilfe sei von den Eltern nicht abgelehnt worden, der Zusammenhang mit der Beschulung sei aber nicht ersichtlich. Schulamt und Jugendamt hätten bei der Suche nach einer geeigneten Einrichtung nicht unterstützt. Das Angebot einer Beschulung in Leutkirch oder Eichstätt bei Unterbringung in einer Wohngruppe sei nicht geeignet, da die Klägerin ein stabiles Umfeld brauche. Das Angebot einer Beschulung an der Schule für Kranke passe nicht zum Förderbedarf der Klägerin.
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Mit Schriftsatz vom 18. März 2020 wird ausgeführt, die Klägerin habe ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aufgrund einer möglichen Wiederholungsgefahr und ein Rehabilitationsinteresse, zudem sei die spätere Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Hinblick auf die angefallenen Kosten für die Betreuung der Klägerin denkbar. Die Klägerin beantragt zuletzt
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festzustellen, dass der Bescheid der Grundschule G. vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des staatlichen Schulamts F. vom 10. Mai 2017 rechtswidrig war.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Zur Begründung wird auf die Ausführungen in Bescheid und Widerspruchsbescheid und in der Stellungnahme des Schulamts vom 28. Juli 2017 Bezug genommen. Darin wird neben Ausführungen zum Sachverhalt weiter vorgetragen, dass nach Einschaltung der Schulberatungsstelle Oberbayern-West dieser die Federführung bei der Suche nach einer geeigneten Schule für die Klägerin übertragen worden sei. Den Eltern seien mehrere Vorschläge gemacht worden, die diese als nicht passend angesehen hätten. Zum Hausunterricht sei darauf hingewiesen worden, dass ein Antrag durch die Eltern zu stellen sei. Von einem endgültigen Schulausschluss könne nicht gesprochen werden. Ab dem Schuljahr 2017/18 stehe ein Schulplatz an der W. Schule zur Verfügung. Im Januar 2017 habe die Schule für Kranke des Klinikums Schwabing einen Schulplatz für die Klägerin für den Rest des Schuljahres angeboten. Die angefochtene Maßnahme sei auch erforderlich gewesen. Die Klägerin habe bereits fünf Schulbegleiter gehabt, die ihre Tätigkeit niedergelegt hätten; diese hätten die Gewaltausbrüche der Klägerin nicht verhindern können. Es stünden keine geeigneten Fachkräfte als Schulbegleiter zur Verfügung. Die soziale Integration der Klägerin in den Klassenverband sei in die Abwägung mit eingestellt worden. Allerdings sei es der Klägerin nur mit Hilfe des Integrationshelfers gelungen, Kontakt zu Mitschülern aufzubauen; eine Freundschaft habe nur mit einem Kind bestanden. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin auch mit Unterstützung des Integrationshelfers teilweise ohne Vorwarnung körperlich aggressiv gegenüber Mitschülern gewesen sei, sie im Klassenverband eher als Einzelgänger aufgetreten sei und das Klassenumfeld stetig an die Klägerin habe angepasst werden müssen, träten die Argumente für einen Verbleib der Klägerin in der Klasse in Abwägung mit der Gesundheit und dem Interesse der Mitschüler an einem geregelten Bildungsablauf zurück. Aus Sicht des Beklagten erledige sich der Rechtsstreit mit dem Besuch der W. Schule durch die Klägerin mit Beginn des Schuljahres 2017/18. Vorgelegt werden eine Stellungnahme der fachlichen Seite des Schulamts vom 20. Juli 2017, Stellungnahmen der Schulpsychologin und Klassenlehrkraft der Jahrgangsstufe 2, der Schulpsychologin P. sowie der Klassenlehrkraft der Jahrgangsstufe 3.
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Auf Anfrage des Gerichts vom 5. April 2022, ob weitere Akten vorlägen und ob, wann und inwieweit das Verfahren nach § 5 Grundschulordnung i.V.m. Art. 41 Abs. 5, 6 BayEUG durchgeführt worden sei, teilt der Beklagte mit Schriftsatz vom 19. April 2022 mit, weitere relevante Unterlagen seien beim Schulamt nicht vorhanden. Die Klägerin habe bis zum Ende der Jahrgangsstufe 4 das W.-Zentrum besucht. Es sei keine Zuweisung erfolgt. Die Eltern hätten die Schule über den dortigen Schulbesuch der Klägerin informiert und der Schülerakt sei an das W.-Zentrum übersandt worden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakte, zum Verlauf der mündlichen Verhandlung am 3. Mai 2022 auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die zulässige Klage ist begründet.
31
a) Die Klage ist zulässig.
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Die ursprünglich als Anfechtungsklage erhobene Klage hat sich jedenfalls dadurch erledigt, dass nach übereinstimmendem Vortrag der Beteiligten die Klägerin ab Beginn des Schuljahres 2017/18 an der W. Schule beschult und danach eine Rückkehr an die Schule nicht mehr angestrebt wurde. Die Klage konnte aufgrund sachdienlicher Klageänderung (§ 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO) als Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) fortgeführt werden.
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Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme ist vorliegend gegeben.
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Ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit von nach Klageerhebung erledigten Ordnungsmaßnahmen, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und vergleichbaren Maßnahmen gegenüber Schülern besteht, wenn sich die Entscheidung der Schule auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn des betroffenen Schülers nachteilig auswirken kann, ohne dass ein solcher Nachteil unmittelbar bevorstehen oder sich konkret abzeichnen muss. Ein berechtigtes Interesse kann auch sonst anzunehmen sein, wenn die Maßnahme den Schüler noch spürbar in seiner emotionalen Integrität oder in seinem sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigt oder wenn die besondere Art des (Grundrechts-) Eingriffs im Hinblick auf den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz im Einzelfall eine Anerkennung des Feststellungsinteresses verlangt, weil in der Zeit bis zum Eintritt der Erledigung eine gerichtliche Entscheidung nicht herbeigeführt werden kann und die abträglichen Nachwirkungen des erledigten Verwaltungsakts nur durch eine gerichtliche Sachentscheidung ausgeglichen werden können (BayVGH, B.v. 26.2.2013 - 7 ZB 12.2617 - NVwZ-RR 2013, 614f. m.w.N.).
35
Unabhängig davon, welche Auswirkungen die Dauer des Ausschlusses vom Unterricht von 10 Monaten für die Klägerin im Hinblick auf ihr schulisches Fortkommen haben mag, hat die Klägerin jedenfalls ein schutzwürdiges ideelles Interesse an einer Rehabilitation. Sicherungsmaßnahmen setzen eine vom Verhalten des Schülers ausgehende Gefährdung anderer, wenn auch (anders als Ordnungsmaßnahmen) nicht zwingend die Vorwerfbarkeit dieses Verhaltens voraus. Inwieweit eine Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs des betroffenen Schülers durch die damit verbundene Einschätzung als andere gefährdend eintritt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Vorliegend ist zum einen zu berücksichtigen, dass hier die Gefährdung anderer mit nach der Begründung des Bescheids vorsätzlichem Verhalten der Klägerin begründet ist, zum anderen, dass die Klägerin - auch für deren persönliches Umfeld ersichtlich - für eine sehr lange Dauer vom Schulbesuch ausgeschlossen und zugleich mangels Einleitung eines Überweisungsverfahrens die Vorläufigkeit der Maßnahme nicht ersichtlich war. Zumindest vorliegend hatte daher die Sicherungsmaßnahme für die Klägerin selbst dieselben - auch sozialen - Auswirkungen wie die Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule bei schulischer Gefährdung, so dass ihr auch die Möglichkeit einzuräumen ist, nach Erledigung der Maßnahme zu ihrer Rehabilitation die Frage der Rechtmäßigkeit der Maßnahme klären zu lassen.
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b) Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Schule vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2017 war rechtswidrig und hat die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 4, Satz 1 VwGO).
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Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, soweit der Antragsteller durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt worden ist und der betreffende Verwaltungsakt deshalb hätte aufgehoben werden müssen, wenn er sich nicht erledigt hätte (BVerwG, U.v. 3.3.1987 - 1 C 15/85 - juris Rn. 15). Maßgeblich ist daher, ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses aufzuheben gewesen wäre.
38
Abzustellen ist vorliegend auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erledigung. Sicherungsmaßnahmen nach Art. 87 Abs. 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Juli 2021 (GVBl. S. 432), in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 13. Dezember 2016 (GVBl. S. 371), sind Dauerverwaltungsakte. Die Schule soll bei akuten Gefährdungssituationen durch gewalttätige Schüler diese sofort von der Schule ausschließen können (LT-Drs. 15/5674, S. 21). Wenn Anhaltspunkte für eine Gefährdung bestehen, hat das Interesse des Schülers, von präventiven Maßnahmen verschont zu bleiben und weiterhin am Unterricht teilnehmen zu können, gegenüber dem Schutz der potenziell betroffenen Schüler und Lehrkräfte zurückzustehen, solange die Gefahr nicht ausgeräumt ist (BayVGH, B.v. 26.1.2010 - 7 C 09.2870 - juris Rn. 6 zu Art. 86 Abs. 13 BayEUG a.F.). Aus ihrem Zweck als Maßnahme der Gefahrenabwehr (BayVGH, B.v. 26.1.2010 - 7 C 09.2870 - juris Rn. 6) folgt, dass Änderungen nach dem Zeitpunkt des Erlasses nicht außer Betracht bleiben können.
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aa) Gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2016 bestehen keine formellen Bedenken. Der Bescheid wurde von der hierfür zuständigen (Art. 88 Abs. 2 Nr. 1 BayEUG) Schulleiterin erlassen. Die in Art. 88 Abs. 3 BayEUG vorgesehenen Anhörungsrechte gelten nicht für Maßnahmen nach Art. 87 Abs. 1 BayEUG. Die unterbliebene Anhörung der Klägerin (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG) ist jedenfalls durch die nachgeholte Anhörung im Widerspruchsverfahren geheilt worden (Art. 45 Abs. 1 Nr. 3 BayEUG).
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bb) Der Bescheid vom 25. Oktober 2016 war jedenfalls im Zeitpunkt seiner Erledigung rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten.
41
Nach Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG kann eine Schülerin oder ein Schüler auch bei bestehender Schulpflicht vorläufig vom Besuch der Schule bzw. der praktischen Ausbildung ausgeschlossen werden, wenn ihr bzw. sein Verhalten das Leben oder in erheblicher Weise die Gesundheit gefährdet von Schülerinnen bzw. Schülern, Lehrkräften, sonstigem an der Schule tätigem Personal oder anderen Personen im Rahmen ihrer schulischen oder praktischen Ausbildung und die Gefahr nicht anders abwendbar ist. Der vorläufige Ausschluss endet spätestens mit der Vollziehbarkeit der Entscheidung über schulische Ordnungsmaßnahmen, über die Überweisung an eine Förderschule oder über eine Aufnahme in eine Schule für Kranke oder in eine andere Einrichtung, an der die Schulpflicht erfüllt werden kann (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG).
42
(1) Von einer Gefährdung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG war hier auszugehen.
43
Die Beurteilung, ob eine Gefährdung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG vorliegt, erfordert eine Prognose, ob eine akute Gefährdungssituation anzunehmen ist (BayVGH, B.v. 26.1.2010 - 7 C 09.2870 - juris Rn. 3, 6).
44
Vorliegend begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass die Schule aus den im Bescheid vom 25. Oktober 2016 dargestellten Ereignissen auf eine akute Gefährdungssituation geschlossen hat. Die Einwände der Klägerin gegen den im Bescheid vom 25. Oktober 2016 zugrunde gelegten Sachverhalt bleiben ohne Erfolg.
45
Was die Einwände der Klägerin gegen die Ereignisse am 23. September 2016 anbelangt, so werden auch von der Klägerin der Wurf der Schultasche und des Sitzwürfels nicht bestritten. Allein die Tatsache, dass die Klägerin stark auf ihre damalige Schulbegleitung reagierte, ändert nichts daran, dass der Wurf von Gegenständen die Schulbegleitung und andere Personen gefährden kann. Selbst wenn, wie von der Klägerin vorgetragen, die Klägerin nicht wissentlich auf Mitschüler geworfen hätte, sondern Ziel des Sitzwürfels die Schulbegleitung war, gefährdet der Wurf von größeren Gegenständen im Klassenzimmer auch Unbeteiligte.
46
Der Wurf eines Stuhls im Klassenzimmer am 26. September 2016 wird von der Klägerin nicht bestritten.
47
Soweit eingewandt wird, am 29. September 2016 sei die Klägerin lediglich umgekippt, steht dem die Darstellung der Klassenlehrkraft, wonach die Klägerin eine Mitschülerin getreten und dies auch nach Ermahnung fortgesetzt habe (Bl. 119 d.A.), entgegen. Vorliegend sind keine Umstände ersichtlich, die Zweifel an der Darstellung der Klassenlehrkraft wecken könnten. Die Darstellung ist plausibel, insbesondere ist nachvollziehbar, dass die Lehrkraft nach Ermahnung der Klägerin weiter beobachtete, ob die Ermahnung Wirkung zeigte, und daher auch die Fortsetzung des Tretens sehen konnte. Soweit die Klägerin auf den Konflikt mit der Schulbegleitung und deren Verhalten gegenüber der Klägerin verweist, ergibt sich daraus nichts anderes. Ausgangspunkt der im Bescheid dargestellten Ereignisse am 29. September 2016 war, auch unter Berücksichtigung der Darstellung der Klagepartei, ein aggressives Verhalten der Klägerin gegenüber der Schulbegleitung, auf das diese nach Vortrag der Klagepartei mit ungeeigneten Maßnahmen reagierte. Aus dem Vortrag der Klägerin wird bereits nicht klar, warum die Einschätzung, dass vom Verhalten der Klägerin eine Gefährdung für die Gesundheit anderer ausgeht, deswegen unzutreffend sein sollte, weil sich die Person, gegen die sich die Aggression richtet, darauf ungeeignet reagiert habe.
48
Gleiches gilt für den Vortrag der Klagepartei zum 7. Oktober 2016. Aus den Ausführungen im Widerspruchsbescheid ist ersichtlich, dass die Gefahreinschätzung durch die Widerspruchsbehörde auch bei Berücksichtigung des klägerischen Vortrags, dass die Schulbegleitung den Schuh auf die Klägerin zurückgeworfen und diese erst daraufhin den Schulranzen geworfen habe, nicht anders ausfällt. Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Der erste Wurf mit dem Schuh ging von der Klägerin aus, und sie setzte das Werfen mit einem noch größeren Gegenstand fort. Mit einem derartigen Verhalten gefährdet die Klägerin die Gesundheit anderer. Im Schulalltag dürfte es häufiger vorkommen, dass Personen, die Ziel einer Aggression der Klägerin sind, nicht lediglich deeskalierend darauf reagieren. Die Schule musste daher bei ihrer Einschätzung der Gefährdung anderer durch die Klägerin nicht eine optimale Reaktion der angegriffenen Personen unterstellen.
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Soweit die Klägerin rügt, eine Selbstgefährdung am 20. September 2016 sei nicht tatbestandsmäßig, ist zu berücksichtigen, dass eine Maßnahme nach Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG keine Sanktion für vergangenes vorwerfbares Fehlverhalten darstellt, sondern die Abwehr konkreter Gefahren für Leben und Gesundheit anderer bezweckt. Die von der Schule als Begründung ihrer Gefährdungseinschätzung genannten Ereignisse
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betreffen überwiegend ein gegen Mitschüler bzw. ihre Schulbegleitung gerichtetes aggressives Verhalten der Klägerin (Treten, Werfen von Gegenständen). Der Vorfall am 20. September 2016 zeigt, dass sich aggressives Verhalten der Klägerin teilweise auch gegen sie selbst richtete; dass die Einschätzung der Schule zur Gefährdung anderer Personen aufgrund dieses aggressiven Verhaltens deswegen unzutreffend wäre, folgt daraus nicht.
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(2) Dass die Gefahr nicht anders abwendbar war (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG) als durch eine Sicherungsmaßnahme, dürfte für den Zeitpunkt des Bescheiderlasses jedenfalls im Hinblick auf das Fehlen eines qualifizierten Schulbegleiters zu bejahen sein. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es sich bei dem aggressiven Verhalten der Klägerin nicht um ein neues, bislang nicht gezeigtes Verhalten handelt; vielmehr hat sich die Klägerin auch in den vorangegangenen Schuljahren bereits handgreiflich gegenüber anderen Personen in der Schule verhalten und wurde auch bereits mit Ordnungsmaßnahmen belegt. Aus den Akten und dem Vortrag der Beteiligten lässt sich schließen, dass es ohne eine Schulbegleitung nicht möglich sein würde, eine Gefährdung anderer zu verhindern.
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Für den weiteren Verlauf des Schuljahres lässt sich nicht feststellen, ob die Gefahr anders abwendbar war, da zum einen aus den Akten nicht ersichtlich ist, bis wann die Suche nach einem qualifizierten Schulbegleiter fortgesetzt wurde, zum anderen mangels Einholung eines sonderpädagogischen Gutachtens offen blieb, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Gefährdung anderer an der Schule wirksam hätte begegnet werden können. Das kann vorliegend jedoch offen bleiben.
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(3) Der Bescheid vom 25. Oktober 2016 ist jedenfalls deshalb rechtswidrig geworden, weil Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG Rechtsgrundlage nur für den Erlass eines vorläufigen Ausschlusses vom Schulbesuch ist, vorliegend jedoch über den Zeitraum von 10 Monaten das Verfahren für den Erlass einer endgültigen Maßnahme nicht eingeleitet wurde.
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(a) Bereits nach dem Wortlaut lässt Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG nur einen vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch zu. Ein vorläufiger Verwaltungsakt ist dadurch gekennzeichnet, dass er vor abschließender Sachverhaltsentwicklung oder Sachverhaltsermittlung unter dem Vorbehalt späterer Ersetzung durch eine endgültige Entscheidung in entsprechend reduzierter Regelungsintensität ergeht (Schimmelpfennig, BayVBl. 1989, 69/72). Dass die Vorläufigkeit bei Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG nicht lediglich im Sinne eines Vorbehalts zugunsten einer nur möglichen späteren endgültigen Regelung (Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 244) zu verstehen ist, folgt aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG, der eine endgültige Regelung in Gestalt einer Ordnungsmaßnahme, einer Überweisung an eine Förderschule oder die Aufnahme in eine Schule für Kranke oder eine andere Einrichtung, an der die Schulpflicht erfüllt werden kann, zwingend voraussetzt, mit deren Vollziehbarkeit der vorläufige Ausschluss spätestens endet.
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Dies ergibt sich auch aus dem systematischen Zusammenhang von Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG mit den Ordnungsmaßnahmen nach Art. 86 Abs. 2 BayEUG. Nicht nur für die Entlassung von der Schule (Art. 86 Abs. 2 Nr. 10 BayEUG), sondern bereits für den Ausschluss vom Unterricht für zwei bis vier Wochen bei einer schulischen Gefährdung (Art. 86 Abs. 2 Nr. 7 BayEUG) sind die Zuständigkeit der Lehrerkonferenz (bzw. des Disziplinarausschusses) und Anhörungs- und Beteiligungsrechte des betroffenen Schülers und seiner Eltern nach Art. 88 Abs. 3 BayEUG vorgesehen. Demgegenüber ist für die Sicherungsmaßnahme nach Art. 87 Abs. 1 BayEUG lediglich die Zuständigkeit des Schulleiters vorgesehen; die Anhörung des Schülers richtet sich allein nach Art. 28 BayVwVfG. Diese zulasten des betroffenen Schülers vereinfachte Verfahrensgestaltung lässt sich nur aufgrund der zeitlich jedenfalls durch die Vollziehbarkeit der endgültigen Entscheidung begrenzten Regelung rechtfertigen.
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Dem Sinn und Zweck nach erlaubt Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG eine präventive Sofortmaßnahme bis zur Klärung der Gefahr und der Entscheidung über weitere Maßnahmen (BayVGH, B.v. 26.1.2010 - 7 C 09.2870 - juris Rn. 6). Die in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen, insbesondere schulische Ordnungsmaßnahmen und Entscheidungen nach Art. 41 Abs. 5, 6 BayEUG i.V.m. § 5 der Grundschulordnung (GrSO) vom 11. September 2008 (GVBl. S. 684, BayRS 2232-2-K), zuletzt geändert durch § 2 der Verordnung vom 8. Juli 2021 (GVBl. S. 479), in der hier maßgeblichen Fassung der Verordnung vom 1. Juli 2016 (GVBl. S. 193), ermöglichen endgültige Regelungen bei einer Gefährdung anderer Personen durch Schüler; Verfahren und Sachverhaltsermittlung sind jedoch teilweise zeitaufwändig. Bei einer akuten Gefährdungssituation überbrückt der vorläufige Ausschluss vom Schulbesuch den Zeitraum von der Vorbereitung bis zur Vollziehbarkeit der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen. Im Hinblick auf die Eingriffsintensität des vorläufigen Schulausschlusses ist dieser nur als begleitende Maßnahme während des Verfahrens zum Erlass einer (endgültigen) Entscheidung nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG gerechtfertigt.
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Aus dem begleitenden Charakter der Sicherungsanordnung folgt, dass die Schule zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten von Amts wegen verpflichtet ist (Schenk, Teilkommentar BayEUG, 23. Aufl. 2021, Art. 87; VG München, B.v. 12.4.2021 - M 3 E 21.1862 -, B.v. 4.9.2019 - M 3 S 19.2533 - jeweils n.v.). Demgemäß wird ein vorläufiger Ausschluss vom Schulbesuch rechtswidrig, wenn ein Verfahren zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen nicht betrieben wird (vgl. zur vorläufigen denkmalrechtlichen Unterschutzstellung VG Gelsenkirchen, U.v. 19.3.1998 - 16 K 5383/95 - juris, nur Leitsatz). Ob und inwieweit sich mit Blick auf die Schulpflicht nach Art. 35 Abs. 1, 2 BayEUG auch bei tatsächlichem parallelem Betreiben eines Verfahrens einer endgültigen Entscheidung zeitliche Grenzen für den vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch ergeben (vgl. Schröder, JURA 2010, 255/259 allgemein zum Ausbleiben einer endgültigen Entscheidung; Schimmelpfennig, BayVBl. 1989, 69/75 zur Zulässigkeit vorläufiger Regelung ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung), kann vorliegend offenbleiben.
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(b) Denn vorliegend wurde ein Verfahren zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen weder eingeleitet noch betrieben. Nach Auskunft des Beklagten war eine Ordnungsmaßnahme nicht angestrebt. Aus dem Bescheid vom 25. Oktober 2016 wie auch den Einlassungen der Behördenvertreter in der Besprechung vom 15. November 2016 lässt sich schließen, dass behördlicherseits der Besuch einer Förderschule durch die Klägerin für notwendig gehalten wurde. Das Verfahren zur Überweisung der Klägerin an eine Förderschule nach Art. 41 Abs. 5, 6 BayEUG i.Vm. § 5 GrSO wurde jedoch nicht eingeleitet. Weder enthält die Behördenakte eine Darstellung der Klassenlehrkraft nach § 5 Abs. 1 GrSO, noch hat die Schulleiterin unter Übermittlung des Berichts der Klassenlehrkraft von dem voraussichtlich zuständigen Förderzentrum ein sonderpädagogisches Gutachten gemäß Art. 41 Abs. 4 Satz 2 BayEUG angefordert (§ 5 Abs. 2 GrSO). Auch die weiteren Verfahrensschritte nach § 5 Abs. 3 bis 5 GrSO sind unterblieben.
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Im Hinblick auf die Schulpflicht des von einer Sicherungsmaßnahme betroffenen Schülers muss zeitnah eine Lösung hinsichtlich der zukünftigen Beschulung gefunden werden (VG München, B.v. 12.4.2021 - M 3 E 21.1862 -, B.v. 4.9.2019 - M 3 S 19.2533 - jeweils n.v.). Der Gang des jeweiligen Verfahrens mag im Einzelfall von Schule und Schulamt nur begrenzt zu beschleunigen sein; die Einleitung des Verfahrens liegt jedoch allein in der Hand der Schule. Vorliegend war spätestens nach dem Gespräch der Behördenvertreter mit den Eltern der Klägerin am 15. November 2016 offensichtlich, dass die Einleitung eines Überweisungsverfahrens nicht entbehrlich war. Das Schulamt teilte am 21. Dezember 2016 dem Bevollmächtigten der Klägerin jedoch lediglich mit, es werde keine eigenen Lösungen im Alleingang vorschlagen. Ein Überweisungsverfahren wurde somit weder eingeleitet noch tatsächlich betrieben. Damit verlor der Ausschluss der Klägerin vom Schulbesuch seinen nach Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG vorgesehenen vorläufigen Charakter als begleitende Interimsmaßnahme und wurde rechtswidrig.
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(c) Soweit der Beklagte darauf hinweist, dass den Eltern der Klägerin im Rahmen der Besprechung am 15. November 2016 und im weiteren Schriftverkehr Möglichkeiten der (endgültigen oder wiederum vorläufigen) Beschulung für die Klägerin vorgeschlagen worden seien, die von diesen (teilweise) abgelehnt worden seien, trifft dies nicht die Sache. Bei Erlass eines vorläufigen Schulausschlusses muss die Schule von Amts wegen ein Verfahren zur Herbeiführung einer Entscheidung nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG einleiten. Im Fall einer möglichen Überweisung ist das Verfahren nach Art. 41 Abs. 5, 6 BayEUG i.Vm. § 5 GrSO nicht fakultativ. Der Verzicht auf ein Überweisungsverfahren hat vorliegend zur Folge, dass mangels eines Berichts der Klassenlehrkraft (§ 5 Abs. 1 GrSO) und eines sonderpädagogischen Gutachtens (§ 5 Abs. 2 GrSO i.V.m. Art. 41 Abs. 4 Satz 2 BayEUG) bereits die notwendigen tatsächlichen Grundlagen für die Entscheidung über den schulischen Lernort der Klägerin fehlen. Ohne eine Sachverhaltsermittlung nach § 5 Abs. 1, 2 GrSO ist zudem weder für die Eltern noch vorliegend für das Gericht nachvollziehbar, ob vorgeschlagene Beschulungsmöglichkeiten zum Förderbedarf des betroffenen Kindes passen. Hinzu kommt im Hinblick auf die Bedeutung der Schulpflicht, dass nur das Überweisungsverfahren die Möglichkeit bietet, nötigenfalls auch ohne Einverständnis der Eltern ein Kind an eine Förderschule zu überweisen (Art. 41 Abs. 6 BayEUG i.Vm. § 5 Abs. 5 GrSO).
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Gleiches gilt, soweit der Beklagte geltend macht, dass nur eine einvernehmliche Lösung erfolgversprechend erschienen sei. Nach Erlass einer Sicherungsmaßnahme besteht im Fall einer vorgesehenen Überweisung an die Förderschule kein Wahlrecht der Schule bzw. des Schulamts, auf ein Überweisungsverfahren zu verzichten und die Suche von Eltern und Fachstellen nach Beschulungsmöglichkeiten lediglich zu moderieren. Im Übrigen sieht das Verfahren nach Art. 41 Abs. 5, 6 BayEUG i.Vm. § 5 GrSO eine intensive Beteiligung der Eltern mit dem Ziel der Herbeiführung eines Einvernehmens vor (vgl. § 5 Abs. 5 Satz 2 bis 5 GrSO). Im vorliegenden Fall ist zudem nicht erkennbar, aus welchen Gründen ein Überweisungsverfahren eine einvernehmliche Lösung erschwert hätte.
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Dementsprechend ist festzustellen, dass der Bescheid der Schule vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2017 rechtswidrig war und die Klägerin in ihren Rechten verletzte.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.