Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.04.2021 – 20 NE 21.965
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen coronabedingte Untersagung des Betriebs von Ladengeschäften mit Kundenverkehr

Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14, Art. 19 Abs. 4, Art. 80 Abs. 1 S. 2
IfSG § 5 Abs. 1 S. 1, § 28 Abs. 1 S. 1, § 28a, § 32 S. 1
12. BayIfSMV § 12 Abs. 1 S. 1
VwGO § 47 Abs. 6
Leitsatz:
Die Regelung in § 12 Abs. 1 S. 1 der 12. BayIfSMV, nach der in Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen eine 7-Tage-Inzidenz von 50 überschritten wird, die Öffnung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr für Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe untersagt ist, steht mit der Ermächtigungsgrundlage in § 32 S. 1 iVm §§ 28 Abs. 1 S. 1, 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG in Einklang und erweist sich bei summarischer Prüfung nicht als offensichtlich unverhältnismäßig. Auch ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot liegt voraussichtlich nicht vor (s. auch VGH München BeckRS 2021, 2697; BeckRS 2021, 3819 zur 11. BayIfSMV). (Rn. 15 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona Pandemie, Untersagung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr für Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe (hier: Fachgeschäft für Lederbekleidung, Lammfell- und Trachtenmode), Betriebsschließung, COVID-19, SARS-CoV-2, Coronavirus, Schutz- und Hygienekonzept, Ansteckungsrisiko
Fundstelle:
BeckRS 2021, 7908

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
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1. Die Antragstellerin, die in Bayern zwei Fachgeschäfte für Lederbekleidung, Lammfell- und Trachtenmode betreibt, beantragt nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige Außervollzugsetzung des § 12 Abs. 1 Satz 1 der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 5. März 2021 (12. BayIfSMV, BayMBl. Nr. 171) in der Fassung vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261) sowie hilfsweise festzustellen, dass die Antragstellerin als „sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft“ im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 BayIfSMV anzusehen ist und daher dem Anwendungsbereich der Betriebsuntersagung nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV nicht unterfällt.
2
2. Der Antragsgegner hat am 5. März 2021 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
㤠12
3
Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Märkte
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(1) 1In Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen eine 7-Tage-Inzidenz von 50 überschritten wird, ist die Öffnung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr für Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe untersagt. 2Ausgenommen sind der Lebensmittelhandel inklusive Direktvermarktung, Lieferdienste, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörgeräteakustiker, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Fahrradwerkstätten, Banken und Sparkassen, Versicherungsbüros, Pfandleihhäuser, Filialen des Brief- und Versandhandels, Reinigungen und Waschsalons, der Verkauf von Presseartikeln, Tierbedarf und Futtermitteln sowie der Großhandel. 3Der Verkauf von Waren, die über das übliche Sortiment des jeweiligen Geschäfts hinausgehen, ist untersagt.
…“
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Die 12. BayIfSMV ist seit 8. März 2021 in Kraft und tritt mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft (§ 30 12. BayIfSMV).
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3. Zur Begründung ihres Eilantrags vom 1. April 2021 führt die Antragstellerin an, sie unterhalte ein Schutz- und Hygienekonzept, das es ermögliche, die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 unter ihren Kunden zu verhindern. Die Ladengeschäfte bildeten bei Einhaltung der Hygienekonzepte kein besonderes Ansteckungsrisiko. Derzeit seien die Geschäfte der Antragstellerin geschlossen, wodurch ihr großer Schaden entstehe. Nach Durchsicht des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 31. März 2021 (Az. 20 NE 21.540) begehre die Antragstellerin, ebenfalls öffnen zu dürfen. Die angegriffene Regelung greife in ihr Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG ein. Die erneuten Betriebsschließungen vom November 2020 erfolgten auf einer gesetzlichen Grundlage ohne verfassungsmäßig verpflichtend vorgesehenen Ausgleich. Die „Hilfen“ des Bundes machten die Regelung nicht entbehrlich. Zudem fehle der Verordnung eine Begründung nach § 28a Abs. 5 IfSG. Mit Einhaltung der allgemein geltenden Regelungen (sog. AHA-Regeln) sei Infektionsschutz gewährleistet; eine vollständige Schließung der Betriebe sei nicht erforderlich. Die Betriebsschließungen seien auch nicht geeignet, das Infektionsgeschehen zu reduzieren. Dies folge auch aus den Erkenntnissen der Aerosol-Physik. Inzidenzwerte seien keine taugliche Entscheidungsgrundlage. Nicht jeder, der auf SARS-CoV-2 mit PCR getestet wurde, sei krank. Kontakteinschränkungen auf Grundlage bloßer Spekulationen seien unzulässig. Es werde irreführend ein Zusammenhang von Infektionsgeschehen und Mobilität behauptet. Von Verfassungs wegen bestünden diesbezüglich Ermittlungspflichten.
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4. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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A. Der zulässige Hauptantrag hat keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein noch zu erhebender Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV wäre unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei der nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich nicht erfolgreich (2.). Eine Folgenabwägung geht zulasten der Antragstellerin aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12).
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2. Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei der nur möglichen, aber ausreichenden summarischen Prüfung (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 14) davon aus, dass ein Antrag in der Hauptsache voraussichtlich keinen Erfolg hätte.
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a) Der Senat geht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren davon aus, dass die angegriffene Maßnahme nach § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV mit § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage hat. Insbesondere im Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt und das Bestimmtheitsgebot in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG hat der Senat keine schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2020 - 20 NE 20.2461 - juris Rn. 22 ff.; BayVerfGH, E.v. 30.12.2020 - Vf. 96-VII-20 - juris Rn. 17; E.v. 17.12.2020 - Vf. 110-VII-20 - juris Rn. 23; OVG NW, B.v. 15.12.2020 - 13 B 1731/20.NE - juris Rn. 23). Daran hält der Senat auch vor dem Hintergrund der begonnenen Impfkampagne, der vielerorts verfügbaren Schnelltests und der neuen Möglichkeit der Kontaktdatenverfolgung (durch Apps) fest. Eine weitergehende Prüfung der verfassungsrechtlichen Einwendungen der Antragstellerin kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht erfolgen und ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
14
b) Einen formellen Verstoß gegen die Begründungspflicht aus § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG kann der Senat nicht erkennen. Diese Verpflichtung dient dazu, „die wesentlichen Entscheidungsgründe für die getroffenen Maßnahmen transparent zu machen und dient damit insbesondere der Verfahrensrationalität wie auch die Legitimationssicherung. Sie gewährleistet als prozedurale Anforderung den Grundrechtsschutz durch Verfahren“ (BT-Drs. 19/24334, 74). In der Begründung ist zu erläutern, in welcher Weise die Schutzmaßnahmen im Rahmen eines Gesamtkonzepts der Infektionsbekämpfung dienen. Eine empirische und umfassende Erläuterung ist nicht geschuldet (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 74). Dem ist der Verordnungsgeber wohl hinreichend nachgekommen, indem er zum einen ausführte, dass trotz behutsamer Lockerungen die grundsätzliche Fortführung der - nunmehr teilweise inzidenzabhängig ausgestalteten - Maßnahmen insbesondere auf das sich weiterhin auf hohem Niveau bewegende Infektionsgeschehen und den Nachweis besorgniserregender Virusvarianten in Bayern gestützt hat (vgl. Begründungen vom 5.3.2021, BayMBl. 2021 Nr. 172, vom 24.2.2021, BayMBl 2021 Nr. 150, vom 12.2.2021, BayMBl. 2021, Nr. 113, vom 25.3.2021, BayMBl. 2021, Nr. 225 und vom 9. April 2021, BayMBl. 2021, Nr. 262). Eine detaillierte Auseinandersetzung, weshalb die grundsätzliche Betriebsschließung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr inzidenzabhängig aufrechterhalten bleibt, obwohl zunächst erste Öffnungsschritte erfolgt sind, war in formeller Hinsicht nicht notwendig.
15
c) Die von der Antragstellerin angegriffene Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG in Einklang, weil ihre Voraussetzungen vorliegen (aa.), und erweist sich bei summarischer Prüfung nicht als offensichtlich unverhältnismäßig (bb.). Auch ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot liegt voraussichtlich nicht vor (cc.).
16
aa) Die Anzahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Inzidenz) betrug am 15. April 2021 bundesweit 160 und in Bayern 178. Wegen der Überschreitung des Schwellenwertes von 50 sind nach § 28a Abs. 3 Satz 4 und 5 IfSG umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. Die 7-Tages-Inzidenz für ganz Deutschland steigt seit Mitte Februar 2021 stark an und liegt deutlich über 100/100.000 Einwohner. Das Geschehen ist nicht regional begrenzt, die Anzahl der Landkreise mit einer 7-Tages-Inzidenz über 100/100.000 Einwohner nimmt seit Mitte Februar 2021 deutlich zu. Der 7-Tage-RWert liegt weiterhin über 1. Etwa seit Mitte März hat sich der Anstieg der Fallzahlen beschleunigt. Nach einem vorübergehenden Rückgang der Fallzahlen über die Osterfeiertage setzt sich der starke Anstieg der Fallzahlen fort. Die COVID-19-Fallzahlen stiegen in den letzten Wochen in allen Altersgruppen wieder an, besonders stark jedoch in jüngeren Altersgruppen. Auch bei den über 80-Jährigen hat sich der wochenlang abnehmende Trend nicht fortgesetzt. Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen momentan insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters und Pflegeheimen abgenommen hat. Das RKI schätzt aufgrund der anhaltend hohen Fallzahlen und des aktuell beschleunigten Wiederanstiegs der Inzidenz die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. RKI, Lagebericht vom 14.4.2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Corona-virus/Situationsberichte/Apr_2021/2021-04-14-de.pdf? blob=publicationFile).
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Nach der seit dem 29. März 2021 geltenden Fassung der Norm (BGBl. 2021 I S. 370) sind bei Entscheidungen über Schutzmaßnahmen absehbare Änderungen des Infektionsgeschehens durch ansteckendere, das Gesundheitssystem stärker belastende Virusvarianten zu berücksichtigen (§ 28a Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz). Bei der Prüfung der Aufhebung oder Einschränkung der Schutzmaßnahmen nach den Sätzen 9 bis 11 sind insbesondere auch die Anzahl der gegen COVID-19 geimpften Personen und die zeitabhängige Reproduktionszahl zu berücksichtigen (§ 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG).
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Mit einer landesweiten Inzidenz von 178 am 15. April 2021, die im Vergleich zu der 7-Tage-Inzidenz zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verordnung am 5. März 2021 bereits angestiegen ist (69, https://www...de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Maerz_2021/2021-03-05-de.pdf? blob=publicationFile), besteht Handlungsbedarf zur effektiven Eindämmung des Infektionsgeschehens.
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Bei den Betriebsschließungen nach § 28a Abs. 1 Nr. 14, Abs. 3 Satz 5 und Satz 10 IfSG handelt es sich grundsätzlich um eine kraft Gesetzes geeignete und erforderliche Maßnahme zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Dem liegt die Risikoeinschätzung des Bundesgesetzgebers zu Grunde, dass es in Betrieben, Gewerben und im Einzel- oder Großhandel zu einer Vielzahl von Kontakten kommt, welche das Risiko der massenhaften Übertragung des Sars-CoV-2-Virus mit sich bringt.
20
Die von der Antragstellerin gegen die Bewertung der Gefahrenlage erhobenen Einwendungen, insbesondere zur Sieben-Tage-Inzidenz als geeignetes Anknüpfungskriterium greifen nicht durch. Das maßgebliche Abstellen auf die Inzidenzwerte von 35 bzw. 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tage ist inzwischen durch den Gesetzgeber vorgegeben (vgl. § 28a Abs. 3 Satz 4 IfSG). Zweifel an deren (wissenschaftlicher) Aussagekraft bei der Normanwendung stellen sich jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich nicht mehr (vgl. nur Sieckmann/Kessal-Wulf in v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, § 100 Rn. 8 ff.). Abgesehen davon mag es Stimmen geben, die die Eignung der Inzidenzzahlen zur Bewertung des Infektionsgeschehens infrage stellen und die ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung - entgegen den Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts - als wirkungslos ansehen. Das rechtfertigt jedoch nicht den pauschalen Vorwurf eines Verfassungsverstoßes des Normgebers. Es ist gerade dessen Aufgabe, die in der öffentlichen Diskussion vertretenen - teils kontroversen - Auffassungen im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu gewichten und eine Entscheidung zu treffen. Dass er bei der Anordnung der aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen nicht allen in der Öffentlichkeit vertretenen Einschätzungen entsprechen kann, liegt in der Natur der Sache (vgl. BayVerfGH, E.v. 1.2.2021 - Vf. 98-VII-20 - juris Rn. 21).
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bb) Die Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV erweist sich bei summarischer Prüfung aller Voraussicht nach derzeit nicht als offensichtlich unverhältnismäßig (vgl. auch BayVerfGH, E.v. 22.3.2021 - Vf. 23-VII-21 - juris Rn. 36 ff.).
22
(1) Hierzu verweist der Senat zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung zu Betriebsschließungen aufgrund der Corona-Pandemie (BayVGH, B.v. 25.2.2021 - 20 NE 21.460 - BeckRS 2021, 3819, B. v. 23.2.2021 - 20 NE 21.367 - BeckRS 2021, 2697).
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(2) Soweit die Antragstellerin die Eignung der Betriebsschließungen zur Verringerung des Infektionsgeschehens anzweifelt, kann sie nicht durchdringen. Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung, dass der erstrebte Erfolg gefördert werden kann, dass also die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht (vgl. BVerfG, B.v. 18.7.2019 - 1 BvL 1/18 u.a. - NJW 2019, 3054 - juris Rn. 61 m.w.N.).
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(3) Dass dem Normgeber mildere, aber gleichermaßen wirksame Mittel zur Verfügung gestanden hätten, um in den geregelten Bereichen die Infektionsgefahr zu minimieren und damit der weiteren Ausbreitung der Pandemie entgegenzuwirken, ist nicht offensichtlich.
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Der Senat geht nach wie vor davon aus, dass die Betriebsschließungen mit der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag kraft Gesetzes eine grundsätzlich zur Bekämpfung der Coronavirus-Krankheit-2019 geeignete und erforderliche Infektionsschutzmaßnahme sind. Davon ist der Gesetzgeber durch den Erlass des mit Artikel 1 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397) eingefügten § 28a IfSG ausgegangen und hat dies mit dem Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen vom 29. März 2021 (BGBl. I S. 370) bestätigt. Zwar sind die dadurch eingeräumten Befugnisse der Infektionsschutzbehörden und damit vor allem des Verordnungsgebers nach § 32 IfSG, Untersagungs- und Beschränkungsmaßnahmen für ganze Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sowie allgemeine Verhaltenspflichten für jedermann zur Bekämpfung von COVID-19 zu erlassen, zum Teil sehr weitgehend und in die Grundrechte der Betroffenen tief eingreifend. Auf der anderen Seite muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Befugnisse allein auf das Ereignis der Corona-Pandemie zugeschnitten sind und jedenfalls flächendeckend nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag erlassen werden können. Dadurch hat der Bundestag eine Gefährdungseinschätzung durch die Corona-Pandemie, welche sowohl Gefahrenabwehrelemente als auch Gefahrenprognoseelemente (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 28.6.2004 - 6 C 21.03 - BeckRS 2004, 25030) enthält, zum Ausdruck gebracht, welche grundsätzlich solch einschneidende Maßnahmen voraussichtlich rechtfertigen kann. Dass der Bundestag hier seinen weiten Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 12.5.2020 - 1 BvR 1027/20 - NVwZ 2020, 1823 - juris Rn. 6) überschritten hätte, ist nicht ersichtlich.
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Die Einwendung der Antragstellerin, die Infektionsgefahr im Einzelhandel sei gering bzw. rein spekulativ, sodass die Schließung von Einzelhandelsbetrieben nicht erforderlich sei, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, greift nicht durch. Zwar können auch Hygienekonzepte zu einer Reduzierung von Ansteckungen mit SARS-CoV-2 beitragen. In der derzeitigen Phase der Pandemie, die weiterhin von einem stark diffusen Ausbruchsgeschehen geprägt ist und in der in vielen Fällen das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden kann (vgl. auch Begründung vom 9.4.2021, BayMBl. 2021 Nr. 262 S. 2), ist die Prognose des Verordnungsgebers, dass die bestehenden Infektionszahlen zu hoch sind, um die ergriffenen Maßnahmen zu lockern, unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Vorgaben zur Ergreifung umfassender Schutzmaßnahmen bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (§ 28a Abs. 3 Satz 5 IfSG) rechtlich nicht zu beanstanden.
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(4) Auch gegen die Angemessenheit der weitreichenden Betriebsschließungen im Einzelhandel bestehen derzeit keine durchgreifenden Bedenken. Dabei verkennt der Senat nicht, dass diese nicht zuletzt wegen ihrer Dauer zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Einbußen der Betreiber führen und damit deren Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG schwer beeinträchtigen und ggf. im Einzelfall - mit zunehmender Dauer - auch in die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) eingreifen können. Angesichts des sich zuletzt wieder deutlich verstärkenden Infektionsgeschehens sowie der gravierenden Auswirkungen im Fall einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems stehen die mit den Maßnahmen verbundenen Einschränkungen für die Grundrechte der Antragstellerin, auf die sie sich beruft (Art. 12 Abs. 1 GG), gegenwärtig nicht offensichtlich außer Verhältnis zu Gewicht und Dringlichkeit der die Maßnahmen rechtfertigenden Gründe.
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(5) Betriebsschließungen aufgrund § 28a Abs. 1 Nr. 12, 13 und 14 IfSG führen im Regelfall noch nicht zu einem Eingriff in die Substanz der geschlossenen Betriebe und damit auch nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 Abs. 1 GG) oder des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Auch Letzteres schützt nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern und keine bloßen Umsatz- und Gewinnchancen; es geht nicht über die Gewährleistung des Art. 12 Abs. 1 GG hinaus (vgl. BVerfG, U.v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 u.a. - BVerfGE 143, 246 - juris Rn. 240). Bei der Beurteilung der Eingriffsintensität und der Frage, ob eine Norm einen eigentumsrelevanten Eingriff in die Substanz eines Gewerbebetriebs i.S.d. Art. 14 Abs. 1 GG begründet (vgl. auch Winter/Thürk in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2. Aufl. 2020, § 18 Rn. 48), sind insbesondere die Dauer der Maßnahme und die Auswirkungen auf die betroffenen Betriebe zu beurteilen. Auch wenn die seit 2. November 2020 anhaltende Betriebsschließung von Ladengeschäften diese wirtschaftlich hart trifft, vermag der Senat gegenwärtig noch keinen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG von einem solchen Ausmaß erkennen, der nur durch einen durch den Gesetzgeber vorab normierten finanziellen Ausgleich verhältnismäßig sein könnte. Eine genaue Bewertung dieser Frage ist angesichts der Komplexität der Materie schwierig. Im Grundsatz stellt sich aber auch die Frage, ob kontaktintensive Bereiche des Wirtschaftslebens nicht ohnehin durch die Möglichkeit einer Pandemie und darauf antwortenden staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen vorgeprägt sind und damit auch länger andauernde Schutzmaßnahmen hinzunehmen haben.
29
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin sind die von ihr angegriffenen Verordnungsregelungen bei summarischer Prüfung auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie entgegen Art. 14 Abs. 3 GG nicht Art und Ausmaß einer Entschädigung regeln. Denn die angegriffenen Vorschriften regeln keine Enteignungen im Sinne dieser Verfassungsnorm. Die Enteignung ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet. Unverzichtbares Merkmal der zwingend entschädigungspflichtigen Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG in der Abgrenzung zur grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmenden Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 15.2.2021 - 20 NE 21.406 - juris Rn. 15 f. m.w.N.) ist das Kriterium der vollständigen oder teilweisen Entziehung von Eigentumspositionen und der dadurch bewirkte Rechts- und Vermögensverlust. Nutzungs- und Verfügungsbeschränkungen von Eigentümerbefugnissen können daher keine Enteignung sein, selbst wenn sie die Nutzung des Eigentums nahezu oder völlig entwerten. Die Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG setzt weiterhin zwingend voraus, dass der hoheitliche Zugriff auf das Eigentumsrecht zugleich eine Güterbeschaffung zugunsten der öffentlichen Hand oder des sonst Enteignungsbegünstigten ist (BVerfG, U.v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 - juris Rn. 245, 246). Auch daran fehlt es hier.
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cc) Auch ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht erkennbar. Durch die Änderung des § 12 Abs. 1 12. BayIfSMV vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261) werden die Bedenken, die der Senat im Hinblick auf die Anforderungen der Norm an den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG unter anderem in dem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 7. April 2021 (20 NE 21.868) formuliert hat, zwar nicht ganz ausgeräumt. Darüber hinaus hätte ein Gleichheitsverstoß der Norm im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens aber auch - wie bereits im genannten Beschluss ausgeführt - nicht zur Folge, dass die angefochtene Regelung vorläufig außer Vollzug zu setzen ist.
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Mit der Änderungsverordnung vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261) entfällt die „Generalklausel“ der „sonstigen für die tägliche Versorgung unverzichtbaren Ladengeschäfte“ in § 12 Abs. 1 12. BayIfSMV und wird der Kreis der bedarfsnotwendigen Ladengeschäfte auf diejenigen Geschäfte begrenzt, die nach Auffassung des Antragsgegners tatsächlich im engeren Sinn zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs erforderlich sind (Begründung vom 9.4.2021, BayMBl. 2021 Nr. 262, S. 3). So werden etwa Blumenfachgeschäfte, Gartenmärkte, Gärtnereien, Baumschulen, Baumärkte und Buchhandlungen nicht länger den bedarfsnotwendigen Ladengeschäften, die inzidenzunabhängig geöffnet sind, zugerechnet. Durch die Neufassung soll laut Begründung (BayMBl. 2021 Nr. 262) das Regel-Ausnahme-Verhältnis klarer gefasst, verstärkte Rechtssicherheit erreicht und verhindert werden, dass über die ausdrücklich geregelten Fälle hinaus durch die bisherige generalklauselartige Vorschrift ungeregelte Bezugsfälle geschaffen werden und damit eine „schleichende“ und vom Verordnungsgeber nicht beabsichtigte Ausweitung der inzidenzunabhängig geöffneten Ladengeschäfte auf weitere Branchen wie zuletzt die Schuhgeschäfte stattfindet. Schon aus diesen Gründen kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg auf eine Ungleichbehandlung mit Blumenfachgeschäfte, Baumärkten oder Schuhgeschäften berufen.
32
3. Auch eine Folgenabwägung zwischen dem betroffenen Schutzgut der freien wirtschaftlichen Betätigung aus Art. 12 Abs. 1 GG und ggf. dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 14 Abs. 1 GG) mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG insbesondere im Hinblick auf die wieder steigenden Infektionszahlen ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Folgen hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen.
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Die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten fallen schwerer ins Gewicht als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Interessen der Normadressaten. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben durch eine in ihrem Verlauf und ihren Auswirkungen bisher nicht zuverlässig einzuschätzende Pandemie, vor der zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der Betroffenen derzeit zurücktreten.
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B. Der Hilfsantrag, festzustellen, dass die Antragstellerin als „sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft“ im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 BayIfSMV anzusehen ist und daher dem Anwendungsbereich der Betriebsuntersagung nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV nicht unterfällt, ist im Eilverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht statthaft. Abgesehen hat der Verordnungsgeber diesen bisherigen Auffangtatbestand mit der Änderungsverordnung vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261) gestrichen.
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C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da die angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 30 12. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).