Inhalt

VGH München, Beschluss v. 31.03.2021 – 20 NE 21.540
Titel:

Schuhgeschäfte als für die tägliche Versorgung unverzichtbar anzusehen

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1
12. BayIfSMV § 12 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Regelungen, die allgemein „Ladengeschäfte mit Kundenverkehr“ betreffen, können mangels Teilbarkeit nicht nur für die Branche der Schuhgeschäfte außer Vollzug gesetzt werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der „täglichen Versorgung“ dienen Ladengeschäfte nicht erst dann, wenn sie der Deckung eines im eigentlichen Wortsinn „täglich“ auftretenden Bedarfs jedes einzelnen dienen, sondern vielmehr schon dann, wenn sie einen individuellen Bedarf abdecken, der jederzeit und damit „täglich“ eintreten kann (Bestätigung von VGH BeckRS 2021, 3806 Rn. 11). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Rechtslage und insbesondere der Begründung des Verordnungsgebers sind auch Schuhgeschäfte als „für die tägliche Versorgung unverzichtbar“ anzusehen. (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Handelsbetrieb/Ladengeschäft (hier: Schuhgeschäft), sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft, Antragsbefugnis, Schuhgeschäft, Ladengeschäft, tägliche Versorgung, Unverzichtbarkeit
Fundstelle:
BeckRS 2021, 6341

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
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1. Die Antragstellerin, die in Bayern ein Einzelhandelsfachgeschäft für Schuhe betreibt, begehrt mit ihrem Eilantrag zuletzt die vorläufige Außervollzugsetzung des § 12 Abs. 1 Satz 1 und Satz 7 der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 5. März 2020 (12. BayIfSMV; BayMBl. 2021 Nr. 171) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 25. März 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 112), soweit dieser die Öffnung von Schuhgeschäften mit Kundenverkehr bei einer 7-Tage-Inzidenz über 100 untersage und bei einer 7-Tage-Inzidenz zwischen 50 und 100 nur für einzelne Kunden nach vorheriger Terminbuchung und für einen fest begrenzten Zeitraum zulasse.
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2. Zur Begründung ihres am 22. Februar 2021 eingegangenen und mit Schriftsatz vom 10. März 2021 auf die 12. BayIfSMV umgestellten Eilantrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor, die angegriffenen Bestimmungen verstießen, soweit sie die Öffnung von Schuhgeschäften beträfen, in mehrfacher Hinsicht gegen höherrangiges Recht. Sie verfügten schon nicht über eine verfassungsmäßige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Zudem verstoße § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV in mehrfacher Hinsicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. So sei die Ungleichbehandlung von Schuhfachgeschäften im Vergleich zum Schuhverkauf in überwiegend dem Lebensmittelverkauf dienenden Geschäften nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig sei nachvollziehbar, warum Schuhe in einem Schuhmacher-Geschäft erworben werden könnten, in einem Schuhgeschäft jedoch nicht. Auch die Ungleichbehandlung im Vergleich mit Friseurgeschäften, Baumärkten und Buchhandlungen sei nicht nachvollziehbar. Schließlich handele es sich bei Schuhgeschäften auch um Ladengeschäfte der Grundversorgung, die nach § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV den Lebensmittelgeschäften gleichzustellen seien. Die Schließung der Schuhfachgeschäfte über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten gefährde die Versorgung der Bevölkerung mit gutem und richtigem Schuhwerk und damit auch die Fußgesundheit insbesondere für Kinder und Jugendliche. Weiter sei die angegriffene Bestimmung auch nicht erforderlich und verstoße damit gegen den rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der angegriffene § 12 Abs. 1 Satz 7 12. BayIfSMV verstoße ebenfalls gegen den Gleichheitsgrundsatz, da die in Satz 2 genannten Ladengeschäfte den genannten Beschränkungen nicht unterlägen. Schließlich gehe auch eine - hier nicht notwendige - Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus.
3
3. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
4
4. Mit Hinweisschreiben vom 23. März 2021 hat der Senat die Antragstellerin auf seine Entscheidung vom 19. März 2021 im Verfahren 20 NE 21.806 hingewiesen. Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 25. März 2021 mitgeteilt, an ihrem Antrag festzuhalten und vorgetragen, dass vorliegend eine andere Sach- und Rechtslage zugrunde liege. Insbesondere gehe es hier lediglich um den Einzelhandel für Schuhe und damit um eine Branche der Grundversorgung sowie der Fußgesundheit. Die gerügte Ungleichbehandlung im Vergleich zu Baumärkten und Buchhandlungen werde durch die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen bestätigt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
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Der als Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 12 Abs. 1 Satz 1 und Satz 7 12. BayIfSMV ausgelegte Antrag ist unzulässig und hat deshalb keinen Erfolg.
7
Soweit die Antragstellerin die Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm ausdrücklich nur insoweit beantragt, als sie die Öffnung von Schuhgeschäften mit Kundenverkehr regelt, ist der Antrag entsprechend § 88 VwGO so auszulegen, dass die Außervollzugsetzung der angegriffenen Bestimmungen insgesamt beantragt wird. Eine nur auf die Branche der Schuhgeschäfte beschränkte Außervollzugsetzung kommt mangels Teilbarkeit der angegriffenen Regelungen, die allgemein „Ladengeschäfte mit Kundenverkehr“ betreffen, nicht in Betracht (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 63).
8
Für den so ausgelegten Antrag fehlt es der Antragstellerin jedoch an der erforderlichen Antragsbefugnis i.S.v. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Sie kann nicht geltend machen, durch die angegriffene Norm in ihren Rechten verletzt zu sein, weil sie vom Verbotstatbestand des § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV nicht mehr unmittelbar erfasst wird.
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Das von der Antragstellerin betriebene Schuhgeschäft ist als „sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft“ i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV anzusehen und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich der Betriebsuntersagung nach § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV.
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1. Der Begriff des „sonstigen für die tägliche Versorgung unverzichtbaren Ladengeschäfts“ ist unter Berücksichtigung der in § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV aufgelisteten Ladengeschäfte von Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksbetrieben mit Kundenverkehr auszulegen. Einem „unverzichtbaren“ Versorgungsinteresse i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV dienen Ladengeschäfte bei der zunächst grundsätzlich gebotenen engen Auslegung des Ausnahmetatbestands nur unter der Voraussetzung, dass die Befriedigung des Bedarfs ein gewisses Gewicht hat und von der Rechtsordnung anerkannt ist (vgl. zu der insoweit gleichlautenden Bestimmung der 11. BayIfSMV bereits BayVGH, B.v. 14.1.2021 - 20 CE 21.30 - BeckRS 2020, 39080 Rn. 9; B.v. 3.3.2021 - 20 NE 21.391 - juris Rn. 10). Der „täglichen Versorgung“ dienen Ladengeschäfte nicht erst dann, wenn sie der Deckung eines im eigentlichen Wortsinn „täglich“ auftretenden Bedarfs jedes einzelnen dienen, sondern vielmehr schon dann, wenn sie einen individuellen Bedarf abdecken, der jederzeit und damit „täglich“ eintreten kann (BayVGH, B.v. 3.3.2021 - 20 NE 21.391 - juris Rn. 11; verneinend für das Warensortiment in Elektrofachmärkten: BayVGH, B.v. 4.3.2021 - 20 CE 21.550 - juris Rn. 17).
11
Das mindestens erforderliche Gewicht eines solchen Bedarfs wurde schon durch die Erweiterung der Liste ausdrücklich zugelassener Ladengeschäfte zum 1. März 2021 u.a. um Blumenfachgeschäfte sowie Garten- und Baumärkte (vgl. § 1 Nr. 2 der Verordnung zur Änderung der 11. BayIfSMV vom 24. Februar 2021, BayMBl. 2021 Nr. 149) in erheblichem Umfang relativiert (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2021 - 20 NE 21.391 - juris Rn. 10).
12
Mit dem Erlass der 12. BayIfSMV zum 8. März 2021 hat der Verordnungsgeber die Liste erneut erweitert, indem nunmehr auch Versicherungsbüros - die Gegenstand des Senatsbeschlusses vom 3. März 2021 (20 NE 21.391) waren - und Buchhandlungen ausdrücklich von der Untersagung nach § 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV ausgenommen werden. In seiner Begründung vom 5. März 2021 führt der Verordnungsgeber hierzu aus (BayMBl. 2021 Nr. 172 S. 4):
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„Die Ausnahmen sind in § 12 Abs. 1 Satz 2 enthalten, wobei zusätzlich nunmehr auch Versicherungsbüros und Buchhandlungen als für die tägliche Versorgung unverzichtbare Ladengeschäfte enthalten sind und unter den dort festgelegten Rahmenbedingungen öffnen dürfen. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist einerseits maßgeblich, dass die Befriedigung des entsprechenden Bedarfs ein gewisses Gewicht hat, um zu einer Öffnung führen zu können. Andererseits dienen der täglichen Versorgung Ladengeschäfte nicht erst dann, wenn sie der Deckung eines im Wortsinn täglich auftretenden Bedarfs jedes Einzelnen dienen, sondern vielmehr bereits dann, wenn sie einen individuellen Bedarf abdecken, der jederzeit und damit täglich eintreten kann (BayVGH, Beschluss vom 4. März 2021, Az.: 20 NE 21.391, Rn. 11). Dies ist bei Versicherungsbüros und Buchhandlungen der Fall.“
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2. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Rechtslage und insbesondere der Begründung des Verordnungsgebers sind auch Schuhgeschäfte als „für die tägliche Versorgung unverzichtbar“ anzusehen.
15
Wenn der Verordnungsgeber nunmehr auch Buchhandlungen das für eine „Unverzichtbarkeit“ i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV erforderliche Gewicht zumisst, gleichzeitig aber an der Auffangklausel zugunsten „sonstige(r) für die tägliche Versorgung unverzichtbare(r) Ladengeschäfte“ festhält, muss ein entsprechendes Gewicht selbst bei strenger Auslegung des Merkmals auch bei Schuhgeschäften vorliegen. Denn selbst unterstellt, der Verordnungsgeber hätte Buchhandlungen nur wegen einer gesteigerten Bedeutung für schutzwürdige Lebensbereiche - hier etwa Bildung, Beruf und Wissenschaft - ausdrücklich privilegiert, käme eine in ihrem Gewicht vergleichbar gesteigerte Bedeutung auch Schuhgeschäften zu. Wie die Antragstellerin insoweit zutreffend ausführt, dient die Versorgung mit (passenden) Schuhen einem Grundbedürfnis. Die Versorgung mit Schuhen ist nicht nur Voraussetzung für die Ausübung zahlreicher beruflicher Tätigkeiten, sondern im Regelfall auch für die der Gesunderhaltung dienende Bewegung und Sportausübung im Freien sowie - insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, deren Wachstum noch nicht abgeschlossen ist und bei denen sich demzufolge ein entsprechender Bedarf sehr kurzfristig und dringend stellen kann - für eine gesunde Entwicklung und Erhaltung des Bewegungsapparats. Weil der Verordnungsgeber zudem durch die ausdrücklich geregelten Ausnahmen zugunsten von „Babyfachmärkten“ und gesundheitsbezogenen Ladengeschäften (Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker und Hörgeräteakustiker) selbst signalisiert, dass er kinder- und (im weitesten Sinn) gesundheitsbezogenen Bedürfnissen ein gesteigertes Gewicht zumisst, ist nicht erkennbar, warum ein solches Gewicht nicht zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil auch den hier streitgegenständlichen Schuhgeschäften zukommen sollte.
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Darauf, dass das Aufsuchen eines Schuhgeschäfts durch deren Kunden nicht im engeren Sinn „lebensnotwendig“ ist, kommt es nach dem Vorstehenden ebenso wenig an wie auf die Tatsache, dass der Verkauf von Schuhen grundsätzlich - wenn auch wegen der regelmäßig erforderlichen Anproben nur bei Inkaufnahme etlicher Nachteile - unter Verwendung technischer Hilfsmittel ohne persönlichen Kontakt erbracht werden kann, denn beides gilt ohne weiteres auch für die Mehrzahl der in § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV ausdrücklich genannten Ladengeschäfte.
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Von dem Schutzzweck des § 12 Abs. 1 12. BayIfSMV her gesehen, Infektionsrisiken durch Kontakte weitgehend zu minimieren, hätte es im Übrigen ohnehin nahegelegen, lediglich solche unverzichtbaren Ladengeschäfte für die tägliche Versorgung von der Betriebsuntersagung auszunehmen, bei denen es tatsächlich unabweisbar ist, dass Kunden das Ladengeschäft betreten, d.h. durch Liefer- und Abholservices die Versorgung nicht hinreichend sichergestellt werden kann (BayVGH, B.v. 14.1.2021 - 20 CE 21.30 - BeckRS 2020, 39080).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 30 12. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht ist.