LG Bayreuth, Endurteil v. 14.10.2021 – 21 O 822/20
Titel:
Leistungen, Ermessensentscheidung, Pflegeversicherung, Berufung, Versicherungsbedingungen, Streitwert, Wirksamkeit, Versicherungsleistungen, Abweichung, Herausgabe, Auslegung, Klage, Sicherheitsleistung, Unwirksamkeit, Kosten des Rechtsstreits
Normenkette:
VVG § 203 Abs. 5
Schlagworte:
Leistungen, Ermessensentscheidung, Pflegeversicherung, Berufung, Versicherungsbedingungen, Streitwert, Wirksamkeit, Versicherungsleistungen, Abweichung, Herausgabe, Auslegung, Klage, Sicherheitsleistung, Unwirksamkeit, Kosten des Rechtsstreits
Fundstelle:
BeckRS 2021, 59337
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klagepartei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des 1,1-fachen des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert wird auf 22.423,56 € festgesetzt, ab teilweiser Klagerücknahme auf 22.380,48 €.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von Beitragsanpassungen.
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Die Klagepartei ist bei der Beklagten privat krankenversichert. In den Jahren 2011 bis 2020 kam es zu Beitragsanpassungen wegen geänderter Versicherungsleistungen. Die Beklagte hatte die Beitragsanpassungen zuvor angekündigt. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Mitteilungen (Anlagen BLD7) Bezug genommen. Die Klagepartei hat die geänderten Beiträge bis zur Klageerhebung laufend entrichtet. Wegen der Einzelheiten zu Erhöhungen und Zahlungen wird auf die Tabelle auf Seite 5 der Klage Bezug genommen.
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Die Klagepartei hält die Beitragsanpassungen für formell unwirksam, weil über den Grund der Beitragsanpassungen unzureichend informiert worden sei. Die Klagepartei hält die Erhöhungen zudem für materiell unwirksam, soweit die Abweichung der Rechnungsgrundlage Versicherungsleistungen 10% nicht überschritten hatte wegen unwirksamer Versicherungsbedingungen.
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Die Klagepartei hat nach der Klageerwiderung die Klage teilweise zurückgenommen und die Anträge auf Feststellung der Unwirksamkeit der Beitragsanpassungen für die Zeit von zwei Monaten nach Zugang der Klageerwiderung für erledigt erklärt.
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Die Klagepartei beantragt zuletzt,
1) Es wird festgestellt, dass folgende Beitragsanpassungen des Monatsbeitrags in der zwischen der Klägerseite und der Beklagten bestehenden Kranken-/ Pflegeversicherung mit der Versicherungsnummer ... unwirksam sind:
a) im Tarif ETS28 die Beitragsanpassung zum 01.01.2011 in Höhe von 20,19 €
b) im Tarif V333S2P die Beitragsanpassung zum 01.01.2012 in Höhe von 139,06 €
c) im Tarif ETS28 die Beitragsanpassung zum 01.01.2012 in Höhe von 14,62 €
d) im Tarif V333S2P die Beitragsanpassung zum 01.01.2013 in Höhe von 135,37 €
e) im Tarif ETS28 die Beitragsanpassung zum 01.01.2014 in Höhe von 35,42 €
f) im Tarif V333S3 die Beitragsanpassung zum 01.01.2018 in Höhe von 24,14 €
g) im Tarif V333S3 die Beitragsanpassung zum 01.01.2020 in Höhe von 58,00 €
2) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerseite 7.904,76 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
3) Es wird festgestellt, dass die Beklagte
a) der Klägerseite zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie aus dem Prämienanteil gezogen hat, den die Klägerseite auf die unter 1) aufgeführten Beitragserhöhungen gezahlt hat,
b) die nach 3a) herauszugebenden Nutzungen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu verzinsen hat.
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Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
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Die Beitragsanpassungen seien formell und materiell wirksam. Eventuelle Ansprüche auf Rückzahlung von Beiträgen vor 2017 seien verjährt.
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Die Klagepartei ist der Auffassung, dass Verjährung noch nicht eingetreten sei, weil eine Klageerhebung vor 2019 nicht zumutbar gewesen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die Sitzungsniederschrift vom 14.10.2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig.
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Die begehrte Feststellung der Unwirksamkeit der Beitragsanpassungen ist als Vorfrage für den Leistungsantrag und wegen der Vorgreiflichkeit als Zwischenfeststellungsklage im Sinne von § 256 Abs. 2 ZPO zulässig. Bei der Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO macht die Vorgreiflichkeit das sonst für die Feststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse entbehrlich (BGH, Urteil vom 16.12.2020, IV ZR 294/19, Rn. 20). Darüber hinaus besteht ein Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO, wenn und soweit die Beitragsanpassungen als zeitlich letzte für den aktuellen Beitrag in dem jeweiligen Tarif maßgeblich sind (BGH, Urteil vom 10.03.2021, IV ZR 353/19, Rn. 17).
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Die Klage ist unbegründet.
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1. Die Mitteilung der maßgeblichen Gründe für die Neufestsetzung der Prämie nach § 203 Abs. 5 VVG erfordert die Angabe der Rechnungsgrundlage, deren nicht nur vorübergehende Veränderung die Neufestsetzung nach § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG veranlasst hat. Dagegen muss der Versicherer nicht mitteilen, in welcher Höhe sich diese Rechnungsgrundlage verändert hat. Er hat auch nicht die Veränderung weiterer Faktoren, welche die Prämienhöhe beeinflusst haben, wie z. B. des Rechnungszinses, anzugeben (BGH, Urteil vom 16.12.2020, IV ZR 294/19, Leitsatz und näher Rn. 26 ff.). Ob die Mitteilung einer Prämienanpassung den gesetzlichen Anforderungen des § 203 Abs. 5 VVG genügt, hat der Tatrichter im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden (wie vor Rn. 38).
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Dementsprechend waren die Beitragsanpassungen formell wirksam wegen der Rechnungsgrundlage Versicherungsleistungen begründet:
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Im Anschreiben vom November 2010 für die Beitragsanpassung zum 01.01.2011 enthält die Beilage „Wichtige Informationen zu Ihrem Vertrag“ auf Seite 1 in der linken Spalte folgende Begründung: „Warum steigen die Beträge für die Tagesgeldversicherungen? Der Hauptgrund ist schlichtweg: Die Leistungsausgaben sind gestiegen.“
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Die Beilage „Wichtige Informationen zu Ihrem Vertrag“ zum Anschreiben vom November 2012 für die Beitragsanpassung zum 01.01.2013 enthält auf Seite 1 in der linken Spalte folgende Begründung: „Ein Hauptgrund ist: Die Ausgaben für Versicherungsleistungen sind weiter stark gestiegen.“
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Zur Beitragsanpassung zum 01.01.2014 enthält die Beilage „Wichtige Informationen zu Ihrem Vertrag“ zum Anschreiben vom November enthält auf Seite 1 in der linken Spalte folgende Begründung: „Der Gesetzgeber schreibt uns vor, dass wir jedes Jahr die tatsächlichen Ausgaben für unsere Leistungen mit den Ausgaben vergleichen, die in den Beiträgen einkalkuliert sind. Stellen wir dabei in einem Tarif deutliche Abweichungen fest, müssen wir die Beiträge zum Ausgleich anpassen.“
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Für die Beitragsanpassung zum 01.01.2018 führt das Anschreiben vom November 2017 im zweiten Absatz aus: „Um Ihnen Ihre versicherten Leistungen dauerhaft zur Verfügung zu stellen, müssen wir die Beiträge regelmäßig prüfen und den Kosten anpassen. Das ist gesetzlich so geregelt.“ Im anschließenden Absatz werden der neue Beitrag und der bisherige Beitrag aufgeführt. Aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers wird damit klar, dass die Beitragsanpassung auf veränderten Kosten, mithin der Rechnungsgrundlage Versicherungsleistungen, beruht. Dies wird zudem durch die Beilage „Informationen zu Ihrem Vertrag“ verdeutlicht, wo auf Seite 1 in der rechten Spalte unter „Gründe für steigende Kosten“ im ersten Absatz auf Kosten im Gesundheitswesen abgestellt wird.
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Entsprechendes gilt für die Beitragsanpassung zum 01.01.2020, die mit Anschreiben vom November 2019 und der Beilage „Informationen und Hintergründe zur Vertragsänderung zum 01.01.2020“ fast wortgleich begründet worden ist.
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2. Die Beitragsanpassung zum 01.01.2018 ist nicht deshalb materiell unwirksam, weil die Versicherungsbedingungen eine Betragsanpassung bereits bei einer Abweichung von mehr als fünf Prozent zulassen. Zwar weicht § 8b Abs. 2 MBKK von der gesetzlichen Regelung des § 203 Abs. 3 VVG zum Nachteil des Versicherungsnehmers ab, weil er eine Ermessensentscheidung des Versicherers vorsieht, obwohl eine Anpassung ausgeschlossen ist, wenn die Veränderung nur als vorübergehend anzusehen ist (Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl., § 8b MBKK, Rn. 2). Der Einzelrichter teilt aber nicht die Ansicht des OLG Köln in VersR 2021, 95-101, dass der Verstoß des § 8b Abs. 2 der Bedingungen eine Unwirksamkeit des § 8b Abs. 1 zur Folge hat, so dass eine Erhöhung nicht unterhalb der gesetzlichen Abweichung von mehr als 10 Prozent zulässig sei. Dies übersieht, dass § 155 Abs. 3 Satz 2 VAG enthält mehrere Vorgaben, von denen nach § 203 Abs. 2 Satz 4 VVG i.V.m. § 208 Satz 1 VAG nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers oder der versicherten Person abgewichen werden kann. Dies betrifft insbesondere den Ausschluss einer Prämienanpassung bei einer nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung der Verhältnisse des Gesundheitswesens. Die Berufung auf eine solche Regelung ist wegen § 208 Satz 1 VVG ausgeschlossen, nicht aber die Berufung auf einen niedrigeren Schwellenwert in den allgemeinen Versicherungsbedingungen, der in § 155 Abs. 3 Satz 2 VAG ausdrücklich genannt ist (Voit, VersR 2021, 673, 680/681). Es ist daher davon auszugehen, dass eine niedrigerer Schwellenwert grundsätzlich zulässig ist. Er führt wegen der Maßgeblichkeit des Äquivalenzprinzips nicht zu insgesamt wesentlich höheren Prämien, sondern zu einer gleichmäßigeren Anpassung der Prämien in mehreren kleineren statt weniger großen Schritten (vgl. Boetius VersR 2021, 101, 103). Aus Sicht eines verständigen Versicherungsnehmers, der die gesetzlichen Vorgaben des § 203 Abs. 2 Satz 4 VVG i.V.m. § 208 Satz 1 VAG kennt, dürfte ohne weiteres verständlich sein, dass der tarifliche Schwellenwert auch für den Fall einer gesetzlich zulässigen Prämienanpassung bei nicht nur vorübergehend Abweichung der Rechnungsgrundlagen gelten soll. Eine Auslegung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben des VVG begründet deshalb keine Unwirksamkeit der Bestimmung des Schwellenwertes nach § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 Satz 1, 2 ZPO.
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Der Streitwert folgt aus dem jeweiligen Zahlungsantrag und 14.475,27 € für den Feststellungsantrag (vgl. BGH, Urteil vom 10.03.2021, IV ZR 353/19, Rn. 37). Für die Zukunft war ein monatlicher Betrag von 344,66 € über 42 Monate zu berücksichtigen. Dabei wurden die beiden Erhöhungen im Tarif V333S3 nicht berücksichtigt, weil dieser unstreitig zum 01.08.2020 beendet war und sich die geltend gemachte Reduzierung nicht in der Zukunft nicht mehr auswirken konnte.