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AG Erding, Endurteil v. 29.12.2021 – 119 C 1903/21
Titel:

Zu den Ausgleichszahlungen nach der Fluggastrechteverordnung

Normenketten:
Fluggastrechte-VO Art. 3, Art. 5, Art. 7
BGB § 280, § 286, § 288, § 398
ZPO § 495a
Leitsatz:
Beruft sich ein auf Ausgleichszahlung gem. Art. 7 Abs. 1 lit. a Fluggastrechte-VO in Anspruch genommenes Luftfahrtunternehmen darauf, die Fluggäste rechtzeitig vor Abflug von der Annullierung des Flugs unterrichtet zu haben, so ist der Ausgleichsanspruch nicht ausgeschlossen, wenn lediglich der Reisevermittler fristgerecht informiert wurde, nicht aber der Fluggast selbst (im Anschluss an: EuGH BeckRS 2017, 109321). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fluggastrechteverordnung, Ausgleichszahlung, Annullierung, Reisebüro, Fluglinie, Corona-Pandemie, VO (EG) Nr. 261/2004
Fundstellen:
RRa 2022, 91
BeckRS 2021, 50554
LSK 2021, 50554

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 500,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.11.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 143,84 € außergerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.11.2020 zu zahlen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 500,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

1
Gemäß § 495a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
A.
2
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet.
I.
3
Der Klägerin steht ein Anspruch aus eigenem und abgetretenem Recht auf Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils 250 Euro - mithin in Höhe von insgesamt 500 Euro - in Folge einer Flugannullierung nach Art. 7 Abs. 1 lit. a), 5 Abs. 1 lit. c) VO (EG) Nr. 261/2004 gegen die Beklagte zu.
4
1. Die Verordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a), Abs. 2 VO (EG) Nr. 261/2004 anwendbar, da die Klägerin über eine bestätigte Buchung für einen Flug mit der Flugnummer OU4439 am 23.06.2020 bei der Beklagten als ausführendes Luftfahrtunternehmen von München nach Split verfügte. Damit sollte der maßgebliche Flug auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates angetreten werden.
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2. Die Klägerin ist auch in vollem Umfang aktivlegitimiert. Der Fluggast Klaus Kerkenmeyer, der ebenfalls über eine bestätigte Buchung für den gegenständlichen Flug verfügte, trat seine Ansprüche infolge der Flugannullierung am 20.01.2021 an die Klägerin ab.
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3. Der gegenständliche Flug - ein Code-Share Flug der Lufthansa mit der Flugnummer LH 5992 - wurde seitens der Beklagten unstreitig annulliert. Damit steht der Klägerin unter Berücksichtigung der Entfernung des Abflug- und Zielflughafens grundsätzlich eine Ausgleichsforderung aus eigenem (Art. 7 Abs. 1 lit. a), 5 Abs. 1 lit. c) VO (EG) Nr. 261/2004) sowie aus abgetretenem Recht (Art. 7 Abs. 1 lit. a), 5 Abs. 1 lit. c) VO (EG) Nr. 261/2004 i. V. m. § 398 BGB) in Höhe von insgesamt 500 Euro zu.
II.
7
Der Anspruch auf Ausgleichsleistung ist auch nicht gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) VO (EG) Nr. 261/2004 ausgeschlossen. Die Beklagte kann sich nicht erfolgreich darauf berufen, die Fluggäste rechtzeitig vor Abflug über die Annullierung unterrichtet zu haben. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) VO (EG) Nr. 261/2004 sind Ausgleichszahlung dann nicht zu leisten, wenn die Fluggäste über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet werden. Grundsätzlich ist die Beklagte als ausführendes Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 5 Abs. 4 VO (EG) Nr. 261/2004 für diese rechtzeitige Information des Fluggastes darlegungs- und beweisbelastet.
8
Die Beklagenpartei beruft sich darauf, das Reisebüro am 08.06.2020 von der Annullierung unterrichtet zu haben. Eine Beweisaufnahme zu dieser streitigen Tatsache war jedoch nicht erforderlich, da nach Ansicht des Gerichts die Information des Reisebüros jedenfalls nicht ausreichend ist.
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1. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des EuGH ist der Ausgleichsanspruch nicht ausgeschlossen, wenn das Luftfahrtunternehmen lediglich den Reisevermittler mindestens zwei Wochen vor der geplanten Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet hat und der Fluggast vom Reisevermittler nicht innerhalb dieser Frist vom Reisevermittler informiert wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 11.05.2017 - C-302/16, Rn. 25 ff.). Das Informationsrisiko liegt nach der Konzeption der Verordnung bei der Beklagten (Art. 5 Abs. 4 VO (EG) Nr. 261/2004). Zwar ist der Verordnung nicht zu entnehmen, dass sich das Luftfahrtunternehmen bei der Erfüllung der ihr obliegenden Informationspflicht nicht Dritter bedienen dürfte. Allerdings fällt es in diesem Fall in den Risikobereich der Beklagten, wenn durch diesen Dritten keine ordnungsgemäße Übermittlung erfolgt (vgl. LG Landshut, Urteil vom 14.12.2016 - 13 S 1146/16, Rn. 6). Daran anschließend liegt es auch im Verantwortungsbereich der Beklagten, wenn ihr Konktaktdaten des Buchenden nicht oder nicht rechtzeitig übermittelt werden. Dies gilt ebenso, wenn die Beklagte vorträgt, sie verfüge aus Datenschutzgründen nicht über die Kontaktdaten der Reisenden. Demzufolge ist auch der Vortrag der Beklagten, im allgemeinen Geschäftsbetrieb sei es üblich, dass der Vermittler die genauen Kundendaten anfordere, unerheblich. Die Organisation des Kontakt- und Informationsaustausches im Verhältnis zwischen dem Reisevermittler und den Luftfahrtunternehmen darf nicht zu Lasten des Fluggastes gehen. Vor diesem Hintergrund kann die Beklagte die Informationspflicht auch nicht auf den Fluggast mit dem Argument abwälzen, alle Kunden der Reisebüros seien angesichts des Pandemiegeschehens angewiesen worden, vor Abflug Zusatzinformationen einzuholen. Diese Betrachtungsweise entspricht auch einer am Sinn und Zweck der maßgeblichen Vorschrift orientierten Auslegung. Eine frühzeitige Information des Fluggastes von einer Annullierung bedeutet für den Fluggast aufgrund der nunmehr bestehenden Umplanungs- und Alternativoptionen weniger Unannehmlichkeiten. Vor diesem Hintergrund führt daher eine rechtzeitige Information auch zum Ausschluss eines Ausgleichsanspruchs, der in erster Linie der Kompensation von Zeitverlust und sonstigen Unannehmlichkeiten des Fluggastes dienen soll.
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2. Schließlich wurde die Informationspflicht auch nicht durch rechtzeitige Information des Fluggastes durch den Reisevermittler erfüllt. Selbst wenn das Reisebüro den Fluggast im Rahmen der geführten Telefonate über die erfolgte Annullierung des Fluges informiert hätte, wäre dies gemäß dem Vortrag der Beklagten frühestens am 10.06.20 erfolgt. Dieser Zeitpunkt der Unterrichtung läge jedoch nicht mehr innerhalb der zweiwöchigen Frist des Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) VO (EG) Nr. 261/2004. Aufgrund dieser Tatsache konnte auch eine Beweiserhebung bezüglich des genauen Inhalts der geführten Telefonate unterbleiben. Die Klägerin erlangte jedenfalls spätestens am 19.06.2020 Kenntnis von der Flugannullierung, was jedoch offensichtlich keine rechtzeitige Information mehr darstellt. Aus diesem Grund kann offen bleiben, ob eine „Unterrichtung“ auch eine zufällige Kenntniserlangung erfassen kann.
III.
11
Schließlich ist der Anspruch auch nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 ausgeschlossen. Die Beklagte kann sich nicht erfolgreich auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände berufen.
12
1. Nach Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Unter außergewöhnlichen Umständen sind nach ständiger Rechtsprechung solche Vorkommnisse zu verstehen, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftfahrunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht beherrschbar sind (vgl. beispielsweise EuGH, Urteil vom 4.4.2019 - C-501/17; BGH, Urteil vom 24.9.2013 - X ZR 160/12). In Erwägungsgrund 14 der VO (EG) 261/2004 ist beispielhaft aufgeführt, dass solche Umstände bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des Fluges nicht vereinbarender Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks auftreten können.
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Vorliegend kann dahinstehen, ob die Coronapandemie grundsätzlich einen außergewöhnlichen Umstand darstellt. Jedenfalls wird der diesbezügliche Vortrag der Beklagten nicht ausreichend. Insbesondere fehlte jeglicher Sachvortrag zur erforderlichen Kausalität zwischen der Annullierungsentscheidung und der Pandemie. Soweit sich die Beklagte auf eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für touristische Reisen nach Kroatien beruft, scheint der diesbezügliche Vortrag nicht schlüssig. Diese maßgebliche Reisewarnung wurde mit Wirkung zum 15.06.2020 aufgehoben. Die Entscheidung der Bundesregierung für die Aufhebung der weltweiten Reisewarnung für die EU-Staaten wurde bereits am 03.06.20 getroffen und ab dem 05.06.2020 durch das Auswärtige Amt veröffentlicht. Damit hätte der Flug grundsätzlich am 23.06.21 stattfinden können, was für die Beklagte im Zeitpunkt der Annullierung bereits absehbar war. Seitens der Beklagten wurde nicht vorgetragen, aus welchen Erwägungen dennoch die Annullierungsentscheidung bezüglich des gegenständlichen Fluges getroffen wurde.
V.
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Die Klage ist auch bezüglich sämtlicher Nebenforderungen begründet.
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1. Die Verurteilung zur Zahlung der geltend gemachten Zinsen gründet sich auf §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB. Die Beklagte befand sich mit der geschuldeten Leistung spätestens seit dem Ablauf des 23.11.20, nachdem die Erfüllung der gegenständlichen Ausgleichszahlungen endgültig verweigert worden war, in Verzug.
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2. Auch besteht unter Verzugsgesichtspunkten ein Anspruch auf die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in der geltend gemachten Höhe. Unbestritten wurde die Beklagte seitens der Klägerin unter Einschaltung des Reisevermittlers erfolglos zur Leistung aufgefordert, sodass die Klägerin den Klägervertreter beauftragte. Auch nach mehrfacher anwaltlicher Aufforderung, die gegenständliche Ausgleichszahlungen zu leisten, wurden die Ansprüche seitens der Beklagten zurückgewiesen. Unbestritten waren die Prozessbevollmächtigten für die Klägerin vorgerichtlich tätig. Ebenso wurde nicht bestritten, dass Rechtsanwaltskosten in der geltend gemachten Höhe entstanden und beglichen wurden. Insbesondere war die Beauftragung im konkreten Fall erforderlich und zweckmäßig, sodass die geltend gemachten Anwaltskosten einen zu ersetzenden Verzugsschaden darstellen.
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3. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind ebenso wie die Hauptforderung seit dem 24.11.21 gemäß §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB zu verzinsen.
B.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.