VG Ansbach, Urteil v. 20.09.2021 – AN 11 K 20.02512
Titel:
Ausweisung eines bosnischen Staatsangehörigen wegen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54, § 55
GG Art. 6
EMRK Art. 8
GRCh Art. 7
Leitsätze:
1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen; erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für faktische Inländer besteht kein generelles Ausweisungsverbot. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung aus spezialpräventiven Gesichtspunkten, Sucht, Therapie, faktischer Inländer, Ausweisung, Bosnien, ADHS, gefährliche Körperverletzung, Freiheitsstrafe, Drogensucht, Ausweisungsinteresse, Wiederholungsgefahr
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.02.2022 – 19 ZB 21.2650
Fundstelle:
BeckRS 2021, 48612
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung der Beklagten, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, die Ablehnung eines Aufenthaltstitels und die Androhung der Abschiebung.
2
Der Kläger ist am … 1995 in … geboren und bosnischer Staatsangehöriger. Er ist ledig und kinderlos. Nach den Feststellungen der gegen ihn ergangenen Strafurteile stammen seine Eltern aus Bosnien und kamen während der Kriegszeit in Bosnien nach Deutschland. Die Mutter des Klägers starb, als er noch ein kleines Kind war. Er wuchs bei seinem Vater und dessen neuer Ehefrau auf. Er hat mehrere Halb- bzw. Stiefgeschwister. Der Kläger besuchte den Kindergarten und wurde altersgerecht eingeschult. Bereits in der 2. Klasse wurde bei ihm ADHS diagnostiziert. Nachdem es zu Auffälligkeiten, insbesondere zu Unterrichtsstörungen und Auseinandersetzungen mit Mitschülern gekommen war, wechselte der Kläger im Februar 2007 in die Förderklasse der Schule zur Erziehungshilfe in …, wo er zusätzlich nachmittags in der heilpädagogischen Tagesstätte betreut wurde. Im November 2009 wurde er in der heilpädagogischen Wohngruppe des … Jugendwerks in … untergebracht. Nachdem auch dieser Rahmen nicht mehr ausreichend war, wechselte er im Oktober 2010 in die Jugendhilfeeinrichtung … in den intensivtherapeutischen Bereich. Im Sommer 2012 erreichte er den Hauptschulabschluss. Im September 2012 begann der Kläger eine Ausbildung im Einzelhandel, die er nach einem Jahr abbrach. Im September 2013 begann er erneut eine Ausbildung zum Verkäufer. Am 31. Oktober 2013 wurde der Kläger mit einem Messer lebensgefährlich verletzt, sodass er längere Zeit arbeitsunfähig war. Er wurde daraufhin im Frühjahr 2014 krankheitsbedingt gekündigt. Die am 1. August 2014 aufgenommene Ausbildung zum Bäckereifachverkäufer brach er nach zwei Wochen ab. Seitdem hatte der Kläger nur sporadisch kurzzeitige Jobs. Er hat keine Sozialleistungen beantragt, sondern lebte bis zu seiner Inhaftierung auf Kosten seiner Freundin.
3
Zuletzt erteilte die damals zuständige Ausländerbehörde der Stadt … dem Kläger eine bis 28. Dezember 2011 gültige Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger erhielt seitdem Fiktionsbescheinigungen, die jeweils verlängert wurden. Am 19. Dezember 2011 und am 5. Juni 2013 beantragte der Kläger bei der Stadt … eine Niederlassungserlaubnis. Am 11. April 2018 zog der Kläger in den Stadtbereich der Beklagten. Der Kläger wurde wegen seiner letzten Straftat am 27. Juli 2019 festgenommen, war bis 11. November 2020 in Strafhaft in der JVA … und wurde daraufhin verlegt in das Bezirkskrankenhaus … Der Kläger ist wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Bis zur Verurteilung durch das Landgericht … am 26. Mai 2020 wies das Bundeszentralregister für den Kläger insgesamt 17 Eintragungen auf:
1. Staatsanwaltschaft …, 19. Mai 2010, gefährliche Körperverletzung, Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 2 JGG.
2. Amtsgericht …, 14. September 2010, Erbringung von Arbeitsleistungen wegen vorsätzlicher Körperverletzung.
3. Amtsgericht …, 8. Februar 2011, 1 Freizeit Jugendarrest wegen Diebstahls.
4. Amtsgericht …, 16. Februar 2011, Erbringung von Arbeitsleistungen wegen gemeinschaftlichen Diebstahls.
5. Staatsanwaltschaft …, 31. Mai 2011, Diebstahl, Absehen von der Verfolgung gem. § 45 Abs. 1 JGG.
6. Amtsgericht …, 1. Juni 2011, 1 Woche Jugendarrest wegen Körperverletzung.
7. Amtsgericht …, 24. Oktober 2013, 3 Wochen Jugendarrest und richterliche Weisung wegen gefährlicher Körperverletzung mit vorsätzlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Körperverletzung.
8. Staatsanwaltschaft …, 21. November 2013, Missbrauch von Ausweispapieren, Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG.
9. Amtsgericht …, 4. April 2014, 1 Woche Jugendarrest, Geldauflage und richterliche Weisung wegen Diebstahls in zwei Fällen.
10. Amtsgericht …, 12. August 2014, 8 Monate Jugendstrafe wegen Betrugs in drei Fällen. Einbezogen wurde eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung. Bewährungszeit bis 19. August 2017. Bewährungshelfer bestellt bis 19. August 2016.
11. Amtsgericht …, 18. Dezember 2014, 1 Jahr Jugendstrafe wegen Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung. Einbezogen wurden eine nicht zentralregisterpflichtige Eintragung und die Entscheidungen vom 12. August 2014.
12. Amtsgericht …, 9. April 2015, 1 Jahr und 6 Monate Jugendstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Einbezogen wurden eine nicht zentralregisterpflichtige Eintragung und die Entscheidungen vom 18. Dezember 2014 und 12. August 2014.
13. Amtsgericht …, 5. Mai 2015, 2 Jahre und 6 Monate Jugendstrafe wegen Diebstahls in zwei Fällen. Einbezogen wurden eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung und die Entscheidungen vom 9. April 2015, 18. Dezember 2014 und 12. August 2014.
14. Amtsgericht …, 11. August 2015, 2 Jahre und 9 Monate Jugendstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Einbezogen wurden eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung und die Entscheidungen vom 5. Mai 2015, 9. April 2015, 18. Dezember 2014 und 12. August 2014. Bewährungshelfer bestellt bis 30. August 2018. Der Rest der Jugendstrafe wurde bis 30. August 2019 zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit wurde zuletzt verlängert bis 30. August 2020. Die Strafaussetzung wurde widerrufen.
15. Amtsgericht …, 13. Dezember 2017, 90 Tagessätze zu je 20,00 EUR Geldstrafe wegen tätlicher Beleidigung.
16. Amtsgericht …, 6. Dezember 2018, 6 Monate Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung.
17. Amtsgericht …, 8. Juli 2019, 1 Jahr Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung.
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Zuletzt wurde der Kläger vom Landgericht … am 26. Mai 2020 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet.
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Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 2019 besuchte der Kläger mit anderweitig Verfolgten eine Diskothek in … Auf dem Weg zum Bahnhof, gegen 5:15 Uhr, traf die Gruppe auf die nachfolgend Geschädigten. Aus nichtigem Anlass entspannte sich eine Schlägerei, in deren Verlauf der Kläger dem aufgrund eines Faustschlags schon am Boden liegenden M. einen Tritt gegen den Oberkörper versetzte. In engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Tritt des Klägers versetzten weitere, nicht feststellbare Personen dem am Boden liegenden Geschädigten M. weitere Tritte und Schläge gegen den Oberkörper, um ihn zu verletzen. Der Kläger nutzte bei seinen Handlungen die durch den ersten Schlag verursachte Schwäche des Geschädigten M. aus. Der Kläger flüchtete daraufhin mit den anderweitig Verfolgten vom Tatort, wurde aber von herbeieilenden Polizeibeamten festgenommen und zur Dienststelle verbracht. Der Geschädigte M. erlitt eine Riss-Quetsch-Wunde an der Oberlippe sowie Prellmarken am linken Jochbein, eine Gehirnerschütterung, Einblutungen beider Augenpartien, an den Oberarmaußenseiten, an der rechten Schulterrückseite und der linken Schulterregion und Schmerzen und befand sich in stationärer Behandlung. Auf welche Verletzungshandlung die Verletzungsfolgen konkret zurückzuführen sind, konnte das Landgericht nicht klären. Zur Schuldfähigkeit ist dem Urteil zu entnehmen, dass der Kläger zum Tatzeitpunkt alkoholisiert gewesen sei. Zudem habe er im Vorfeld der Tat THC konsumiert. Der alkoholgewöhnte Kläger sei daher aufgrund der Alkoholisierung zwar enthemmt, seine Steuerungsfähigkeit sei jedoch weder aufgehoben noch erheblich vermindert gewesen. Dem Vorspann des Urteils ist zu entnehmen, dass der Kläger bereits früh begonnen habe, Alkohol zu trinken und schon im Alter von 13 Jahren erste Räusche gehabt habe. Im Alter von etwa 16 Jahren habe der Kläger begonnen, THC zu konsumieren und habe in den Jahren 2015 und 2016 seinen Konsum gesteigert, bis er zuletzt ungefähr 2 g täglich konsumiert habe. Zudem habe er im Jahr 2016 mit dem Kokainkonsum begonnen. Seit 2018 konsumiere er regelmäßig, vor allem donnerstags bis sonntags, hohe Dosen Kokain, Cannabinoide sowie reichlich Alkohol. Parallel habe der Kläger in den letzten Jahren gelegentlich Ecstasy, Ketamin und Amphetamin konsumiert. Er habe bisher weder eine Suchtberatungsstelle aufgesucht noch eine Selbsthilfegruppe besucht oder sonst eine suchtspezifische Behandlung in Anspruch genommen. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Landgericht zugunsten des Klägers, dass er alkoholbedingt enthemmt war, dass er den Faustschlag eingeräumt hat und im letzten Wort Reue hat erkennen lassen. Zu seinen Lasten wertete das Gericht sein strafrechtliches Vorleben. Insbesondere sei der Kläger nur drei Wochen vor der Tat wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Die Rückfallgeschwindigkeit des Klägers sei massiv. Hinzu komme zu seinen Lasten, dass er hafterfahren sei und sich auch dadurch nicht von der Tat habe abhalten lassen. Es gehe weiter zu seinen Lasten, dass er zweimal auf den Geschädigten M. eingewirkt habe, davon einmal mit einem Tritt, als der Geschädigte wehrlos am Boden gelegen habe. Die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet, da die Kammer des Landgerichts bei ihm einen symptomatischen Zusammenhang zwischen Tat und Alkoholkonsum und dem Hang gesehen hat, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen. Es sei die Gefahr gegeben, dass der Kläger in der Folge seines Hangs weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Das Landgericht stützt sich dabei auf die Stellungnahme des Sachverständigen Dr. … Dr. … führte aus, dass der Kläger aus medizinischer Sicht einen Hang habe, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen. Es liege zwar noch keine Abhängigkeit vor, jedoch sei der Alkoholkonsum derart stark ausgeprägt, dass von einer sozialen Gefährdung auszugehen sei. Zudem liege beim Kläger auch ein riskanter Missbrauch von Cannabisprodukten und Kokain vor. Er vernachlässige vollständig soziale, berufliche und administrative Verpflichtungen. Er lebe in den Tag hinein, habe keinerlei Ansporn, einem geregelten Tagesablauf nachzugehen und lebe auf Kosten anderer. Er habe es noch nicht einmal geschafft, für sich Sozialleistungen zu beantragen. Es bestehe ein symptomatischer Zusammenhang und die Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten. Der Kläger habe zur Tatzeit zwar nur ungefähr eine Blutalkoholkonzentration von 1,2 Promille gehabt, jedoch habe im Zusammenwirken mit der festgestellten ADHS-Erkrankung und der damit einhergehenden erhöhten Impulsivität und der niedrigen Aggressionsschwelle des Klägers eine alkoholtoxisch bedingte Enthemmung des Klägers bei der Tat vorgelegen. Bei fortgesetztem Suchtmittelgebrauch sei von einer Wiederholungsgefahr für ähnlich geartete Straftaten auszugehen. Der Kläger besitze eine unausgereifte, teils auch unreife und undifferenzierte Gesamtpersönlichkeit, zeige sich aktuell aber therapiemotiviert und veränderungsbereit. Er habe bisher noch keine Therapie angegangen. Der Kläger könne den Zusammenhang zwischen seiner Straffälligkeit mit Aggressionsdelikten und seinem Alkoholkonsum erkennen. Es bestünden daher konkrete Erfolgsaussichten, dass der Kläger eine Entwöhnungstherapie erfolgreich durchlaufen und anschließend zumindest längere Zeit alkohol- und drogenfrei leben könne. Es sei hierbei von einer Therapiedauer von 24 Monaten auszugehen. Das Landgericht schloss sich nach kritischer Würdigung der Stellungnahme des Sachverständigen an. Insbesondere deswegen, weil der Kläger bereits mehrfach unter Alkoholeinfluss Gewaltdelikte begangen habe. Obwohl der Kläger kurz vor der durch dieses Urteil abgeurteilten Tat wegen einer unter Alkoholeinfluss stehenden Körperverletzung verurteilt worden sei, habe dies ihn nicht davon abgehalten, weiter Alkohol zu konsumieren.
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Mit Schreiben vom 27. August 2020 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ausweisung an. Der Kläger erklärte dazu zusammengefasst schriftlich, dass er in … geboren und dort zur Schule gegangen sei. Er sei froh, jetzt in der JVA … eingesperrt zu sein, denn dies habe seine Sichtweise sehr geändert. Er sei auch froh, dass er dieses Jahr noch eine Therapie machen könne und einen anderen Lebensweg einschlagen könne. Er habe keine Verwandte in Bosnien-Herzegowina. In … lebten sein Vater, seine Halbgeschwister, sein Onkel, seine Tante und Cousinen. Er sei nach … gezogen, um von seinen falschen Freunden wegzukommen, er habe aber leider den Absprung nicht geschafft, weil er ein starkes Alkohol- und Drogenproblem habe. Der Tod seines leiblichen Bruders im Jahr 2016 habe ihn noch mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Er habe schon oft in seinem Leben versagt und jetzt sei es an der Zeit, dies zu ändern. Er spreche nicht mal richtig serbisch außer Höflichkeiten. Nach Bosnien sei er bisher nur gereist, um das Grab seiner Mutter und seines Bruders zu besuchen und um ein wenig Urlaub zu machen. Er habe hier in … eine Freundin, die zu ihm stehe. Sie sei auch einer der Gründe, warum er sich ändern wolle.
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Mit Bescheid vom 16. Oktober 2020 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1) und ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen (Ziffer 2). Weiterhin wurde der Antrag auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis sowie eine etwaige hilfsweise beantragte Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (Ziffer 3). Die Abschiebung unmittelbar auf der Strafhaft heraus nach Bosnien-Herzegowina wurde angekündigt (Ziffer 4). Hilfsweise wurde die Abschiebung des Klägers insbesondere nach Bosnien-Herzegowina angedroht, falls der Kläger nicht binnen einer Woche nach Haftentlassung das Bundesgebiet freiwillig verlassen sollte (Ziffer 5).
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Die Ausweisung erfolge auf der Rechtsgrundlage von § 53 Abs. 1 AufenthG. Mit seiner letzten Verurteilung durch das Landgericht … vom 26. Mai 2020 habe der Kläger besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegen sich etabliert, da er wegen einer vorsätzlichen Straftat rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden sei. Zudem bestehe das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, weil er zum vierfachen des gesetzlich geforderten Minimums rechtskräftig wegen einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit verurteilt worden sei. Bleibeinteressen aus dem Katalog des § 55 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG könnten nicht erkannt werden. Insbesondere würde sein letzter Aufenthaltstitel nur fiktiv als fortbestehend gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG gelten. Bei einer Abwägung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses mit den nicht vorhandenen Bleibeinteressen des Klägers überwiege das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers. Zugunsten des Klägers sei dessen langer und bis jetzt rechtmäßiger Inlandsaufenthalt zu berücksichtigen. Er habe dank seines Kindergarten- und Schulbesuchs und ein Stück weit auch durch die später abgebrochene Lehre als Einzelhandelskaufmann intensiven Zugang zum Erwerb vertiefter deutscher Sprachkenntnisse, zu den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet und zu einem bestimmten Wirtschaftssektor erzielt. Weiterhin habe er gute Kontakte zu seinen Familienangehörigen im Bundesgebiet. Dem gegenüber spielten Bindungen an den Herkunftsstaat wohl nur eine untergeordnete Rolle. Nennenswerte wirtschaftliche und sonstige Bindungen seien weder ersichtlich, noch vorgetragen. Zulasten des Klägers müsse sein strafrechtliches Vorleben gewertet werden, das wesentlich geprägt sei durch Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit sowie Eigentum und Vermögen anderer. Auch die vorliegende ADHS-Erkrankung des Klägers, die Alkohol- und Drogenproblematik, die schwierige Kindheit und der Tod des Bruders 2016 würden keine weniger schwerwiegende Gewichtung des deliktischen Vorlebens des Klägers gebieten. Im Aufenthaltsrecht sei kein strafrechtlicher Bewertungsmaßstab zur Wiederholungsgefahr heranzuziehen, sondern ein ordnungsrechtlicher. Die Beklagte wende die Grundsätze an, die der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit Ausweisungen aus Anlass von Betäubungsmitteldelikten regelmäßig heranziehe. Im vorliegenden Fall sei nicht nur Alkohol, sondern selbst harte Drogen wie Kokain im Spiel gewesen. Zu sehen sei dabei, dass der Kläger mehrfach in den Bereichen der Gewalt- und Eigentumsdelikte vorbestraft sei und ihm nicht erst seit seiner letzten Verurteilung der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Aggressivität bewusst gewesen sei. Schon aus einem polizeilichen Vermerk über ein Gespräch vom 2. April 2013 ergebe sich eindeutig, dass der Kläger damals schon Besserungsabsichten geäußert habe, diesen aber keine Taten folgen ließ. Zu sehen sei ferner, dass der Erfolg der anstehenden Therapie wegen der Alkohol- und Drogenproblematik als offen bezeichnet werden müsse. Auch sei offen, ob die beim Kläger diagnostizierte ADHS behandelt werden könne. Unterstellt, der Kläger könne die angeordnete Therapie erfolgreich absolvieren, so dürfe zwar im Bereich des Strafrechts und dort im Hinblick auf Resozialisierungsgesichtspunkte von einer geringeren Wiederholungsgefahr ausgegangen werden, ausländerrechtlich gelte dies jedoch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht. Es könne keine Aussage zum erforderlichen dauerhaften Einstellungswandel und einer innerlich gefestigten Verhaltensänderung getroffen werden. Selbst wenn die Drogen- und Alkoholproblematik des Klägers erfolgreich therapiert werden würde, so änderten sich dadurch die Umgebungsparameter nicht, in denen der Kläger vor seiner Inhaftierung gelebt habe. Selbst seine Familienangehörigen hätten ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Es stehe zu erwarten, dass der Kläger in sein bisher bekanntes Verhaltensmuster zurückfalle und sodann noch schlimmere Straftaten verübe. An der Ausweisung führe kein Weg vorbei. Das gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG von Amts wegen zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot werde auf sieben Jahren festgelegt. Diese Frist erscheine der Beklagten als sachgerecht, um dem Kläger in aller Klarheit und Nachhaltigkeit zu verdeutlichen, dass man im Aufnahmeland auch dann nicht gravierend gegen die dort geltende Rechtsordnung verstoßen dürfe, wenn man dort zur Welt kam. Aufgrund des Einreise- und Aufenthaltsverbots scheide die Erteilung der beantragten Niederlassungserlaubnis oder einer anderen Aufenthaltserlaubnis aus. Die Abschiebungsankündigung ergehe gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, wonach der Ausländer aus der Haft abzuschieben sei. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ergäben sich aus § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG. Der Bescheid wurde dem Kläger am 3. November 2020 per Postzustellungsurkunde in der JVA … zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 20. November 2020 ließ der Kläger Klage erheben und stellte einen Eilantrag.
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Zur Begründung der Klage führt der Bevollmächtigte aus, dass der Kläger zwar bosnischer Staatsangehöriger sei, aber keinen Bezug zum Heimatstaat habe. Er habe dort nie gelebt und spreche nicht einmal die Sprache. Er sei in Deutschland geboren und aufgewachsen und habe sich ständig rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Die Beklagte habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger als faktischer Inländer zu betrachten sei, für den ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse vorliege. Der Kläger betrachte Deutschland als sein Heimatland. Er habe die sogenannte Heimatsprache Jugoslawisch nicht gelernt. Im Elternhaus sei immer Deutsch gesprochen worden. Es würden überhaupt keine greifbaren Berührungspunkte mit dem Land der Staatsangehörigkeit des Klägers bestehen. Die einzige Bindung, die er zu seinem Heimatstaat habe, sei, dass dort das Grab seiner leiblichen Mutter sei. Außerdem sei darauf hinzuweisen, dass die Familie des Klägers gebürtige Serben des orthodoxenchristlichen Glaubens sei. Als Angehöriger dieser Gruppe wäre der Kläger in Bosnien absoluter Außenseiter und würde einer Minderheit angehören, da in Bosnien fast ausschließlich Muslime lebten. Für den Kläger sei dies noch besonders problematisch, da er ein großes Kreuz im seitlichen Halsbereich tätowiert habe, durch welches sein Glaube äußerlich sichtbar sei. Christen seien in Bosnien regelmäßig Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger in Bosnien keine Chance bekommen würde, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu bekommen. Beim Kläger liege ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse vor. Die Beklagte stelle sich auf den formellen Standpunkt, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses keine Aufenthaltserlaubnis gehabt habe. Jedoch könne ein Wegfall der Fortgeltungswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ein schon bestehendes, besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht zerstören. Dies würde der Absicht des Gesetzgebers erkennbar zuwiderlaufen. In Fällen, wie in dem vorliegenden, sei ein unbenannter Fall des § 55 Abs. 2 AufenthG anzunehmen. Voraussetzung sei dann lediglich, dass der Ausländer im Bundesgebiet geboren ist und sich bis zur Bekanntgabe der Ausweisung mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dies sei beim Kläger der Fall. Die Beklagte berücksichtige zudem nicht den Umstand, dass der Kläger selbst am 31. Oktober 2013 Opfer einer Straftat geworden sei und aufgrund der damit verbundenen lebensgefährlichen Messerattacke längere Zeit arbeitsunfähig krankgeschrieben gewesen sei. In dieser Phase habe er begonnen, regelmäßig Alkohol in großen Mengen zu sich zu nehmen. Die „Flucht“ in den Alkohol habe der Kläger bis heute nicht überwunden. Im Februar 2016 sei sein großer Bruder … bei einem Autounfall verstorben. Zu diesem Bruder habe der Kläger eine ganz besonders enge Beziehung gehabt. Durch den Verlust habe sich eine depressive Phase entwickelt, durch die er verstärkt wieder zum Alkohol und letztlich dann auch zu den Drogen Zuflucht genommen habe. Beim Kläger sei insbesondere positiv zu würdigen, dass er sich erstmals der Bearbeitung seiner Hauptproblempunkte, seiner Alkohol- und Drogenproblematik, dadurch gestellt habe, dass er nun eine entsprechende Therapie begonnen habe. Es sei eine vollkommen unbegründete Mutmaßung, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung mit dem Konsum von Drogen und Alkohol unverändert weitermache. Er habe bereits in der Strafhaft in der JVA … begonnen, sich an ein regelmäßiges Arbeitsleben zu gewöhnen. Diesen Weg wolle er auch zukünftig weitergehen. Auch müsse die inzwischen begonnene und positiv verlaufende Therapie besondere Berücksichtigung finden. Der Kläger plane, im September eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer zu beginnen. Es müsse außerdem berücksichtigt werden, dass der Kläger ab dem Zeitpunkt, in dem er dem Jugendrecht entwachsen gewesen war, also nach Vollendung seines 21. Lebensjahres, nur viermal straffällig geworden sei. Der wesentliche Teil der vom Kläger begangenen Straftaten hätte sich in der Zeit abgespielt, als er noch Jugendlicher und Heranwachsender gewesen sei. Außerdem müsse auch der Umstand berücksichtigt werden, dass der Kläger über die letzten fast 7,5 Jahre hinweg nur noch Fiktionsbescheinigungen erhalten habe. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass der Kläger seit mehreren Jahren eine feste Lebenspartnerin habe, die deutsche Staatsangehörige sei. Mit dieser habe er bereits vor Haftantritt in nichtehelicher Lebensgemeinschaft gelebt und wolle diese auch nach Verbüßung der Haft fortsetzen und eine Familie gründen. Dies sei einer familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Staatsangehörigen im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gleichzusetzen. Insofern sei Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie Art. 7 GrCH von der Beklagten zu berücksichtigen. Zudem finde zwischen dem Kläger, seinen Eltern, Geschwistern und auch der Lebensgefährtin ein regelmäßiges Familienleben statt, das dem besonderen Schutz des Art. 8 EMRK unterliege. Sein Vater, die Stiefmutter, die jüngere Schwester, der jüngere Bruder und sein Onkel würden mit ihm ständig in Kontakt stehen. Die Eltern brächten ihm fast täglich Essen. Auch mit seiner Lebensgefährtin stehe der Kläger im ständigen telefonischen Kontakt. Vor diesem Hintergrund lägen auch die Voraussetzungen für die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht vor. Zumindest sei die angeordnete Länge deutlich überzogen, da maximal ein Zeitraum von einem Jahr ausreichend sei. Die Stellung des Klägers als faktischer Inländer sei auch hier zu berücksichtigen. Es sei nicht akzeptabel, dem Kläger einen Aufenthaltstitel völlig zu verweigern. Zumindest bis zum Abschluss der Therapie bestehe ein Anspruch auf Verlängerung.
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Nach dem Therapiebericht des Klinikums …, …, vom 16. Juli 2021 ist der Therapiezweck des gemäß § 64 StGB untergebrachten Klägers die Behandlung seiner Suchterkrankung bezüglich Alkohol, Cannabis und Kokain. Der Kläger sei kooperativ und vertrauenswürdig. Er mache den Eindruck, sein Leben verändern zu wollen. Unregelmäßig stattfindende Drogenscreenings zeigten keinen positiven Befund. Er wirke abstinenzmotiviert und habe sozial verträgliche Konfliktlösungsstrategien erarbeiten können. Er plane, baldmöglichst eine Ausbildung zu beginnen. Erste Lockerungen seien ihm aufgrund der Substanzfreiheit schon gewährt worden. Weitere schrittweise Lockerungen seien geplant.
12
Der Kläger beantragt zuletzt,
Der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2020, mit dem der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass die Beklagte auch verpflichtet wird, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen,
hilfsweise wird die Befristung der Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Bundesrepublik von sieben Jahren auf Null verkürzt.
13
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
14
Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. In Bezug auf die Integration komme es nicht auf bloße Anwesenheitszeiten des Ausländers an, sondern auf die dadurch erreichte Integrationstiefe, also auf das Ergebnis. Gemessen am strafrechtlichen Werdegang des Klägers bleibe dieser Befund dürftig. Auch soweit der Kläger als faktischer Inländer zu betrachten sei, könne ihn das bei seinem spezifischen strafrechtlichen Vorleben nicht vor der Aufenthaltsbeendigung bewahren. Seine Ausweisung stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Gesellschaft zur Verhinderung von strafbaren Handlungen und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig sei. Die Beklagte habe die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet ausreichend berücksichtigt. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft des Klägers mit einer Deutschen genieße gerade nicht den Schutz des Art. 6 GG. Die Zeitdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots liege im mittleren Bereich. Nach der Erfahrung in solchen Fällen könnten erzwungene Auslandsaufenthalte selbst auf inländische Intensivstraftäter oft genau die resozialisierende Wirkung haben, die der inländische Strafvollzug nur allzu oft vergeblich anstrebe.
15
Die Regierung von … beteiligte sich als Vertreter des öffentlichen Interesses an dem Verfahren.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
17
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erweisen sich die Ausweisungsverfügung (im Folgenden unter I.), das auf die Dauer von sieben Jahren befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (im Folgenden unter II.) und die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels (im Folgenden unter III.) sowie die Annexentscheidungen (im Folgenden unter IV.) als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO.
18
I. Die Ausweisungsverfügung ist rechtmäßig.
19
Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20).
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1. Die formell rechtmäßige Ausweisungsverfügung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG.
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Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Beim Kläger liegen die Voraussetzungen für die erhöhten Anforderungen nach § 53 Abs. 3 bis 5 AufenthG nicht vor.
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a) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
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a) Maßgeblicher Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers vom 26. Mai 2020 zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Beklagte hat ihre Entscheidung auf spezialpräventive Gründe gestützt, was nicht zu beanstanden ist. Das persönlich Verhalten des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
24
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 - juris m.w.N.; U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31). Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird (vgl. BR-Drs. 642/14, S. 55). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34, B.v. 3.3.2016 - 10 ZB 14.844 - juris und U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare Straftaten beeinträchtigen wird. Nach den Feststellungen des Landgerichts … im Urteil vom 26. Mai 2020 leidet der Kläger seit seiner Kindheit unter ADHS und erhielt verschiedene Maßnahmen der Jugendhilfe. Mit der Anlasstat hat der Täter das hohe Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigt, das sogar grundrechtlichen Schutz genießt (Art. 2 Abs. 2 GG) und dessen besondere Bedeutung auch in § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG im Bereich der Ausweisungen einfachgesetzlich normiert ist. Schon durch sein Verhalten bis zur Anlasstat zeigte der Kläger, dass er es an der Achtung der körperlichen Unversehrtheit anderer Menschen missen lässt. Denn der damals 24-jährige Kläger wurde bis zu seiner Verurteilung wegen der Anlasstat im Mai 2020 vorher acht Mal wegen eines Körperverletzungsdelikts verurteilt. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger zum Teil die Straftaten als Jugendlicher begangen hat und dass diese zum Teil in nachfolgende Entscheidungen einbezogen wurden. Jedoch hat der Kläger durch dieses Verhalten wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er nicht davor zurückschreckt, den Körper anderer zu verletzen und sich davon auch nicht durch strafgerichtliche Verurteilungen abhalten lässt. Dies umso mehr als er eine enorme Rückfallgeschwindigkeit gezeigt hat. Die letzte Verurteilung vor der Anlasstat am 26./27. Juli 2019 erfolgte am 8. Juli 2019, auch wegen Körperverletzung. Damit hat der Kläger nur etwa drei Wochen nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Körperverletzung erneut ein ähnliches Delikt begangen. In der Anlasstat hat der Kläger sogar eine Steigerung der Intensität bzw. eine Qualifizierung des Grundtatbestands der Körperverletzung verwirklicht. Der Kläger hat zudem bei der Anlasstat die Schwäche und Wehrlosigkeit des am Boden liegenden Opfers ausgenutzt. Obwohl er noch unter dem Eindruck der Verurteilung hätte stehen müssen, widersetzte sich der Kläger davon unbeeindruckt erneut der Rechtsordnung. Hinzukommt, dass der am … 1995 geborene, und damit bei Begehung der Anlasstat erst 23 Jahre alte Kläger, zu diesem Zeitpunkt schon 17 Eintragungen im Bundeszentralregister aufwies, die meisten davon wegen Körperverletzungs- und Diebstahlsdelikten. Diese hohe Anzahl von Eintragungen des Klägers zeigt, dass er sich von Verurteilungen nicht davon abschrecken lässt, weitere Taten zu begehen und dass er die Rechtsgüter anderer nicht achtet.
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Die Kammer geht auch auf Grund der Persönlichkeit des Klägers von einer Wiederholungsgefahr aus. Diesem ist es bislang nicht gelungen, sich längerfristig in das Wirtschaftsleben der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Der Kläger hat zwar einen Schulabschluss erreicht, jedoch bis heute keine Berufsausbildung abschließen können. Zwar vermag die schwere Verletzung des Klägers im Jahr 2013 vorübergehend die berufliche Beschäftigung gehindert haben, jedoch hat der Kläger auch nach seiner Genesung eine Berufsausbildung - wie schon zuvor - nur begonnen, aber nicht zu Ende gebracht. Ansonsten hatte er bis zu seiner Inhaftierung nur kurzfristige Jobs bzw. gar keine und lebte nach den Feststellungen des Landgerichts auf Kosten seiner Freundin.
27
Eine Zäsur ist im Lebenslauf des Klägers nicht erkennbar. Sein familiäres Umfeld konnte ihn bislang nicht von der Begehung von Straftaten abhalten. Der Umzug des Klägers von … in den Stadtbereich der Beklagten im Jahr 2018 bewirkte keine Zäsur, da der Kläger weiter Straftaten beging. Auch die begonnene Therapie im Bezirksklinikum lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger die Therapie bislang mit positiven Ergebnissen durchführt und motiviert ist, sich zu ändern. Nach ständiger Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, kann jedoch bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, sich mithin hinreichend in Freiheit bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2020 - 10 ZB 20.104 - juris Rn. 7 m.w.N.; B. 14.3.2019 - 19 CS 17.1784 - juris Rn. 15). Von einem wirklichen Therapieerfolg, mit dauerhaften Einstellungswandel und innerlich gefestigter Verhaltensänderung, kann erst gesprochen werden, wenn sich der Ausländer außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat (BayVGH B.v. 3.4.2019 - 19 ZB 18.1001 - juris Rn. 14; B.v, 14.3.2019 - 19 CS 17.1784 - juris Rn. 15).
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Der Kläger war nach den Feststellungen des Landgerichts … im Urteil vom 26. Mai 2020 bei Begehung der Anlasstat alkoholisiert und hatte im Vorfeld THC konsumiert. Die Straftat erfolgte somit unter dem Einfluss von berauschenden Substanzen, so dass die Wiederholungsgefahr erst nach Therapieende und hinreichender Bewährung in Freiheit entfallen kann. Auch wenn der Kläger schon erste Lockerungsstufen im Klinikum erhalten hat, ist darin noch keine Bewährung in Freiheit zu sehen. Der Kläger ist weiterhin untergebracht und die Therapie wegen seiner Suchterkrankung bezüglich Alkohol, Kokain und Cannabis noch nicht abgeschlossen (vgl. Therapiebericht der Klinik vom 16.7.2021). Auch der in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Beginn einer Berufsausbildung im September 2021 und der kurz bevorstehende Einsatz des Klägers für eine Fußballmannschaft in der Landesliga können die Wiederholungsgefahr nach den in der ständigen Rechtsprechung herausgearbeiteten Kriterien nicht entfallen lassen. Der Kläger hatte nach den Feststellungen des Landgerichts … schon im Alter von 13 Jahren Räusche und fing mit 16 Jahren an, THC zu konsumieren, später Kokain. Es ist damit eine jahrelange Gewöhnung des Klägers an Suchtmittel zu erkennen und auch eine Steigerung der Gefährlichkeit der konsumierten Drogen. Die Wiederholungsgefahr besteht daher weiterhin. Es besteht daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass der Kläger vergleichbare Straftaten begehen wird. b)
29
Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1, 2 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG überwiegt.
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aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer, da der Kläger mit Urteil des Landgerichts … vom 26. Mai 2020 rechtskräftig wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Dadurch wurde sowohl der in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierte Strafrahmen von zwei Jahren aufgrund einer vorsätzlichen Straftat überschritten als auch der in § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG gesteckte Strafrahmen von einem Jahr aufgrund der Verurteilung wegen einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit.
31
bb) Diesem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 AufenthG entgegen, wobei die in Absatz 2 benannten Bleibeinteressen nicht abschießend sind. Der Kläger verfügte im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - wie auch schon im Zeitpunkt der Behördenentscheidung - nicht über einen in § 55 Abs. 1 AufenthG genannten Aufenthaltstitel. Seine letzte Aufenthaltserlaubnis war bis 28. Dezember 2011 gültig. Zwar beantragte der Kläger vor Ablauf der Gültigkeit eine Niederlassungserlaubnis, so dass ihm Fiktionsbescheinigungen gem. § 81 Abs. 5 i.V.m. 4 AufenthG ausgestellt wurden, jedoch steht eine Fiktionsbescheinigung nicht einem Aufenthaltstitel im Sinne von § 55 Abs. 1 AufenthG gleich (vgl. BayVGH, U.v. 4.7.2011 - 19 B 10.1631 - juris Rn. 40 ff.; U.v. 4.2.2009 - 19 B 08.2774 - juris Rn. 41; OVG Saarl, B.v. 27.8.2014 - 2 D 282/14 - juris Rn. 5; Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 55 AufenthG, Rn. 6). Sinn und Zweck der Fiktionswirkung sowie die erforderliche Differenzierung zwischen Rechtmäßigkeit eines Aufenthalts und Titelbesitz sprechen dafür, dass der Fiktionswirkung nur eine besitzstandswahrende, aber nicht eine rechtsbegründende Wirkung zukommen soll (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2010 - 1 C-6/09 - BVerwGE 136, 211 juris, Rn. 21). Für das Bestehen eines schwerwiegenden Bleibeinteresses nach § 55 AufenthG kommt es danach auf den tatsächlichen Besitz des jeweiligen Aufenthaltstitels an (vgl. BayVGH, B.v.24.7.2017 - 19 CS 16.2376 - juris). Entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten kann angesichts der klaren und eindeutigen Regelung in § 55 Abs. 1 AufenthG, nach der ein Titelbesitz erforderlich ist, alleine aufgrund der Geburt im Bundesgebiet und eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts kein unbenannter Fall des § 55 Abs. 2 AufenthG angenommen werden. Dies würde dem gesetzgeberischen Willen zuwiderlaufen. Gleichwohl würde sich selbst bei Vorliegen eines (unvertypten) schwerwiegenden Bleibeinteresses insbesondere unter Berücksichtigung der Vielzahl der Straftaten und der Rückfallgeschwindigkeit des Klägers die Ausweisung auch im Licht von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK, Art. 7 GRCh als verhältnismäßig erweisen.
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2. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, vorzunehmende Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG von Ausweisungs- und Bleibeinteresse ergibt ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses gegenüber den privaten Bleibeinteressen des Klägers.
33
Der Kläger ist im Bundesgebiet geboren und hält sich seit etwa 25 Jahren rechtmäßig hier auf. Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt an und fällt daher als intensive Bindung erheblich ins Gewicht. Ob man den Kläger dabei als sog. faktischen Inländer bezeichnet oder nicht, ist unerheblich, da in jedem Fall selbst für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 16). Familienangehörige des Klägers, insbesondere sein Vater und seine (Halb-)Geschwister wohnen ebenso im Bundesgebiet. Der Kläger spricht zudem sehr gut die deutsche Sprache. Er hat damit seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet. Das Gewicht seiner familiären Bindungen wird indes dadurch gemindert, dass er als erwachsener Mann grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Familie angewiesen ist, sondern ein eigenständiges Leben führen kann. Den Kontakt mit seinen Familienangehörigen kann der Kläger auch aus dem Ausland mittels Kommunikationsmitteln aufrechterhalten. Die von der Klägerseite vorgebrachte Planung, mit seiner Lebensgefährtin eine Familie zu gründen, wird in diesem Zusammenhang zwar gesehen, jedoch als eine rein beabsichtigte Familiengründung - unabhängig vom Aufenthaltsstatus und von der Staatsangehörigkeit der Lebensgefährtin des Klägers - ohne Nachweis eines Verlöbnisses als von geringem Gewicht angesehen. Der Kläger ist bislang ledig und kinderlos. Ihm ist es bislang nicht gelungen, sich wirtschaftlich dauerhaft zu integrieren. Zwar kann er einen Schulabschluss vorweisen, jedoch scheiterte der Kläger mehrmals daran, eine Berufsausbildung abzuschließen. Auch nach der Genesung nach der schweren Verletzung im Jahr 2013 schaffte der Kläger es nicht, beruflich Fuß zu fassen. Zwar sieht die Kammer die aktuellen Anstrengungen des Klägers und erkennt diese an, jedoch ist dem Kläger bislang noch kein beruflicher Abschluss tatsächlich gelungen. Die Kammer verkennt nicht, dass es für den Kläger aufgrund der vorgebrachten mangelhaften Sprachkenntnisse seines Heimatlandes Bosnien-Herzegowina und der mangelnden familiären Anknüpfungspunkte möglicherweise mit hohen Anstrengungen verbunden sein wird, sich dort zu integrieren, jedoch hat der Kläger durch seinen Schulabschluss gezeigt, dass er grundsätzlich fähig ist, Lernerfolge zu erzielen. Aufgrund seines Alters von nur 25 Jahren ist das Verfestigen einer bislang - wie vorgebracht - kaum beherrschten Sprache und das Einfinden und Integrieren in dem bisher wohl eher unbekannten Wirtschaftsleben in Bosnien-Herzegowina dem Kläger zumutbar. Ebenso sieht die Kammer, dass der Kläger zwar Opfer einer schweren Verletzung wurde, jedoch liegt diese schon etwa acht Jahre zurück, der Kläger ist wieder genesen. Der Kläger führte nach der Verletzung grundsätzlich den gleichen Lebenswandel wie vorher, so dass die Verletzung im Rahmen der Abwägung kein starkes Gewicht hat. Auch mag der Tod des Bruders den Kläger stark getroffen haben, jedoch sind solche schweren Schicksalsschläge von den Betroffenen individuell zu verarbeiten, eine völlig atypische Lebenssituation für einen erwachsenen Mann wie dem Kläger liegt hierin jedoch nicht. Die vom Bevollmächtigten behaupteten befürchteten Anfeindungen des Klägers in Bosnien-Herzegowina aufgrund seiner offensichtlichen Zugehörigkeit zum Christentum sind durch nichts belegt und zudem nicht nachvollziehbar, da in Bosnien-Herzegowina circa die Hälfte der Bevölkerung muslimischen Glaubens ist und die andere Hälfte fast ausschließlich Christen sind. Von hohem Gewicht im Rahmen der Abwägung ist die ausweislich des Bundeszentralregisters bestehende sehr hohe Rückfallgeschwindigkeit des Täters, die Anzahl der abgeurteilten Straftaten und seine noch nicht überwundene Drogen-/Alkoholproblematik. Auch wenn die Mehrzahl der Straftaten vom Kläger noch als Jugendlicher oder Heranwachsender begangen wurde, so ändert dies nichts daran, dass er auch schon unter Anwendung des Erwachsenenstrafrechts mehrmals verurteilt wurde (13.12.2017, 6.12.2018, 8.7.2019 und 26.5.2020). Er wurde selbst als Erwachsener schon mehrmals rückfällig. Zudem sind die Straftaten, die der Kläger vor Vollendung seines 21. Lebensjahrs begangen hat, schon alleine aufgrund der Anzahl nicht nur als jugendliche Verfehlungen anzusehen oder als einmalige Angelegenheit, über die hinweggegangen werden kann. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Drogentherapie und des bestehenden Zusammenhangs zwischen den Taten und dem Drogenkonsum ist zudem eine hohe Rückfallgefahr gegeben (s. oben).
34
Wägt man nun die besonders schützenswerten Belange des Klägers, insbesondere seine Stellung als in der Bundesrepublik Deutschland geborener Ausländer, mit den von ihm wiederholt begangenen Straftaten ab, kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die begangenen Straftaten und die damit verbundene konkrete, nicht ausgeräumte erhebliche Rückfallgefahr die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet überwiegen. Zwar lebt der Kläger seit seiner Geburt in der Bundesrepublik Deutschland und auch seine Familie lebt hier, gleichwohl ist dem Kläger eine Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten nicht geglückt. Er ist seit seiner Jugend immer wieder massiv straffällig geworden. Der Kläger hat zwar einen Schulabschluss, aber keine Ausbildung abgeschlossen und sich somit nicht nachhaltig, sondern allenfalls vorübergehend wirtschaftlich integriert. Weder seine Familie noch seine Freundin haben ihn in der Vergangenheit davon abhalten können, Alkohol und Drogen zu konsumieren und wiederholt straffällig zu werden.
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c) Die Ausweisung erweist sich auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1, Abs. 2 EMRK und Art. 7 GrCH als verhältnismäßig.
36
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggf. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 - Mutlag/ Bundesrepublik Nr. 40601/05 - InfAuslR 2010, 325; U.v. 13.10.2011 - Trabelsi/ Bundesrepublik Nr. 41548/06 - juris Rn. 54). Bei der Ausweisung von in Deutschland geborenen Ausländern ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für sie darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v.19.10.2016 - 2 BvR 1943/16). Der Kläger hat zwar nach seinem Vortrag keinerlei familiären Anknüpfungspunkte in Bosnien-Herzegowina und spricht die dortige Sprache kaum, jedoch sind angesichts der enormen Straffälligkeit des Klägers, der nicht abgeschlossenen Drogentherapie und der fehlenden wirtschaftlichen Integration im Bundesgebiet diese für den Kläger möglicherweise empfindlichen Folgen seiner Ausweisung hinzunehmen. Der erwachsene Kläger kann auch aus dem Ausland mit seinen Familienangehörigen Kontakt halten. Weder ist er auf deren Fürsorge und Hilfe angewiesen, noch sind seine Familienangehörigen auf ihn angewiesen. Auch wenn der Kläger momentan augenscheinlich therapiemotiviert ist, ist seine Ausweisung insbesondere angesichts der von ihm sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter begangenen massiven Straftaten und der nach wie vor bestehenden Drogenproblematik verhältnismäßig.
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II. Das in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot von sieben Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise ist ebenfalls rechtmäßig.
38
Die Befristungsdauer steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. § 114 Satz 1 VwGO), sondern - soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt - eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 - 10 B 13.715 - Rn. 54 ff.).
39
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 a.a.O.). Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
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Nach diesen Maßstäben ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten festgesetzte Frist von sieben Jahren nicht zu lang und daher rechtmäßig. Da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde, ist gem. § 11 Abs. 3 S. 2 AufenthG die Möglichkeit eröffnet, eine Frist von über fünf Jahren festzusetzen. Nach § 114 Satz 1 VwGO durchgreifende Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, insbesondere hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte zudem dargelegt, dass die festgesetzte Frist ihrer gleichmäßigen Ermessenshandhabung entspricht.
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III. Die in Ziffer 3 des Bescheids abgelehnte Erteilung der beantragten Niederlassungserlaubnis sowie eine etwaig hilfsweise beantragte Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Einer Titelerteilung steht schon die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen. Zudem mangelt es am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, insbesondere dem fehlenden Ausweisungsinteresse, § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m § 54 AufenthG.
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IV. Die zu überprüfenden Annexentscheidungen des streitgegenständlichen Bescheids unter Ziffer 4 und 5, die Abschiebungsankündigung, die (hilfsweise) Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist, sind nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 58 und 59 AufenthG.
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Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
44
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt geht zurück auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.