LG Ingolstadt, Endurteil v. 19.07.2021 – 43 O 2472/20 Die
Titel:
Deliktischer Schadensersatz: Der Nutzungsvorteil ist degressiv und nicht linear zu berechnen
Normenkette:
§ 826 BGB
Leitsätze:
1. Der deliktische Schadensersatz ist auf das negative Interesse gerichtet, sodass nur eine Rückabwicklung, also Zahlung des Kaufpreises durch die Beklagte an die Klagepartei Zug um Zug gegen Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei in Betracht kommt. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Wege der Zug-um-Zug-Rückabwicklung muss die Klagepartei an die Beklagte Nutzungsentschädigung entrichten. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Nutzungsentschädigung ist entgegen der übewiegenden Rechtsprechung nicht nach folgender Formel zu berechnen: Der von der Klagepartei gezahlte Bruttokaufpreis für das Fahrzeug wird durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt geteilt und dieser Wert wird mit den gefahrenen Kilometern multipliziert (lineare Berechnung) ((aA OLG München BeckRS 2022, 4639). (Rn. 16 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Nutzungsentschädigung ist degressiv nach einem Drei-Stufen-Modell zu berechnen: Bei einer anzunehmenden Gesamtlaufleistung von 300.000 km ist der Wert der Nutzung bis einschließlich Kilometer 50.000 mit dem Faktor 3 (Stufe 1), von Kilometer 50.001 bis einschließlich Kilometer 200.000 mit dem Faktor 2 (Stufe 2) und von Kilometer 200.001 bis einschließlich Kilometer 300.000 mit dem Faktor 1 (Stufe 3) zu berücksichtigen (aA OLG München BeckRS 2022, 4639). (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abgasskandal, vorsätzlich sittenwidrige Schädigung, deliktischer Schadensersatz, Nutzungsvorteil, Nutzungsentschädigung, linear, degressiv, negatives Interesse
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Endurteil vom 23.02.2022 – 7 U 5748/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 48232
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 52 Prozent und die Beklagte 48 Prozent zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 42.561,94 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Pkw-Kauf.
2
Die Klagepartei erwarb den streitgegenständlichen Pkw Audi SQ5 der Abgasnorm Euro 6 am 02.01.2018 bei der A2. M2. GmbH. Der Kaufpreis belief sich auf 48.948,00 €. Der Kauf wurde über die A2. Bank finanziert, wobei dem Kläger Finanzierungskosten in Höhe von 3.626,65 € entstanden. Der Kläger hat das Fahrzeug für 29.831,13 € bei einem Kilometerstand von 114.746 Kilometer verkauft. Bei Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs wies dieses eine Laufleistung von 22.809 Kilometer auf.
3
Bezüglich Fahrzeugen des streitgegenständlichen Typs nimmt die Beklagte auf Anordnung des Kraftfahrt-Bundesamtes eine Aktualisierung der Motorensoftware vor. Das Kraftfahrt-Bundesamt geht von einer unzulässigen Abschalteinrichtung in der ursprünglichen Software des streitgegenständlichen Fahrzeugs aus.
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Die Klagepartei trägt vor, die Beklagte habe in der Motorsteuerung des Motors eine illegale Abschalteinrichtung verwendet, um die geltenden Abgasnormen zu umgehen. Das Fahrzeug sei daher durch die Beklagte bezüglich der Schadstoffwerte manipuliert worden.
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Die Klagepartei beantragt zuletzt unter Erledigterklärung der Hauptsache im Übrigen:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei EUR 11.446,02 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seitdem 27.08.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.373,36 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zuzahlen.
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Die Beklagte, die der Erledigterklärung der Gegenseite zustimmt, beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
7
Die beklagte Partei trägt vor, es sei kein berücksichtigenswerter Schaden des Klägers entstanden.
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Das Gericht hat zur Sache mündlich verhandelt und den Kläger informatorisch zum Sachverhalt angehört. Auf das Protokoll der Sitzung des Landgerichts Ingolstadt vom 19.04.2021 wird Bezug genommen. Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gegenseitig gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
9
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Landgericht Ingolstadt nach § 17 Abs. 1 ZPO für die Klage örtlich zuständig.
II.
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Die Klage ist aber unbegründet. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Beklagte in der Motorsteuerung des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine unzulässige Abschalteinrichtung programmierte und damit sittenwidrig gemäß § 826 BGB handelte und weiter dem Grunde nach einen Anspruch des Klägers bejaht, ergibt die konkrete Schadensberechnung im vorliegenden Fall, dass dem Kläger kein Schaden entstanden ist.
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1. Der deliktische Schadensersatz ist auf das negative Interesse gerichtet, sodass nur eine Rückabwicklung, also Zahlung des Kaufpreises durch die Beklagte an die Klagepartei Zug um Zug gegen Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei in Betracht kommt. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass der Kläger das streitgegenständliche Fahrzeug zwischenzeitlich für 29.831,13 € verkauft hat. Dieser Betrag ist bei der Schadensberechnung zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen. Im Rahmen der Rückabwicklung muss sich die Klagepartei den Abzug einer Nutzungsentschädigung gefallen lassen.
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Der Bundesgerichtshof hebt im Rahmen der Schadensberechnung die Grundsätze der Vorteilsausgleichung und das schadensrechtliche Bereicherungsverbot hervor und stellt klar, dass der Ersatzanspruch in die Nähe eines dem deutschen Recht fremden Strafschadensersatzes gerückt würde, wenn ein Nutzungsersatz nicht berücksichtigt würde (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, Rn. 64 ff.).
13
Die Nutzungsentschädigung, die die Klagepartei an die Beklagte im Wege der Zugum-Zug-Rückabwicklung zu entrichten hat, ist nach Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Fall auf 26.147,81 € festzusetzen.
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Das Gericht geht im Rahmen einer Schätzung gemäß § 287 ZPO von einer Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs in Höhe von 300.000 km aus.
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Das Gericht folgt den überzeugenden Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur Vorteilsausgleichung (siehe oben), ist aber der Auffassung, dass diese Grundsätze nicht nur bei der Frage eine Rolle spielen, ob sich die Klagepartei gezogene Nutzungen anrechnen lassen muss, sondern auch bei der Frage, wie der Wert der gezogenen Nutzungen im Rahmen von § 287 ZPO zu berechnen ist. Für die Berechnung ist - soweit ersichtlich - die folgende Methode üblich, die bisher auch das Gericht praktiziert hat und deren Anwendung der Bundesgerichtshof nicht beanstandet hat (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, Rn. 78 ff.):
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Der von der Klagepartei gezahlte Bruttokaufpreis für das Fahrzeug wird durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt geteilt und dieser Wert wird mit den gefahrenen Kilometern multipliziert.
17
Nutzungsersatz in € =

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Das Gericht wendet diese Methode aber nicht an, da sie den Nutzungsersatz linear berechnet, eine solche Bewertung aber - allgemein bekannt - nicht den realen Wert der Nutzung eines Pkws abbildet und damit dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot nicht ausreichend Rechnung trägt. Die Klagepartei würde mit dieser Berechnungsmethode nach Auffassung des Gerichts besser gestellt, als sie ohne das schädigende Ereignis stünde. Bei Anwendung der oben aufgeführten Methode entspricht der Wert der Nutzung des ersten gefahrenen Kilometers nämlich exakt dem Wert der Nutzung des letzten gefahrenen Kilometers. Tatsächlich ist die Nutzung eines Neufahrzeugs aber mehr wert, als die Nutzung eines Fahrzeugs mit einem Kilometerstand von beispielsweise 299.999 Kilometern. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Reparaturanfälligkeit regelmäßig mit zunehmenden Alter steigt, während die Zuverlässigkeit des Fahrzeugs abnimmt. Außerdem besteht ein Mehrwert bei der Nutzung eines neuen Fahrzeugs darin, dass es technisch auf dem aktuellen Stand ist. So wird auch ein Interessent, der beispielsweise mit der Beklagten einen Leasingvertrag abschließen will, erwarten, dass die Beklagte ihm im Rahmen dieses Leasingvertrags ein Neufahrzeug zur Verfügung stellt. Sollte ihm ein gebrauchtes Fahrzeug zum Leasing angeboten werden, wird er zumindest fordern, dass die Kosten für das Leasing im Vergleich zum Leasing eines Neufahrzeugs geringer sind. Als Kehrseite kann auf den Wertverlust eines Kraftfahrzeugs Bezug genommen werden, der nicht linear, sondern degressiv verläuft. Neufahrzeuge haben gerade in den ersten Jahren nach dem Kauf einen hohen Wertverlust.
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Es gibt deshalb Stimmen in der Literatur, die überlegen, bei der Berechnung des Nutzungsersatzes nicht auf die maximal mögliche Kilometerlaufleistung, sondern auf die gewöhnliche Nutzungsdauer abzustellen (vgl. BeckOGK/Schall, 1.3.2020, BGB § 346 Rn. 437). Die Klagepartei kann aber auf den Fortgang des Verfahrens und den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur begrenzt Einfluss nehmen und es könnte sich ggf. nur aufgrund Zeitablaufs ein höherer Nutzungsersatz ergeben, wenn auf die gewöhnliche Nutzungsdauer abgestellt wird.
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Das Gericht hat den Nutzungsersatz deshalb weiterhin anhand der oben aufgeführten Formel berechnet, allerdings mit der Modifikation, dass die jeweiligen Kilometerstände gewichtet werden. Dies hat den Vorteil, dass gegenüber dem Abstellen auf die Nutzungsdauer die tatsächlich gefahrenen Kilometer als tatsächlich gezogene Nutzungen bewertet werden, was auch der Bundesgerichtshof für sachgerecht erachtet hat (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, Rn. 78 ff.). Statt einer linearen Betrachtung, geht das Gericht davon aus, dass der Wert der Nutzungen zunächst höher ist und sich mit zunehmender Kilometerlaufleistung verringert. Das Gericht setzt hierbei eine Berechnung nach einem Stufenmodell an. Die Kilometerlaufleistung wird hierbei in drei Stufen unterteilt.
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Dem Gericht erscheint es sachgerecht, anzunehmen, dass die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs 300.000 Kilometer beträgt, der Wert der Nutzung bis einschließlich Kilometer 50.000 mit dem Faktor 3 (Stufe 1), von Kilometer 50.001 bis einschließlich Kilometer 200.000 mit dem Faktor 2 (Stufe 2) und von Kilometer 200.001 bis einschließlich Kilometer 300.000 mit dem Faktor 1 (Stufe 3) zu berücksichtigen ist. Ergebnis dieser Modifikation ist ein stufenweiser degressiver Verlauf des Wertes des Nutzungsersatzes. Bei der Bewertung der ersten Stufe bis 50.000 Kilometer wurde berücksichtigt, dass in Deutschland die durchschnittliche Jahresfahrleistung etwa 15.000 Kilometer (13.727 Kilometer für das Jahr 2018, vgl. Statistik des Kraftfahrtbundesamtes, abzurufen unter https://www.kba.de/DE/Statistik/Kraftverkehr/VerkehrKilometer/verkehr_in_kilometern_node.html) beträgt und ein drei Jahre altes Fahrzeug beim Verkauf etwa 50 Prozent seines Listenpreises erzielt. Ein Fahrzeug mit einer Laufleistung von über 200.000 Kilometer wird gegenüber einem Fahrzeug mit einer Laufleistung zwischen 50.000 Kilometern und 200.000 Kilometern deutlich anfälliger für Reparaturen sein. Daraus ergeben sich die weiteren beiden Stufen.
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Das Gericht weist weiter darauf hin, dass diese Berechnungsmethode nicht den Anspruch erhebt, den Wert der Nutzungen absolut realistisch abzubilden. Man könnte wohl auch nachvollziehbar begründen, eine zusätzliche Stufe zwischen 50.000 Kilometern und 100.000 Kilometern „einzubauen“ oder den Nutzungsersatz vollumfänglich degressiv (ohne Stufen) zu berechnen. Das Gericht geht aber davon aus, dass die oben dargelegte Gewichtung der Kilometerstände in drei Stufen der Realität deutlich näher kommt, als eine lineare Berechnung. Das Gericht hat zudem im Rahmen von § 287 ZPO einen weiten Ermessensspielraum. Dies hat auch der Bundesgerichtshof in der von der Klagepartei angesprochenen Entscheidung hervorgehoben und sogar eine lineare Berechnung des Nutzungsersatzes für revisionsrechtlich unbedenklich erklärt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, Rn. 78 ff.). Dann kann aber die realitätsnähere Schätzung erst recht nicht zu beanstanden sein.
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c) Soweit von den Klageparteien teilweise unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 06.10.2005 (Aktenzeichen VII ZR 325/03, Entscheidung zur Anrechnung des Nutzungsvorteils bezüglich einer Eigentumswohnung) argumentiert wird, dass die Nutzungen unabhängig vom Wert bzw. Wertverlust des genutzten Gegenstands gesehen werden müssten und deshalb eine degressive Ermittlung nicht in Betracht komme, überzeugt dies nicht. Es wurde bereits oben dargelegt, dass der Wertverlust bei Pkw gerade in den ersten Jahren sehr hoch ist. Dies unterscheidet sich bereits elementar von der Sachlage bei Eigentumswohnungen. Zudem lagen der oben genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vertragliche Schadensersatzansprüche zugrunde, die anders als die hier im Raum stehenden deliktischen Ansprüche nicht auf das negative, sondern auf das positive Interesse gerichtet sind. Der Käufer eines Neufahrzeugs kennt in der Regel den hohen Wertverlust in den ersten Jahren nach dem Kauf. Er weiß damit auch, dass er in den ersten Jahren letztendlich mehr für die Nutzung seines Neufahrzeugs bezahlt, als beispielsweise ein Käufer eines Gebrauchtwagens. Der Erwägung, dass sich der Wert der Nutzung für den Käufer im ersten Jahr grundsätzlich nicht vom Wert der Nutzung im fünften Jahr unterscheide, kann deshalb nicht gefolgt werden. Denn der Käufer hat sich ja bewusst für den Erwerb eines Neufahrzeugs entschieden und den entsprechenden Wertverlust damit in Kauf genommen, wobei ihm im Gegenzug auch die Annehmlichkeiten eines Neuwagens (geringe Reparaturanfälligkeit usw.) zugutekommen. Ansonsten könnte auch ein Käufer eines teuren Sportwagens argumentieren, dass er keinen besonderen Wert auf seinen Pkw lege, ihn nur für Gelegenheitsfahrten verwendet habe, die er auch mit einem Kleinwagen hätte durchführen können, und der Wert der Nutzungen für ihn deshalb auf Basis eines Kaufpreises für einen Kleinwagen berechnet werden müsse. Sobald man sich aber bei der Ermittlung des Nutzungsvorteils nicht an den objektiven Gegebenheiten (Kaufpreis, Wertentwicklung des Fahrzeugs) orientiert, sondern auf die subjektive Sicht des Käufers, kommt es zu nicht erstrebenswerten Zufallsergebnissen. Im Fall der linearen Ermittlung des Wertes des Nutzungsersatzes für Pkw kann dies dazu führen, dass ein wirtschaftlicher Anreiz für die Käufer manipulierter Pkw geschaffen wird, den Klageweg zu beschreiten, wenn im Rahmen der Rückabwicklung regelmäßig eine Rückgabe des Fahrzeugs zu Konditionen möglich ist, die am freien Markt selbst für Fahrzeuge, die über keine unzulässigen Abschalteinrichtungen verfügen, nicht erzielt werden könnten.
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Selbst für eine Klagepartei, die sich dafür entschieden hat, ein Neufahrzeug zu erwerben und dieses selbst zu nutzen, bis die Maximallaufleistung erreicht ist, stellt die degressive Ermittlung des Wertersatzes keinen unzumutbaren Nachteil dar. Denn dieser Klagepartei steht es frei, nach Rückgabe des manipulierten Fahrzeugs ein gebrauchtes Fahrzeug ohne unzulässige Abschalteinrichtung zu erwerben, das in Alter, Laufleistung und Ausstattung dem an den Hersteller zurückgegebenen Fahrzeug entspricht. Sie kann so sogar den von ihr von Anfang an beabsichtigten Zustand herzustellen. Soweit eine Ansicht (vgl. beispielsweise OLG Köln Urt. v. 10.3.2020 - 4 U 219/19, BeckRS 2020, 3439 Rn. 117, beckonline) argumentiert, dass der hypothetische Veräußerungswert eines mangelfreien Fahrzeugs im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nur dann ein sachgerechter Maßstab für die Bewertung der gezogenen Nutzungsvorteile wäre, wenn auch von einer zeitnahen Veräußerung ausgegangen werden könnte, übersieht sie, dass der Wert der gezogenen Nutzungen unabhängig davon ist, ob der jeweilige Kläger eine (zeitnahe) Veräußerung plant(e). Es geht auch nicht darum, ob sich der Wertverlust für den Kläger realisiert hätte, sondern schlichtweg um den Wert der vom Kläger gezogenen Nutzungen. Dass es sachgerecht ist, diese anhand der Wertentwicklung eines nicht von einem Rückruf betroffenen Fahrzeugs zu bewerten, wurde bereits oben dargestellt. Auch der Käufer eines Neufahrzeugs, der dieses bis zur Verschrottung fahren will, weiß, dass er zunächst Nutzungen zieht, die aufgrund der geringeren Reparaturanfälligkeit und technischen Aktualität am Markt und letztendlich auch für ihn selbst mehr wert sind, als die Nutzungen, die gezogen werden, wenn sich das Fahrzeugleben dem Ende zuneigt. Dieser Realität kann er sich nicht mit dem Argument entziehen, dass er das Fahrzeug bis zur Verschrottung gefahren wäre. Im vorliegenden Fall hat der Kläger das Fahrzeug aber ohnehin weiterverkauft.
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Letztendlich berücksichtigt auch die lineare Berechnungsmethode zumindest teilweise die vom Gericht dargestellten Argumente, da sie den Wert der Nutzungen ja anhand des Kaufpreises und damit des Wertes des Fahrzeuges ermittelt. Wenn, wie die Klageparteien bisweilen vortragen, es bei dem Wert der Nutzungen überhaupt nicht auf den Wert bzw. Wertverlust des Fahrzeugs ankommen würde, dürfte man mit diesem Argument konsequenterweise überhaupt nicht auf den Kaufpreis des Fahrzeugs abstellen, sondern könnte es den Gerichten überlassen, zu schätzen, was die Fortbewegung mit einem Pkw pro Kilometer wert ist. Eine solche Vorgehensweise würde aber aus den oben genannten Gründen erst recht gegen das schadensrechtliche Bereicherungsverbot verstoßen.
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d) Um die oben aufgeführten Stufen im Rahmen der Berechnung berücksichtigen zu können, hat das Gericht folgende Methode entwickelt:
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Es bleibt dabei, dass der von der Klagepartei gezahlte Kaufpreis für das Fahrzeug durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt geteilt und dieser Wert mit den gefahrenen Kilometern multipliziert wird. Allerdings werden in diese Berechnung nicht die tatsächlichen Kilometerstände eingestellt, sondern fiktive Werte. Die fiktiven Werte werden gebildet, indem die jeweiligen Kilometerstände in die oben aufgeführten Stufen zerlegt werden und mit den oben aufgeführten Faktoren multipliziert werden.
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Bei der Berechnung muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Stufen unterschiedlich groß sind, also eine unterschiedliche Anzahl an Kilometern beinhalten. Um die Gewichtung der Stufen zueinander im Verhältnis 3:2:1 zu erhalten (pro Stufe), muss die unterschiedliche Größe der Stufen mit den Faktoren 3 für Stufe 1, 1 für Stufe 2 (größte Stufe) und 1,5 für Stufe 3 ausgeglichen werden. Hinzu kommen die Faktoren für die Gewichtung: 3 für Stufe 1, 2 für Stufe 2 und 1 für Stufe 3 (Verhältnis 3:2:1).
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Insgesamt ergeben sich nach Multiplikation der jeweiligen Faktoren folgende Faktoren: 9 (3 * 3) für Stufe 1, 2 (2 * 1) für Stufe 2 und 1,5 für Stufe 3 (1 * 1,5).
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Der Nutzungsersatz berechnet sich unter Berücksichtigung der im vorliegenden gefahrenen Kilometer (114.746) und der Kilometer beim Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei (29.152) und unter Berücksichtigung der Finanzierungskosten, die zum Kaufpreis addiert werden, da der Kläger letztendlich auch die Finanzierungskosten zum Kauf des Fahrzeugs aufgewandt hat, folgendermaßen:
Nutzungsersatz in € =
=
52.574,65 € * ((50.000 * 9) + (64.746 * 2) - (29.152 * 9)) / ((50.000 * 9) + (150.000 * 2)
26.147,81 €.
+(100.000 * 1,5) - (29.152 * 9))
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Für 300.000 Kilometer (geschätzte maximale Gesamtlaufleistung) ergibt sich im obigen Beispiel ein fiktiver Wert von (50.000 * 9) + (150.000 * 2) +(100.000 * 1,5), also insgesamt 900.000 Kilometer, da alle drei Stufen voll ausgefüllt sind.
32
Für 29.152 Kilometer (Kilometer zum Zeitpunkt des Schlusses des Kaufvertrags) ergibt sich im obigen Beispiel ein fiktiver Wert von (29.152 * 9), also 262.368 Kilometer, da Stufe 1 mit 29.152 Kilometern ausgefüllt ist.
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Für 114.746 Kilometer (Kilometer zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt des Verkaufs des Fahrzeugs) ergibt sich ein fiktiver Wert von ((50.000 * 9) + (64.746 * 2)), also 579.492 Kilometer, da Stufe 1 mit 50.000 Kilometern und Stufe 2 mit 64.746 (114.746 - 50.000) ausgefüllt ist.
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Mithin würde ein klägerischer Anspruch auf Zahlung in Höhe von 26.426,84 € (52.574,65 € - 26.147,81 €) verbleiben, wobei insoweit nicht berücksichtigt ist, dass der Kläger aufgrund des Verkaufs des Fahrzeugs 29.831,13 € erhalten.
35
Da der Kläger das streitgegenständliche Fahrzeug verkauft hat, besteht nach dieser konkreten Schadensberechnung kein Anspruch des Beklagten.
III.
36
Mangels Hauptanspruch hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Ersatz seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
IV.
37
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91 I, 91a ZPO. Bezüglich der Erledigterklärung war zu berücksichtigen, dass zunächst unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Rückabwicklung des streitgegenständlichen Kaufvertrages bestand. Insoweit war aber nach der oben dargelegten Formel und bei einem Kilometerstand von 105.012 Kilometern (siehe Seite 3 der Klage), eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 24.542,62 € zu berücksichtigen. Die ursprüngliche Klage hätte also Erfolg in Höhe von 28.032,03 € gehabt. Ausgehend von einem Streitwert von 42.561,94 € hätte die Beklagte 66 Prozent der Kosten des Rechtsstreits getragen. Der Rechtsstreit wurde in Höhe von 31.115,92 € für erledigt erklärt, da nur noch 11.446,02 € eingeklagt werden. Setzt man diese Werte ins Verhältnis, so ergibt sich eine Kostentragungspflicht der Beklagten aufgrund des erledigten Teils in Höhe von 48 Prozent. Da der Kläger bezüglich des nicht erledigten Teils voll unterliegt, ergibt sich die tenorierte Kostenquote.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den § 709 ZPO.