VGH München, Beschluss v. 29.12.2021 – 20 NE 21.3037
Titel:

Bekleidungsgeschäft als Ladengeschäft zur Deckung des täglichen Bedarfs

Normenketten:
15. BayIfSMV § 5 Abs. 1, § 10 Abs. 1 S. 1, S. 2
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1, Abs. 6
Leitsätze:
Bekleidungsgeschäfte dienen der „Deckung des täglichen Bedarfs“ iSd § 10 I 1 15. BayIfSMV. Bekleidung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, deren Bedeutung für die Allgemeinheit nicht hinter Schuhe, Bücher, Schnittblumen und Gartengeräte zurücktritt. Der Bedarf an Kleidung besteht zudem täglich. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Bekleidungsgeschäft dient der "Deckung des täglichen Bedarfs" iSd § 10 Abs. 1 S. 1 BayIfSMV iVm S. 2 15. BayIfSMV und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich der Zugangsbeschränkung nach § 10 Abs. 1 S. 1 iVm § 5 Abs. 1 15. BayIfSMV. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Zugangsbeschränkung („2G“), Handelsbetrieb/Ladengeschäft mit Kundenverkehr, Ladengeschäft zur Deckung des täglichen Bedarfs (hier: Bekleidungsgeschäft), Antragsbefugnis, Infektionsschutz, Zugangsbeschränkung ("2G"), Bekleidungsgeschäft, Deckung des täglichen Bedarfs
Fundstellen:
BeckRS 2021, 40587
GewA 2022, 84
LSK 2021, 40587

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt

Gründe

I.
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Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO wendet sich die Antragstellerin, die in Bayern Bekleidungshäuser betreibt, gegen § 10 Abs. 1 Satz 1 der 15. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 23. November 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 816) i.d.F. des § 1 Nr. 3 der Änderungsverordnung vom 23. Dezember 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 949).
2
Die angegriffene Norm hat folgenden Wortlaut:
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„§ 10 Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Märkte
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(1) Die Öffnung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr für Handelsangebote ist nur unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und des § 4 Abs. 3 und 5 gestattet, soweit diese nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen. Zum täglichen Bedarf gehört insbesondere der Lebensmittelhandel einschließlich der Direktvermarktung, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Schuhgeschäfte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörakustiker, Tankstellen, der Verkauf von Presseartikeln und Tabakwaren, Filialen des Brief- und Versandhandels, Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte, Baumärkte, Gartenmärkte, der Verkauf von Weihnachtsbäumen und der Großhandel.“
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Nach den in Abs. 1 Satz 1 der angegriffenen Bestimmung in Bezug genommenen Vorschriften darf der Zugang zu geschlossenen Räumen nur durch Besucher erfolgen, soweit diese i.S.d. § 2 Nr. 2 und 4 SchAusnahmV geimpft oder genesen oder unter 14 alt sind (§ 5 Abs. 1 15 BayIfSMV) oder die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulassung nach § 4 Abs. 3 15. BayIfSMV erfüllen.
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Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
7
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag ist unzulässig und hat deshalb keinen Erfolg.
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1. Der Antragstellerin fehlt es bereits an der erforderlichen Antragsbefugnis i.S.v. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Sie kann nicht geltend machen, durch die angegriffene Norm in ihren Rechten verletzt zu sein, weil die von ihr betriebenen Bekleidungsgeschäfte vom Tatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV nicht unmittelbar erfasst werden.
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Ein Bekleidungsgeschäft dient der „Deckung des täglichen Bedarfs“ i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 15. BayIfSMV und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich der Zugangsbeschränkung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 15. BayIfSMV.
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Zur Begründung kann zunächst sinngemäß Bezug genommen werden auf die Senatsrechtsprechung zu § 12 Abs. 1 Satz 2 11./12. BayIfSMV (vgl. insbesondere B.v. 31.3.2021 - 20 NE 21.540 - juris Rn. 10; B.v. 3.3.2021 2021 - 20 NE 21.391 - juris Rn. 10). Dort wurde zwar der Begriff der „für die tägliche Versorgung unverzichtbaren Ladengeschäfte“ verwendet (vgl. hierzu BayVGH, B. v. 4.3.2021 - 20 CE 21.550 - juris). Insoweit dürfte aber der jetzt verwendete Begriff der Ladengeschäfte, die „der Deckung des täglichen Bedarfs dienen“ schon von der Wortbedeutung weiter zu verstehen sein. Der Verordnungsgeber hat insofern an dem bereits in § 12 Abs. 1 Satz 2 11./12. BayIfSMV verwendeten Regelungsmodell festgehalten, einen bestimmten Kreis von Ladengeschäften von einer allgemeinen Beschränkung - einem Öffnungsverbot (§ 12 Abs. 1 Satz 2 11./12. BayIfSMV) bzw. aktuell einem Zutrittsverbot für nicht-immunisierte Kunden (§ 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV) - auszunehmen, die Ausnahmen aber weder eindeutig abstrakt noch durch eine abschließende Aufzählung (so etwa § 17 Abs. 1 Satz 4 CoronaVO Baden-Württemberg vom 15.9.2021 i.d.F. der ÄnderungsVO vom 14.12.2021) konkret definiert. Der Zugangsbeschränkung unterfallen danach Ladengeschäfte nur, „soweit diese nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen“, wobei diese Formulierung durch eine - allerdings ausdrücklich nicht abschließende („insbesondere“) - regelbeispielhafte Aufzählung von Ladengeschäften in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV erläutert wird.
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a) Der Begriff der „Ladengeschäfte mit Kundenverkehr für Handelsangebote (…), soweit diese nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen“ ist danach unter Berücksichtigung der in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV aufgelisteten Regelbeispiele auszulegen. Verwendet ein Gesetzgeber Regelbeispiele so haben diese Leitbildcharakter für die Auslegung einer Vorschrift (BVerwG, U. v. 29.1.2014 - 6 C 2.13 - NVwZ-RR 2014, 473). Sie sind das Ergebnis einer wertenden Betrachtung der normativen Eigenarten des hier betroffenen Verwaltungsbereichs durch den Verordnungsgeber (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 29.8.2019 - 7 C 33.17 - NVwZ 2020, 1114). Dabei belegen die Regelbeispiele - die auch vergleichsweise selten und i.d.R. nur anlassbezogen aufzusuchende Läden wie Optiker, Hörakustiker, Baumärkte und Weihnachtsbaumverkäufe umfassen -, dass Ladengeschäfte einem „täglichen Bedarf“ nicht erst dann dienen, wenn sie der Deckung eines im eigentlichen Wortsinn „täglich“ auftretenden Bedarfs jedes einzelnen dienen, sondern vielmehr schon dann, wenn sie einen individuellen Bedarf abdecken, der jederzeit und damit „täglich“ eintreten kann (vgl. bereits BayVGH, B.v. 31.3.2021 - 20 NE 21.540 - juris Rn. 10; B.v. 3.3.2021 - 20 NE 21.391 - juris Rn. 11).
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Zum mindestens erforderlichen Gewicht bzw. zur Dringlichkeit und Wichtigkeit eines solchen Bedarfs ist weder dem Verordnungstext noch der Begründung (vgl. BayMBl. 2021 Nr. 842 S. 6) eine abstrakte Aussage zu entnehmen. Einziger Anhaltspunkt ist insofern das Gewicht der genannten Regelbeispiele, die aus Sicht des Verordnungsgebers der täglichen Bedarfsdeckung dienen sollen. Dabei zeigt sich - wie schon bei den in § 12 Abs. 1 Satz 2 11./12. BayIfSMV aufgeführten Regelbeispielen - eine heterogene Gemengelage: Einige der genannten Läden sind eindeutig der (lebens-)notwendigen Grund- und Akutversorgung zuzuordnen (wie Lebensmittel- und Getränkemärkte, Apotheken und Tankstellen), andere hingegen ebenso eindeutig nicht (wie insbesondere Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte und Gartenmärkte). Wenn aber auch solche nicht der notwendigen Akutversorgung dienenden Ladengeschäfte ausdrücklich von den Zugangsbeschränkungen ausgenommen sind, kann ein „Bedarf“ i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV jedenfalls kein größeres Gewicht und keine höhere Dringlichkeit voraussetzen als dem Bedarf an Buchhandlungen, Blumenfachgeschäften und Gartenmärkten zukommt.
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Ob die vom Antragsgegner vorgetragenen Rechtfertigungsgründe der Privilegierungen einzelner Sparten (im Hinblick auf den Buchhandel das Informationsbedürfnis der Bevölkerung und der Schutz der Kultur; im Hinblick auf Blumengeschäfte und Gartenmärkte die Verderblichkeit von Blumen und Pflanzen) tragfähig sind, hat in diesem - nur die Ermittlung des Norminhalts betreffenden - Zusammenhang keine Bedeutung. Durch ihre Verwendung als Regelbeispiele für den täglichen Bedarf in einem nicht abschließenden Tatbestand haben sie jedenfalls prägende Wirkung für nicht genannte Ladengeschäfte zur Deckung des täglichen Bedarfs.
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b) Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass auch Bekleidungsgeschäfte der „Deckung des täglichen Bedarfs“ i.S.d § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV dienen. Bekleidung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, deren Bedeutung für die Allgemeinheit nicht hinter Schuhe, Bücher, Schnittblumen und Gartengeräte zurücktritt. Der Bedarf an Kleidung besteht zudem täglich.
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Auf die Möglichkeit, Bekleidung alternativ unter Verwendung technischer Hilfsmittel außerhalb von Ladengeschäften zu erwerben, kommt es nicht an, denn dies gilt ohne weiteres auch für einen großen Teil des Angebots der in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV ausdrücklich genannten Ladengeschäfte.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die vom Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 12. Januar 2022 außer Kraft tritt (§ 18 15. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).