Inhalt

VGH München, Beschluss v. 03.03.2021 – 20 NE 21.391
Titel:

Betriebsuntersagung für Versicherungsagenturen wegen Corona

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1, Abs. 6
BayIfSMV § 12 Abs. 1 11
Leitsatz:
Versicherungsagenturen unterfallen als sonstige für die tägliche Versorgung unverzichtbare Ladengeschäft nicht der Betriebsuntersagung nach der Bayerischen Corona-Schutzverordnung. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Dienstleistungen/Ladengeschäft (hier: Versicherungsagentur), sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft, Antragsbefugnis
Fundstelle:
BeckRS 2021, 3806

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller betreibt eine Generalvertretung einer Versicherung in Bayern. Mit seinem Antrag wendet er sich gegen § 12 Abs. 1 Satz 1 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (11. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 737) in der Fassung vom 24. Februar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 149). Er ist der Auffassung, durch die angegriffene Norm werde ihm die berufliche Tätigkeit in den Räumlichkeiten seiner Agentur untersagt, obwohl die von ihm angebotenen Beratungsdienstleistungen und Produkte mit denen der - ausdrücklich vom Verbot ausgenommenen - Banken und Sparkassen vergleichbar seien. Die Norm verletze ihn in seinen Grundrechten der Berufsfreiheit, der persönlichen Unversehrtheit, des Eigentums und des Gleichbehandlungsgrundsatzes und sei daher in Bezug auf Versicherungsagenturen außer Vollzug zu setzen.
2
Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
3
Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 16. Februar 2021 darauf hingewiesen, dass die Dienstleistungen von Versicherungsagenturen unabhängig vom Ort ihrer Erbringung - insofern vergleichbar den Dienstleistungen der Angehörigen sog. freier Berufe und den Dienstleistungen von Banken und Sparkassen - als „für die tägliche Versorgung unverzichtbar“ i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV anzusehen sein könnten.
4
Der Antragsgegner hat dagegen eingewandt, dass eine Vergleichbarkeit der Tätigkeit des Antragstellers mit Banken, Sparkassen und Pfandleihhäusern nicht bestehe, da deren Kernangebot regelmäßig gerade das Aufsuchen dieser Einrichtungen erfordere, während die Tätigkeit des Antragstellers ohne weiteres auch beim Kunden zu Haus oder unter Verwendung technischer Hilfsmittel stattfinden könne. Die Tätigkeit der Angehörigen freier Berufe sei - im Gegensatz zur Tätigkeit des Antragstellers - entweder (wie bei Rechtsanwälten) in besonderem Maße geschützt oder (wie beim Arzt oder Apotheker) der Natur der Sache nach an bestimmte Orte gebunden.
5
Der Antragsteller ist der Auffassung, die Dienstleistung von Versicherungsagenturen unterfalle dem Ausnahmetatbestand des § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV. Ungeachtet dessen werde am Eilantrag festgehalten, da Versicherungsagenturen im Katalog des § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV nicht auftauchten und auch der Antragsgegner nicht von einem Ausnahmefall ausgehe.
6
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
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1. Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO hat keinen Erfolg, weil er unzulässig ist.
8
Es fehlt bereits an der erforderlichen Antragsbefugnis i.S.v. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Der Antragsteller kann nicht geltend machen, durch die angegriffene Norm in seinen Rechten verletzt zu sein, weil er - sowohl nach eigener Auffassung wie auch der des erkennenden Senats - vom Verbotstatbestand des § 12 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV nicht unmittelbar erfasst wird.
9
Die vom Antragsteller betriebene Versicherungsagentur ist als „sonstiges für die tägliche Versorgung unverzichtbares Ladengeschäft“ i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV anzusehen und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich der Betriebsuntersagung nach § 12 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV.
10
a) Der Begriff des „sonstigen für die tägliche Versorgung unverzichtbaren Ladengeschäfts“ ist unter Berücksichtigung der in § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV aufgelisteten Ladengeschäfte von Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksbetrieben mit Kundenverkehr auszulegen. Einem „unverzichtbaren“ Versorgungsinteresse i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV dienen Ladengeschäfte bei der grundsätzlich gebotenen engen Auslegung des Ausnahmetatbestands nur unter der Voraussetzung, dass die Befriedigung des Bedarfs ein gewisses Gewicht hat und von der Rechtsordnung anerkannt ist (vgl. dazu bereits BayVGH, B.v. 14.1.2021 - 20 CE 21.30 - BeckRS 2020, 39080 Rn. 9). Dabei dürfte das mindestens erforderliche Gewicht eines solchen Bedarfs spätestens seit der Erweiterung der Liste ausdrücklich zugelassener Ladengeschäfte zum 1. März 2021 u.a. um Blumenfachgeschäfte sowie Garten- und Baumärkte (vgl. § 1 Nr. 2 der Änderungsverordnung vom 24. Februar 2021, BayMBl. 2021 Nr. 149) auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau anzusiedeln sein.
11
Der „täglichen Versorgung“ dienen Ladengeschäfte nicht erst dann, wenn sie der Deckung eines im eigentlichen Wortsinn „täglich“ auftretenden Bedarfs jedes einzelnen dienen, sondern vielmehr schon dann, wenn sie einen individuellen Bedarf abdecken, der jederzeit und damit „täglich“ eintreten kann. Das ergibt sich insbesondere daraus, dass auch mehrere der in § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV ausdrücklich genannten Betriebsarten - wie z.B. Apotheken, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker oder Kfz- und Fahrradwerkstätten - einem Bedarf dienen, der sich für den Einzelnen üblicherweise nur gelegentlich ergibt, aber nicht plan- oder vorhersehbar ist.
12
b) Versicherungsagenturen sind als „für die tägliche Versorgung unverzichtbar“ anzusehen. Die von Versicherungen angebotenen Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einem Bedarf dienen, der jedenfalls teilweise - etwa bei der Abwicklung von Schadensfällen - jederzeit eintreten kann und nicht vorhersehbar ist. Darauf, dass das Aufsuchen einer Versicherungsagentur durch deren Kunden nicht im engeren Sinn „lebensnotwendig“ ist, kommt es nach dem Vorstehenden ebenso wenig an wie auf die Tatsache, dass die Dienstleistungen der Versicherungsagenturen überwiegend auch unter Verwendung technischer Hilfsmittel ohne persönlichen Kontakt erbracht werden können, denn beides gilt ohne weiteres auch für die Mehrzahl der in § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV ausdrücklich genannten Ladengeschäfte. Schließlich greift das Argument des Antragsgegners nicht durch, die Tätigkeit der Versicherungsagenturen sei mit der Berufsausübung der Angehörigen sog. freier Berufe nicht vergleichbar. Unabhängig davon, dass schon im Grundsatz nicht ersichtlich ist, warum bei der Zulässigkeit von Dienstleistungen pauschal zwischen den Angehörigen freier Berufe und anderen Dienstleistern differenziert werden sollte (so wohl aber die Darstellung im Rahmen der „FAQ Corona und Wirtschaft“, Stand: 27. Februar 2021, abrufbar unter https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2021/02/2021_02_26-positivliste_reinschrift.pdf), lassen sich sowohl der vom Antragsgegner insofern angeführte besondere (verfassungsrechtliche) Schutz der Tätigkeit als Organ der Rechtspflege als auch die sachliche Notwendigkeit der Leistungserbringung in den Räumlichkeiten des Dienstleisters allenfalls bei einzelnen freiberuflichen Tätigkeiten feststellen. Auf eine Vielzahl der in § 18 Abs. 1 Satz 2 EStG (nicht abschließend) aufgeführten freiberuflichen Tätigkeiten dürfte weder das eine noch das andere Argument uneingeschränkt übertragbar sein.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die vom Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 7. März 2021 außer Kraft tritt (§ 29 Abs. 1 11. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht ist.