VG Ansbach, Urteil v. 08.09.2021 – AN 9 K 21.00170
Titel:

Nutzungsänderung von Laden zu Wettbüro – Eigenart der näheren Umgebung

Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1, Abs. 2
BayBO Art. 47 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Ein Baugebiet verliert oder ändert den Charakter nach der Art seiner Bebauung nicht dadurch, dass es den Auswirkungen eines angrenzenden Baugebiets ausgesetzt ist. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Festzustellen ist die Eigenart der näheren Umgebung mit Blick auf jedes der Merkmale aus § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB, mithin auch die Eigenart der Art der Nutzung der Grundstücke der näheren Umgebung. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Bebauungsrecht hindert die Gemeinde nicht, eine Nutzungsstruktur anzustreben, die mit den Mitteln des Bebauungsrechts nicht durchsetzbar wäre. Es hindert sie auch nicht, Ermessens-Instrumente so einzusetzen, dass eine solche Entwicklung gefördert wird. Zu diesen Instrumenten kann auch die Schaffung von Stellplätzen gehören. (Rn. 69) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verpflichtungsklage auf Baugenehmigung zur Nutzungsänderung von Laden zu Wettbüro, Kein Genehmigungsanspruch für ein Wettbüro im faktischen Allgemeinen, Wohngebiet, Begrenzung der näheren Umgebung bei angrenzender andersartiger Nutzungsstruktur, kein Genehmigungsanspruch für ein Wettbüro im faktischen Allgemeinen Wohngebiet, Vergnügungsstätte, KFZ-Stellplätze, örtliche Bauvorschrift
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 16.03.2022 – 9 ZB 21.3007
Fundstelle:
BeckRS 2021, 35015

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erteilung einer zuvor versagten Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von Ladenlokal zu Wettbüro.
2
Die Klägerin ist Bauherrin im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens von Ladenlokal zu Wettbüro im Erdgeschoss des Anwesens … in …, Grundstück Flurnummer … - Gemarkung … Das genannte Anwesen wurde 1898 als Wohnhaus baurechtlich genehmigt; am 22. Mai 1997 wurde die Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung im Erdgeschoss des Anwesens von „Wohnen“ zu „Laden“ erteilt.
3
Das Anwesen liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans … der Beklagten vom 18. August 1898. Dieser setzt für das betreffende Grundstück eine Baulinie fest. Weitere Festsetzungen bestehen nicht; im Übrigen liegt das Anwesen zwar im Umgriff des ehemals in Aufstellung befindlichen Bebauungsplans Nr. … „…“. Das diesbezügliche Planungsverfahren wurde mit Beschluss des Stadtplanungsausschusses der Beklagten als beschließendem Ausschuss am 9. Mai 2019 aufgehoben.
4
Im Rahmen einer Ortseinsicht am 2. Juli 2014 stellte die Beklagte im Ladenlokal im Erdgeschoss des Anwesens … in … den Betrieb eines Wettbüros der Nutzfläche von ~ 94 m2 fest; eine Baugenehmigung hatte sie vor Nutzungsaufnahme nicht erteilt.
5
Mit Schreiben vom 18. November 2014 wandte sich die Beklagte an die damaligen Eigentümer des Ladenlokals im Erdgeschoss sowie die damals nach der Gewerbeanmeldung ab dem 30. Juli 2014 als Vermittlerin der Sportwetten auftretende ehemalige Betreiberin und nunmehrige Bauherrin. Darin erklärte sie, der Betrieb des Wettbüros sei baugenehmigungspflichtig.
6
Am 15. Januar 2015 stellte die damalige Betreiberin … als Bauherrin einen Bauantrag zur Genehmigung einer Nutzungsänderung von Laden zu Wettbüro.
7
Mit Schreiben vom 2. Januar 2017 teilte die Beklagte der damaligen Bauherrin … mit, dass eine Genehmigung aus rechtlichen Gründen nicht erteilt werden könne. Von der ihr gleichzeitig eingeräumten Möglichkeit, zur in Aussicht genommenen Genehmigungsversagung Stellung zu nehmen, machte diese am 11. Januar 2017 Gebrauch. Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 teilte die Beklagte mit, sie gehe weiter von fehlender Genehmigungsfähigkeit aus.
8
Mit Bescheid vom 24. April 2018 (Az. …*) versagte die Beklagte der damaligen Bauherrin … die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von Laden zu Wettbüro (Nr. 1). Zugleich untersagte sie ihr die Nutzung der Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Anwesens … als Wettbüro (Nr. 2). Für den Fall der Nichteinhaltung binnen eines Monats drohte sie ein Zwangsgeld von 10.000 EUR an (Nr. 3).
9
Zur Begründung führte sie aus, die Räumlichkeiten im Erdgeschoss des betreffenden Objekts seien baurechtlich als Ladenlokal genehmigt. Daher handele es sich bei der nunmehrigen Nutzung als Sportwettenlokal um eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung. Eine Baugenehmigung könne aber nicht erteilt werden:
10
Die Nutzung als Wettbüro sei zum einen bauplanungsrechtlich nicht zulässig. Das Vorhaben liege im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans … Das Vorhaben sei zulässig, wenn es dem Bebauungsplan nicht widerspreche; im Übrigen komme es darauf an, ob sich das Vorhaben unter anderem im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung i.S.d. § 34 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge und die Erschließung gesichert sei.
11
Das Vorhabengrundstück … Gemarkung … liege nach den bestehenden Nutzungen im nicht gewerblich geprägten Teil eines Mischgebiets i.S.v. § 6 BauNVO. Bezugsumgebung sei das Quartier, das durch die …, die …, die … und die … begrenzt werde. Dieses kennzeichne überwiegend geschlossene Blockrandbebauung mit bis zu fünf Geschossen.
12
Nach der Beklagten bestehe das Quartier aus dreizehn Gebäuden inklusive Nebengebäuden, von denen vier vollständig dem Wohnen dienten. Vier der weiteren Anwesen verfügten über erdgeschossige Nutzungen (Gaststätte, Handyshop) sowie Nutzungen in den Obergeschossen (Praxis für Krankengymnastik, Rechtsanwalt, Zahnarzt, Labor) die im Allgemeinen Wohngebiet im Sinne des § 4 BauNVO allgemein zulässig seien. Die Einrichtung der Stadtmission, die private Fachoberschule und der Kindergarten verfolgten soziale Zwecke und seien nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO zulässig. Ausnahmsweise sei das Hotel entsprechend § 4 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO genehmigt worden. Nur das Fitnessstudio in der … habe als sonstiger Gewerbebetrieb nach § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO Mischgebietscharakter. Die Beklagte meint daher, das Bauquartier sei nahezu ein Allgemeines Wohngebiet im Sinne des § 4 BauNVO. Nach § 6 Abs. 1 BauNVO dienten Mischgebiete dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören: Trotz räumlicher Nähe des Wettbüros zum Fitnessstudio sei der Bereich kein gewerblich geprägter Teil des Mischgebietes, da sich im betroffenen sowie den benachbarten Anwesen ab dem 1. Obergeschoss Wohnungen befänden.
13
Über das definierte Quartier hinaus habe die … aufgrund ihrer Dimensionierung, Begrünung und Funktion mit U-Bahnlinie eine trennende Wirkung. Die gegenüberliegende Straßenseite sei daher nicht für die Beurteilung der Gebietseinstufung heranzuziehen. Weiter sei für den betreffenden Bereich der Bebauungsplan … in Aufstellung. Dieser solle unter anderem dem sog. trading-down-Effekt entgegenwirken, den Wettbüros auslösen könnten.
14
Das zur Genehmigung gestellte Wettbüro sei eine gewerbliche Vergnügungsstätte. Nach der Ausstattung und der Art des Betriebs liege der Fokus auf der Unterhaltung der Kunden durch Teilnahme am Wettspiel in geselliger Runde. Im Übrigen zeige die Betriebsbeschreibung mit Öffnungszeiten von 8:00 bis 1:00 Uhr, dass die Nutzung nicht der genehmigten Nutzung Ladenlokal entspreche. Da das Wettbüro nicht im gewerblich geprägten Teil eines Mischgebiets liege, sei es nach § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO unzulässig. Eine ausnahmsweise Zulässigkeit sei i.S.v. § 15 BauNVO nicht möglich, da dies zu unzumutbaren Störungen für die Wohnnutzungen ab dem 1. Obergeschoss führen würde. Von Wettbüros gingen angesichts des typischen Nutzerkreises, der Nutzungszeiten, angebotener Veranstaltungen und dem damit verknüpften Verkehrsaufkommen erhebliche Lärmemissionen aus.
15
Schließlich löse das Wettbüro als Bauvorhaben nach der Satzung über die Herstellung und Bereithaltung von Kraftfahrzeugstellplätzen und Fahrradabstellplätzen der Beklagten einen Bedarf von sechs zusätzlichen Stellplätzen aus. Die Bauherrin habe keinen Stellplatznachweis geführt.
16
Gegen diesen Bescheid hat die damalige Bauherrin … am 11. Mai 2018 Klage erhoben.
17
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, ihr stehe ein Genehmigungsanspruch zu. Ihr Vorhaben liege in einem Mischgebiet, wo es auch zulässig sei. In faktischen Mischgebieten seien Vergnügungsstätten i.S.d. § 4a Abs. 3 Nr. 2 BauNVO in den Gebietsteilen allgemein zulässig, die überwiegend durch gewerbliche Nutzungen geprägt seien. (§ 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO). Das sei für ihr Vorhaben der Fall. Das Vorhaben sei aber auch zulässig, wenn es sich um ein nicht gewerblich geprägtes Mischgebiet handele. Die Klägerin habe einen ausnahmsweisen Zulassungsanspruch. Im Gebiet sei keine weitere Vergnügungsstätte vorhanden. Ferner gingen vom Wettbüro keine für die Umgebung unzumutbaren Beeinträchtigungen und Störungen insbesondere in Form von Lärmemissionen aus. Der Betrieb des Wettbüros präge das maßgebliche Gebiet nicht in einer Weise, die dem Gebietscharakter widerspreche. Die Öffnungszeiten seien ortsüblich; es sei keine Nachtöffnung geplant, sondern allenfalls eine bis 23:00 Uhr - dies reiche nur unwesentlich in die Nachtzeit nach der TA-Lärm. Zudem verursache das Wettbüro keine verkehrlichen Lärmbelästigungen. Das Vorhaben liege an der … - eine der Hauptein- und -ausfahrtsstraßen der Stadt … Die bestehenden Wohnungen seien daher vorbelastet. Dies verstärke das Wettbüro in keiner Weise. Auch die aktuelle Rechtsprechung nehme an, dass Wettbüros keine Störungen hervorriefen (verwiesen wird auf VG Ansbach, U.v. 9.4.2014 - AN 9 K 13.01367- Rn. 49, juris; VG München, U.v. 13.10.2014 - M 8 K 13.3524 -, RN. 32, juris; VG Düsseldorf, U.v. 22.8.2016 - 28 K 3867/15 -, Rn 86ff, juris). Im Übrigen werde das Wettbüro bereits betrieben; es sei aber nie zu Beschwerden von Anwohnern gekommen.
18
Ferner verursache das Wettbüro keinerlei trading-down-Effekt - im Gegenteil trage es eine neue Nutzung ins Gebiet, die bislang nicht vorhanden sei (verwiesen wird auf: VG München, U.v. 14.1.2008 - M 8 K 07.2071 -, Rn. 32, juris).
19
Das Vorhaben füge sich in die Eigenart des Mischgebiets ein. Leitbild eines Mischgebiets sei ein gleichwertiges Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe. Dabei seien auch Vergnügungsstätten im Mischgebiet zulässig, verwiesen werde auf § 6 Abs. 2 Nr. 8 und Abs. 3 BauNVO.
20
Zuletzt meint die Klägerin, habe die Beklagte ihr Auswahlermessen nicht ausgeübt.
21
Mit Bescheid vom 24. Januar 2019 hob die Beklagte die Nummern 2 und 3 des Bescheides vom 24. April 2018 (Az.: …*) auf. Hintergrund war die in einem gesonderten Verfahren getroffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ansbach, die aufschiebende Wirkung der Klage der Klägerin gegen die Nutzungsuntersagung und der Zwangsgeldandrohung wiederherzustellen.
22
Am 2. September 2021 zeigte die Klägerin einen Bauherrenwechsel an: Zugleich erklärte sie einen Parteiwechsel: Die ehemalige Bauherrin und Wettbürobetreiberin … solle durch die nunmehrige Betreiberin … als Klägerin ersetzt werden.
23
Die Beklagte hat dem Parteiwechsel mündlich zugestimmt; im Übrigen hat sie sich in der mündlichen Verhandlung vom 8. September 2021 auf die geänderte Klage eingelassen.
24
Die Klägerin beantragt zuletzt,
unter Aufhebung des Bescheids vom 24. April 2018 der Klägerin die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
25
Die Beklagte beantragt zuletzt,
Klageabweisung.
26
Zur Begründung bezieht sie im Wesentlichen auf den Inhalt ihrer angefochtenen Verwaltungsentscheidung.
27
Am 8. September 2021 hat die Kammer den Standort des geplanten Vorhabens sowie dessen nähere Umgebung in Augenschein genommen.
28
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls verwiesen. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Sie sind Inhalt der gerichtlichen Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

29
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Versagung der Baugenehmigung erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin insofern nicht in ihren Rechten.
30
I. Der Parteiwechsel war zulässig. Der gewillkürte Parteiwechsel ist als Klageänderung einzuordnen (statt Vieler: Schoch/Schneider/Riese, 40. EL Februar 2021 VwGO § 91 Rn. 37). Hier hat die Beklagte dieser Klageänderung mündlich zugestimmt, im Übrigen hat sie sich in der mündlichen Verhandlung vom 08. September 2021 rügelos auf die geänderte Klage eingelassen.
31
II. Wie die Beteiligten hält das Gericht die Nutzungsänderung von „Laden“ zu „Wettbüro“ im Erdgeschoss des Anwesens … in … für genehmigungspflichtig, Art. 55 Abs. 1 BayBO. Die Voraussetzungen der Genehmigungsfreiheit nach Art. 57 Abs. 4 BayBO liegen nicht vor: Die typische Variationsbreite der genehmigten Nutzung „Laden“ wird verlassen. Ein Wettbüro stellt evident andere, in einem Genehmigungsverfahren zu prüfende Anforderungen: Bereits die im Rahmen des Augenscheins festgestellte Ausstattung wie Sitzgelegenheiten und Getränkeversorgung zeigt, dass der gegenständliche Betrieb anders als ein Ladenlokal auf längere Aufenthalte ausgerichtet ist. Auch hat ein Laden schon wegen des in Bayern geltenden Ladenschlussgebots ab 20:00 Uhr für allgemeine Verkaufsstellen andere Öffnungszeiten, als ein Wettbüro - hier 10:00 bis 23:00 Uhr. Angesichts des unterschiedlichen Publikumsverkehrs gelten somit möglicherweise andere Anforderungen des Anliegerschutzes. Zuletzt sind weitere Fragen wie die nach den notwendigen Stellplätzen neu zu prüfen.
32
III. Indes ist die beantragte Nutzungsänderung nicht genehmigungsfähig.
33
1. Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, Art. 68 BayBO. Mangels Sonderbau i.S.v. Art. 2 Abs. 4 BayBO kommt dabei vorliegend das vereinfachte Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zur Anwendung.
34
2. Prüfungsmaßstab des vereinfachten Genehmigungsverfahrens sind insbesondere die Vorschriften über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit (§§ 29 bis 38 BauGB).
35
Bauplanungsrechtlich erweist sich das zur Genehmigung gestellte Wettbüro als unzulässig.
36
a) Das Wettbüro soll in einem Bereich verwirklicht werden, für den kein qualifizierter oder einfacher Bebauungsplan besteht, der Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung enthält. Die Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich daher insoweit nach §§ 30 Abs. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 BauGB.
37
Allerdings fügt sich der Betrieb einer Vergnügungsstätte nach der Art der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB).
38
aa) Die für ein Vorhaben maßgebliche nähere Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein spezifischer den Vorhabenstandort umgebender Bereich. Die Grenzen der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Halbsatz 1 BauGB lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (vgl. BayVGH, U.v. 24.11.2010 - 9 B 10.363 - juris). Dabei sind die Grundstücke in der Umgebung insoweit zu berücksichtigen, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder beeinflusst.
39
Eine Straße kann insoweit trennendes oder verbindendes Element sein (BVerwG U.v. 25.5.1978, 4 C 9.77; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 34 Rn. 36; VG Ansbach, U.v. 14.11.2018 - AN 9 K 16.641 - juris).
40
Die Grenze der maßgeblichen näheren Umgebung kann auch so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedener Bau- und Nutzungsstruktur aneinanderstoßen (BVerwG, B.v. 28.8.2003 - 4B 74/03 - juris). Ein Baugebiet verliert oder ändert den Charakter nach der Art seiner Bebauung nicht dadurch, dass es den Auswirkungen eines angrenzenden Baugebiets ausgesetzt ist (BVerwG, U.v. 6.7.1985 - 4C 28/83 - BauR 1984, 606).
41
Vorliegend ist unter Heranziehung des Akteninhalts und unter Berücksichtigung der beim Augenschein gewonnenen Erkenntnisse das Geviert … (Norden), … (Osten), … (Süden) und … (Westen) als für die Bestimmung der Eigenart der Art der baulichen Nutzung relevanter Bereich zugrunde zu legen.
42
Die Bebauung und Nutzungen nördlich des Baugrundstücks, jenseits der … prägen das Baugrundstück hingegen nach Auffassung des Gerichts - maßgeblich gestützt auf das Ergebnis des gerichtlichen Augenscheins - nicht in maßgeblicher Weise. Vielmehr bildet die Fahrbahn der … eine optische und funktionelle Zäsur; sie hat trennende Wirkung.
43
Zwischen der Bebauung auf der südlichen und der nördlichen Seite der … liegt nach dem sog. BayernAtlas der im Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und Heimat angesiedelten Vermessungsverwaltung eine Entfernung von ~ 50 Metern. Es handelt sich um eine der meistbefahrenen Ausfallstraßen … Sie ist in beide Richtungen mit je zwei Fahrspuren sowie auf der nördlichen Seite mit einer Abbiegespur ausgestattet. Ferner findet sich zwischen den Richtungsfahrbahnen ein mehrere Meter breiter Mittelstreifen. Dabei ist die Bebauung auf der nördlichen Seite der … auch durch mehrere auf dem genannten Grünstreifen befindliche größere Bäume vom Vorhabengrundstück optisch abgesetzt.
44
Fußgänger können die Fahrbahn zwischen der südlichen Seite und nördlichen Seite der … ohne Nutzung des Fußgängerüberwegs nicht gefahrlos queren.
45
Anders als der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung ausführte, ist der östlich der … gelegene Bereich nicht in die maßgebliche nähere Umgebung einzubeziehen. Das Grundstück FlNr. …, Gemarkung … mit dem dortigen …- Einkaufscenter mit der dort insbesondere befindlichen …-Filiale rechnet nicht zur näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB.
46
Nach den Erkenntnissen des gerichtlichen Augenscheins ist dieses Grundstück optisch und funktional von dem westlich liegenden, die nähere Umgebung des Baugrundstücks bildenden Geviert …, …, … und … abgegrenzt. Die Fläche dieses Grundstücks ist nach Betrachtung der in der Akte befindlichen Lagepläne augenscheinlich größer als das gesamte hier ausgeführte Geviert. Im Übrigen ist es großvolumig bebaut. Es handelt sich um ein Einkaufszentrum mit angeschlossenem Parkhaus. Dieses Zentrum beinhaltet diverse Läden - etwa eine Filiale des Unternehmens … Nach seiner Nutzungsstruktur handelt es sich um ein Gewerbegebiet i.S.v. § 8 BauNVO oder ein Sondergebiet i.S.v. § 11 Abs. 2 Satz 2 Var. 3 BauNVO. Angesichts dessen verglichen mit dem oben beschriebenen Geviert großer Unterschiede der Bebauungs- und Nutzungsstruktur ist dieses Grundstück bei der Einstufung der näheren Umgebung nicht mit heranzuziehen. Im Übrigen wirkt sich das letztgenannte Gebiet auch nicht auf das Vorhaben der Klägerin aus.
47
Dies folgt einerseits daraus, dass man das …-Center unmittelbar vor dem Wettbüro stehend angesichts einer Entfernung von mehr als vierzig Metern optisch kaum mehr wahrnimmt.
48
Die Tatsache, dass die Zufahrt zum Parkhaus des …-Einkaufscenters von der … aus kommend durch die … ändert daran nichts. Denn relevanter Parksuchverkehr ist nur zu den allgemeinen Ladenöffnungszeiten zu erwarten. Weiter bedingt die Verkehrsführung und -regelung, dass die Zufahrt nur über die … erfolgt, wobei ein nicht unerheblicher Teil der Besucher des Einkaufszentrums von dessen Parkhaus aufgenommen werden wird. Mithin ist eine besondere gegenseitige Beeinflussung der jeweils einheitlich genutzten Baugebiete nicht ersichtlich.
49
bb) Maßstab für die Beurteilung von Vorhaben im unbeplanten Innenbereich ist nach § 34 Abs. 1 BauGB die Eigenart der ermittelten näheren Umgebung.
50
Entscheidend ist, ob sich der jeweils beachtlichen Umgebung ein Rahmen entnehmen lässt.
51
(1) Dabei ist unter der „Eigenart“ die Summe der städtebaulich relevanten Aspekte zu verstehen, auf die sich die Zulässigkeitsbeurteilung nach § 34 bezieht. Dies setzt die Prüfung der städtebaulichen Elemente voraus, nach denen sich die Beurteilung des Einfügens richtet. Festzustellen ist die Eigenart der näheren Umgebung mit Blick auf jedes der Merkmale aus § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, mithin auch die Eigenart der Art der Nutzung der Grundstücke der näheren Umgebung (st.Rspr., vgl u.a.: vgl. BVerwG, B.v. 6.11.1997 = NVwZ-RR 1998, 539 - B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13, NVwZ 2014, 1246 = BeckRS 2014, 51700; U.v. 8.12.2015 - 4 C 5.14, ZfBR 2017, 263 = BeckRS 2016, 11376; BayVGH, U.v. 12.1.2012 - 2 B 11.2230 -, juris Rn. 20 - B.v. 28.11.2019 - 9 ZB 16.2300 - juris Rn. 6).
52
Entscheidend für die Bestimmung der näheren Umgebung ist stets eine einzelfallbezogene Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 - 4 B 38/13 - ZfBR 2014, 574 = juris Rn. 9; folgend: BayVGH, B.v. 3.3.2016 - 15 ZB 14.1542 -, Rn. 8, juris).
53
(2) Die maßgebliche nähere Umgebung um das Baugrundstück entspricht hiernach einem faktischen allgemeinen Wohngebiet im Sinne des § 4 BauNVO i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB.
54
Das betrachtete Quartier besteht aus dreizehn Gebäuden inklusive Nebengebäuden. Dabei sind die betrachteten Gebäude weit überwiegend wohngenutzt. Es finden sich überhaupt nur an drei Stellen gewerbliche Nutzungen im Erdgeschoss (Gaststätte, zwei Ladengeschäfte); ebenfalls nur vereinzelt zeigten sie freiberuflich genutzte Räume o.ä.
55
Es finden sich ausschließlich Nutzungen, die in einem Allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig sind (§§ 4, 13 BauNVO): Insbesondere bestehen zwar in den Erdgeschossbereichen der Anwesen … … und … gewerbliche Nutzungen; in beiden Fällen (Handy-Reparatur-Shop und Lebensmittelmarkt mit einer Fläche von ~500 m2) handelt es sich aber um der Gebietsversorgung dienende Läden i.S.v. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO, die nach ihrer Gestaltung nicht darauf ausgelegt sind, gebietsfremde Personen zu versorgen. Vor allem weisen sie eine eher geringe Verkaufsfläche auf. Auch verfügen sie nicht über größere eigene KFZ-Stellflächen. Insgesamt ist anzunehmen, dass sie typischerweise von Personen genutzt werden, für die sie fußläufig erreichbar sind.
56
Nur ausnahmsweise gebietsverträglichen Nutzungen finden sich nicht.
57
(3) Die Beteiligten stimmen darin überein, dass es sich beim zur Genehmigung gestellten Betrieb um eine (nicht kerngebietstypische) Vergnügungsstätte handelt.
58
Nach der insbesondere im Rahmen des Augenscheins gewonnenen Überzeugung des Gerichts trifft das auch zu. Es handelt sich nicht lediglich um eine bloße ladenmäßige Wettannahmestelle. Denn die Räumlichkeiten des Betriebs der Klägerin dienen nach ihrer Gestaltung nicht nur der Abgabe von Wetten und zur Entgegennahme von Gewinnen, sondern auch der kommerziellen Unterhaltung (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 21.5.2015 - 15 CS 15.9 - juris Rn. 15; B.v. 15.1.2016 - 9 ZB 14.1146 - juris Rn. 8; B.v. 19.5.2016 - 15 CS 16.300 - juris Rn. 24; OVG NRW, U.v. 13.12.2017 - 7 A 880/16 - juris Rn. 47).
59
Vergnügungsstätten sind im allgemeinen Wohngebiet weder allgemein, noch ausnahmsweise zulässig b)
60
Das klägerische Vorhaben ist auch nicht nach § 34 Abs. 2 Halbsatz 2 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB befreiungsfähig, da bei einer Befreiung hinsichtlich der Art der Nutzung im Regelfall bereits der Gebietscharakter als solche tangiert wird. Dies gilt hier in besonderem Maße, da die Vergnügungsstätte und die Wohnnutzungen nicht kompatibel sind.
61
Nach alledem besteht bereits wegen bauplanungsrechtlicher Unzuverlässigkeit kein Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung, so dass der Bescheid der Beklagten 24. April 2018 nicht zu beanstanden ist.
62
3. Zuletzt ist das Vorhaben auch unter bauordnungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht genehmigungsfähig. Der Betrieb der Klägerin verfügt nicht über die erforderlichen KFZ-Stellplätze.
63
Die Beklagte hat die Stellplatzanforderungen in ihrer Satzung über die Herstellung und Bereithaltung von Kraftfahrzeugstellplätzen und Fahrradabstellplätzen (StS) als örtlicher Bauvorschrift i.S.d. Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 BayBO geregelt. Prüfgegenstand des hier durchgeführten vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens sind daher auch die bauordnungsrechtlichen Anforderungen an einen ausreichenden Stellplatznachweis (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 lit. c BayBO).
64
a) Die Klägerin hat bislang keinen Nachweis nach Art. 47 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 BayBO erbracht. Insofern steht eine detaillierte Berechnung des tatsächlichen Stellplatzbedarfs hier dahin.
65
Hinzuweisen ist nur darauf, dass der Stellplatzbedarf anhand der Richtzahlenliste zu ermitteln ist - ihrerseits als Anlage Bestandteil der StS der Beklagten, § 2 Abs. 1 Satz 1 StS. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StS i.V.m. Nr. 7.1 der Richtzahlenliste als Anlage zur StS ist für Wettbüros grundsätzlich ein Kraftfahrzeugstellplatz je 10 m2 Bruttogrundfläche nachzuweisen - die Regelung aus § 2 Abs. 4 Satz 1 StS kommt für das Vorhaben in der … in … mangels Lage in der Zone I (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 2 StS) nicht zur Anwendung.
66
Dass die Klägerin in ihren Planunterlagen und die Beklagte in ihrem Vorprüfgutachten vom 19. März 2015 vom Erfordernis eines Stellplatzes je 15 m2 ausgingen mag insoweit auf eine irrige Heranziehung von Ziff. 7.3. der Anlage der Richtzahlenliste zurückzuführen sein.
67
b) Die Klägerin hat in ihrem Bauantrag erklärt, unter Anrechnung des Bestands sechs Stellplätze abzulösen. Über die Frage der Ablösung hat die Beklagte nicht förmlich entschieden, da sie von der planungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens ausging. Daran ist nach dem Vorstehenden nichts zu erinnern. Zudem hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung die Stellplatz-Ablöse definitiv abgelehnt.
68
Im Übrigen ist ein Anspruch der Klägerin auf Ablösung der Stellplatzpflicht nicht ersichtlich (Art. 47 Abs. 3 Nr. 3 BayBO, § 3 Abs. 1 StS). Mit BayVGH, U.v. 26.5.2020 - 9 B 17.710 -, Rn. 23 - 43, juris ist anzumerken, dass der Realnachweis (Art. 47 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayBO) und die Ablösung (Art. 47 Abs. 3 Nr. 3 BayBO) für die Erfüllung der Stellplatzpflicht zwar gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Auch sieht die Stellplatzsatzung der Beklagten die Möglichkeit der Ablösung vor (§ 3 Abs. 1 StS).
69
Indes kann die Beklagte nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, einen Ablösungsvertrag zu schließen (BayVGH, U.v. 25.2.2000 - 2 B 98.379 - juris Rn. 32; Molodovsky in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand 10/2019, Art. 47 Rn. 87; Hensel in Spannowsky/Manssen, a.a.O., Art. 47 Rn. 96). Dabei kann die Beklagte die Ablösung für ein Bauvorhaben auch aufgrund städtebaulicher Zielsetzungen und Konzeptionen verweigern (vgl. BVerwG, B.v. 27.9.1983 - 4 B 122.83 - juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 30.11.1992 - 26 B 89.1983 - juris Rn. 16). Das Bebauungsrecht hindert die Gemeinde nicht, eine Nutzungsstruktur anzustreben, die mit den Mitteln des Bebauungsrechts nicht durchsetzbar wäre. Es hindert sie auch nicht, Ermessens-Instrumente so einzusetzen, dass eine solche Entwicklung gefördert wird. Zu diesen Instrumenten kann auch die Schaffung von Stellplätzen gehören (vgl. BVerwG, B.v. 4.8.1986 - 4 B 186.86 - juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 23.8.2001 - 2 B 98.2905 - juris Rn. 22). IV.
70
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
71
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.