VG München, Gerichtsbescheid v. 08.11.2021 – M 4 K 20.31760
Titel:
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung bei dreijähriger Freiheitsstrafe
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 2, § 73 Abs. 2a S. 5
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, S. 3
Leitsatz:
Ein zwingender Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 S. 1 Alt. 2 AufenthG bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ist nur dann möglich, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak, Widerruf nach vorangegangener Negativentscheidung grundsätzlich nur noch nach Ermessen möglich, Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren nicht ausreichend für § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, Kein Ermessen ausgeübt zu § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, Flüchtlingsanerkennung aus dem Jahr 2016 wegen nichtstaatlicher Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz, Ninive, Distrikt Hellip, Vorliegen anderer Widerrufsgründe ohne Ermessensausübung des Bundesamts nicht zu prüfen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 34326
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für ... vom 19. Mai 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der ihm mit Bescheid vom 11. November 2016 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt für ... (Bundesamt) mit Bescheid vom 19. Mai 2020.
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Der 31-jährige Kläger ist irakischer Staatsangehöriger, kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit aus dem Dorf … in der Nähe von …, im Distrikt … in der Provinz …
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Der Kläger reiste erstmals im Jahr 2010 ins Bundesgebiet ein. Sein erstes Asylverfahren blieb ohne Erfolg. Mit seit dem 18. November 2016 bestandskräftigem Bescheid vom 11. November 2016 erkannte das Bundesamt ihm die Flüchtlingseigenschaft zu. Dem Kläger drohe wegen seiner Glaubenszugehörigkeit bei Rückkehr in den Irak nach gegenwärtigem Erkenntnisstand eine Verfolgung i.S.v. §§ 3, 3a AsylG. Ausschlussgründe i.S.d. § 60 Abs. 8 AufenthG seien nicht gegeben.
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Am 18. Oktober 2017 entschied das Bundesamt bei einer Überprüfung, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Flüchtlingszuerkennung nicht vorliegen und teilte das Ergebnis seiner Überprüfung der Ausländerbehörde mit Schreiben vom selben Tag mit.
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Am 12. März 2018 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in sieben Fällen in Tatmehrheit mit uneidlicher Falschaussage. Die der Gesamtstrafe zugrundeliegenden Einzelstrafen lagen zwischen einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Das Urteil wurde am 9. Juli 2019 rechtskräftig.
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Die Ausländerbehörde teilte dem Bundesamt mit Email vom 12. November 2019 die Verurteilung des Klägers und ihre Absicht mit, den Aufenthalt des Klägers zu beenden. Mit Bescheid vom 13. Dezember 2019 wies die Ausländerbehörde den Kläger aus. Gegen diese Ausweisung hat der Kläger am 8. Januar 2020 Klage beim Verwaltungsgericht München erhoben, die noch anhängig ist (M 4 K …). Mit Beschluss vom 23. Januar 2020 setzte das Landgericht … die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren am 10. Februar 2020 auf drei Jahre zur Bewährung aus. Außerdem erteilte es dem Kläger u.a. die Weisung, in der … … in … Wohnung zu nehmen, sich am Tag der Entlassung „nahtlos“ in der Einrichtung … … …, … …, … in … einzufinden und dort die vorbereitete stationäre Drogenrehabilitationstherapie für die Dauer von mindestens sechs Monaten durchzuführen.
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Am 4. Februar 2020 führte die Prüfung der Einleitung eines Aufhebungsverfahrens durch das Bundesamt zur dortigen Einschätzung, dass die Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufsverfahrens wegen Vorliegens des Ausschlusstatbestands des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG vorliegen. Mit Entscheidung vom 9. März 2020 wurde innerhalb des Bundesamts dem Vorschlag, ein Widerrufsverfahren einzuleiten, zugestimmt.
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Mit an die im Bewährungsbeschluss des Landgerichts … vom 23. Januar 2020 als Wohnanschrift angeordnete Adresse des Klägers in München gerichtetem Schreiben vom … … 2020 teilte das Bundesamt dem Kläger die Widerrufsabsicht mit und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb eines Monats nach Zugang des Schreibens. Das Schreiben wurde am 1. April 2020 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt. In seiner Stellungnahme vom 22. April 2020, die der Kläger dem Bundesamt unter Angabe seiner Münchner Anschrift in der … als Absenderanschrift übermittelte, teilte der Kläger mit, dass er sich seit dem 11. Februar 2020 in einer … in … befinde und das Anhörungsschreiben erst am 20. April 2020 erhalten habe. Wegen der Coronakrise habe er seine in München eingegangene Post nicht sichten können. Er bitte darum, seine nach Ablauf der Frist eingegangene Stellungnahme zu berücksichtigen. Er sei mit der geplanten Maßnahme nicht einverstanden, weil er aus seiner Haftstrafe gelernt und aufgrund der aktuellen Therapie gute Fortschritte gemacht habe.
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Mit am 9. Juni 2020 als Einschreiben zur Post gegebenem Bescheid vom 19. Mai 2020, der die vom Kläger mitgeteilte Anschrift der … in … angab und an die Prozessbevollmächtigten adressiert war, widerrief die Beklagte die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft des Klägers (Nr. 1), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Die Flüchtlingseigenschaft sei nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen. Beim Kläger lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr vor, weil Ausschlussgründe nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt seien. Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe sei ausreichend, ohne dass eine der Einzelstrafen das Strafmaß von drei Jahren erreichen müsse. Die Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe führe zwar nicht automatisch zum Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung, sondern nur, wenn - wie vorliegend - eine konkrete Wiederholungsgefahr gegeben sei. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor, weil der Kläger wegen schwerwiegender Gründe, die die Annahme rechtfertigten, dass er eine schwere Straftat begangen habe, den Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erfülle und somit hiervon ausgeschlossen sei. Außerdem sei der Kläger von der Zuerkennung subsidiären Schutzes auch deshalb ausgeschlossen, weil anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls davon auszugehen sei, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG darstelle. Insoweit werde auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG verwiesen. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Ausländers eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege. Der Kläger sei in …, einem Dorf im Norden des Irak in der Provinz … geboren und habe fünf Jahre die Schule besucht. Einen Beruf habe er nach seinen Angaben nicht erlernt. In Deutschland habe der Kläger vom Sommer 2016 bis zum Sommer 2017 gelegentlich auf einigen Baustellen gearbeitet. Er sei 29 Jahre alt und erwerbsfähig. Auch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie machten die Rückkehr in den Irak und die Sicherung des Existenzminimums nicht unmöglich. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird Bezug genommen (§§ 84 Abs. 1 Satz 3, 117 Abs. 3 VwGO).
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Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2020, bei Gericht am folgenden Tag per Post eingegangen, ließ der Kläger gegen den Bescheid vom 19. Mai 2020 durch seinen Prozessbevollmächtigten unter Ankündigung einer Klagebegründung Klage erheben und beantragen,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids zu verpflichten festzustellen, dass die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft fortbesteht, hilfsweise diese zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Mit Schreiben vom 25. Juni 2020 übersandte die Beklagte die Behördenakte in elektronischer Form.
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Mit Schreiben vom 3. August 2020 wies das Gericht die Beklagte auf die Rechtsprechung zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG und die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung zur Gruppenverfolgung von Yeziden im Zentralirak hin und bat um Stellungnahme. Mit Schriftsatz vom 24. September 2020 teilte das Bundesamt mit, dass sich die Beklagte nicht in der Lage sehe, den Bescheid aufzuheben. Zugleich erklärte die Beklagte ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid.
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Mit Schreiben vom 1. Februar 2021 wies das Gericht auf aufgrund einer staatsanwaltschaftlichen Anfrage im ausländerrechtlichen Verfahren des Klägers aufgekommene Zweifel an seiner örtlichen Zuständigkeit hin und bat um Mitteilung, wo der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung am 16. Juni 2020 nach dem AsylG seinen Wohnsitz zu nehmen hatte bzw. wo er seinen Wohnsitz hatte und bat um Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift des Klägers. Mit Schreiben vom 11. Februar 2021 teilte der Prozessbevollmächtigte mit, dass die mit Erhebung der Klage und mit Schreiben vom 9. Februar 2021 mitgeteilte Anschrift „… in … …“ unzutreffend sei und es sich hierbei „offensichtlich“ um ein Schreibversehen gehandelt habe, weil es diese Straße in … offensichtlich nicht gebe. Gemeint sie die entsprechende Straße in … in …, hier befinde sich die Therapieeinrichtung. Bei der Anschrift der Therapieeinrichtung habe es sich nur um einen vorläufigen Wohnsitz des Klägers gehandelt. Ausweislich des Bewährungsbeschlusses des Landgerichts … sei die „feste“ Anschrift des Klägers zum Zeitpunkt der Klageerhebung die … … in … … gewesen.
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Am 25. Oktober 2021 ermittelte das Gericht die bisherigen Wohnungen des Klägers in Bayern. Danach war der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung in der … … in … gemeldet. Mit Beschluss vom 25. Oktober 2021 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter, hörte die Klagepartei zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an und wies die Beteiligten mit Schreiben vom 27. Oktober 2021 darauf hin, dass es - ungeachtet der vom Prozessbevollmächtigten ursprünglich beabsichtigten Angabe der Rehabilitationseinrichtung in … als ladungsfähige Anschrift - von seiner örtlichen Zuständigkeit ausgehe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und die beigezogene Akte des Verfahrens M 4 K … einschließlich der in diesem Verfahren vorgelegten Ausländerakte.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist, soweit sie zulässig ist, begründet.
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I. Der Bescheid ist aufzuheben, weil er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört (§ 84 Abs. 1 VwGO).
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2. Das Verwaltungsgericht München ist für die Entscheidung örtlich zuständig, § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. § 52 Nr. 2 Satz 3 Hs. 2 VwGO. Der Kläger hatte seinen Wohnsitz im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung in München und damit im Bezirk des Verwaltungsgerichts München.
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Dies ergibt sich insbesondere aus der Stellungnahme des Klägers im Anhörungsverfahren vom … … 2020, aus der Auskunft von … vom … … 2021 sowie aus dem Beschluss des Landgerichts … vom 23. Januar 2020. Dass der Prozessbevollmächtigte bei Erhebung der Klage ursprünglich die Anschrift der stationären Rehabilitationseinrichtung in … angeben wollte, ändert an diesem Ergebnis nichts, weil es auf den tatsächlichen Wohnsitz ankommt. Dieser wurde durch die vorübergehende stationäre Therapie des Klägers in … nicht berührt.
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3. Die Klage ist nur teilweise zulässig. Der auf Feststellung des Fortbestehens der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Antrag ist wegen Subsidiarität und mangels Rechtsschutzinteresse unstatthaft. Denn wenn der Kläger mit seinem diesbezüglichen Anfechtungsantrag Erfolg hat, lebt die mit Bescheid vom 11. November 2016 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft wieder auf.
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4. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet.
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Der Bescheid des Bundesamts vom 19. Mai 2020 ist aufzuheben, weil der Widerruf der dem Kläger mit Bescheid vom 11. November 2016 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidungen zum subsidiären Schutzstatus und zum Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten in Nr. 2 und Nr. 3 des Bescheids sind als gemäß § 73 Abs. 3 AsylG akzessorische Entscheidungen zum Widerruf mit der Aufhebung des Widerrufs ebenfalls aufzuheben.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufsbescheids ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht, § 77 Abs. 1 AsylG.
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Das Bundesamt durfte den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zwingend, sondern nur noch nach Ermessen verfügen, § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG. Dies ist nicht erfolgt.
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4.1. Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 1 AsylG liegen vor.
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Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylG vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG). Ist nach der Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt, steht eine spätere Entscheidung nach Absatz 1 im Ermessen (§ 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 1 AsylG).
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Das Bundesamt hat im Jahr 2017 sachlich geprüft (vgl. dazu BVerwG, U.v. 5.6.2012 - 10 C 4.11 - juris Rn. 16), ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der asylrechtlichen Begünstigung des Klägers vorliegen, dies verneint und das Ergebnis seiner Prüfung der Ausländerbehörde mitgeteilt. Diese Mitteilung ist zwar mittlerweile nach Einfügung des Satzes 3 in § 73 Abs. 2a AsylG entbehrlich (insoweit wohl unzutreffend noch auf die Rechtslage vor Einfügung des § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylG durch das AsylVfBeschlG 2015 mit Wirkung zum 24.10.2015 abstellend: BeckOK AuslR/Fleuß, 30. Ed. 1.7.2021, AsylG § 73 Rn. 56; unklar VG Würzburg, U.v. 19.8.2019 - W 8 K 19.30955 - BeckRS 2019, 21740), aber nicht unzulässig. Dass eine inhaltliche Prüfung durch das Bundesamt stattgefunden hat, ergibt sich daraus, dass das Bundesamt der Ausländerbehörde mit Schreiben vom … … 2017 das negative Ergebnis seiner Prüfung mitgeteilt hat (vgl. zum Ganzen Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand 12/2019, § 73 Rn. 70).
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4.2. Die Voraussetzungen eines der Ausnahmetatbestände des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG liegen nicht vor.
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Danach ist ein Widerruf trotz vorangegangener Negativentscheidung dennoch zwingend möglich, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen oder weil das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
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4.2.1. Das Bundesamt hat den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwar auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt; dies jedoch zu Unrecht. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG liegen entgegen der Auffassung der Beklagten nicht vor.
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Gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angesehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
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Der Kläger wurde mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts München vom 12. März 2018 zwar zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, dieser Entscheidung lagen jedoch „nur“ Einzelstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr und sechs Monaten zugrunde. Dies genügt nicht, um die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zu erfüllen.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt ein (zwingender) Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wegen § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe nämlich nach wie vor nur dann in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist (so schon zur Rechtslage vor Einfügung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 17.12 - juris). Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem zum 17. März 2016 in Kraft getretenen weiteren Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat in seinem Beschluss vom 28. April 2020 (6 A 10318/20 - juris) hierzu überzeugend ausgeführt, dass diese Bestimmung den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unberührt lässt und vielmehr eine weitere Ermächtigungsgrundlage für die Annahme des Nichtbestehens eines Abschiebeverbots begründet. Eine mit dieser Rechtsänderung verbundene Absicht des Gesetzgebers, auch im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG das Strafmaß einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren ausreichen zu lassen, selbst wenn die Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus Einzelstrafen hervorgegangen ist, die jeweils für sich genommen die Mindestdauer von drei Jahren nicht erreichen, ist nicht erkennbar. Denn der Änderungsgesetzgeber kannte die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. Gleichwohl hat er bei der Änderung des § 60 Abs. 8 AufenthG durch das Gesetz vom 11. März 2016 Satz 1 der Vorschrift unverändert gelassen und damit auch keinen Handlungsbedarf für eine Korrektur dieser Rechtsprechung gesehen. Hätte der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Absicht gehabt, dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ohne entsprechende Änderung des Gesetzeswortlautes den von der Beklagten unterstellten Inhalt zu geben, hätte er dies zum Ausdruck bringen müssen.
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Da schon die Voraussetzung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren nicht vorliegt, kommt es auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzung, nämlich ob vom Kläger eine Wiederholungsgefahr ausgeht, nicht an.
37
Der Widerruf kann vorliegend nicht rechtmäßig auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt und somit gemäß § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG ausnahmsweise trotz vorhergehender Negativentscheidung über eine Aufhebung zwingend verfügt werden.
38
4.2.2. Der Widerruf ist auch nicht zwingend möglich, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylG nicht vorliegen.
39
Nach § 3 Abs. 2 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2) oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3).
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Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm liegen ersichtlich nicht vor. Die Ausschlussregelung ist im Hinblick auf den damit verbundenen Wegfall des Schutzes vor Verfolgung sowohl unions- als auch verfassungsrechtlich eng i.S.e. ultima ratio auszulegen (BeckOK AuslR/Kluth, 30. Ed. 1.7.2021, AsylG § 3 Rn. 19 unter Verweis auf EuGH NVwZ 2011, 285 und BeckEuRS 2009, 496271; BVerwG NVwZ 2011, 1450).
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4.2.3. Das Bundesamt hat den Widerruf auch nicht ausnahmsweise zu Recht zwingend verfügt, weil es nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
42
Die Beklagte hat ihre Entscheidung vorliegend nämlich nicht auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gestützt. Dies ist aber schon nach dem Wortlaut der Norm erforderlich. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG in Bezug auf die Qualität der Straftaten, wegen derer er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, erfüllt sind, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.
43
Gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
44
Das Bundesamt hat vorliegend kein Ermessen ausgeübt, sondern den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt. Der Gesetzeswortlaut in § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 a.E. „weil das Bundesamt nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen hat“ ist insoweit jedoch eindeutig und verlangt eine Ermessensentscheidung in Bezug auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenhtG, an der es vorliegend fehlt. Die Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift einer erweiternden Auslegung über den Wortlaut hinaus nicht zugänglich, abgesehen davon, dass eine Regelungslücke schon nicht ersichtlich ist.
45
Damit hat ist keiner der Ausnahmetatbestände des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG erfüllt. Ein zwingender Widerruf, wie ihn das Bundesamt vorliegend verfügt hat, ist somit nicht möglich.
46
4.3. Die Aufhebung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers kommt nur noch nach Ermessen in Betracht. Eine Ermessensentscheidung über den Widerruf hat die Beklagte jedoch nicht getroffen.
4.3.1. Eine Auslegung des zwingend erfolgten Widerrufs als Ermessensentscheidung ist nicht möglich.
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4.3.2. Auch die Rechtsprechung zum gerichtlichen Prüfungsumfang bei einer gebundenen Widerrufsentscheidung führt vorliegend nicht zur Rechtmäßigkeit des Widerrufs, weil die Voraussetzungen für einen zwingenden Widerruf nicht vorliegen.
48
Nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung setzt die Aufhebung eines nicht im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsakts nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO u.a. seine objektive Rechtswidrigkeit voraus, an der es auch dann fehlt, wenn der Verwaltungsakt aus einem anderen, im Bescheid oder Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist, weshalb eine Klage gegen eine solche gebundene Entscheidung erst dann begründet ist, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist, insbesondere wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2015 - 1 C 2/15 - juris Rn. 14).
49
Vorliegend kommen als mögliche, nicht angeführte Widerrufsgründe das Absehen von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nach Ermessen sowie ein nachträglicher Wegfall der Gefahr der Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz … im Distrikt … in Betracht. Weil jedoch die Entscheidung über den Widerruf - wie soeben ausgeführt - nicht mehr als gebundene Entscheidung, sondern nur noch nach Ermessen ergehen kann, kommt die Rechtsprechung auf die vorliegende Entscheidung des Bundesamts schon nicht zur Anwendung und es bedarf keiner abschließenden Klärung, ob andere Gründe die Widerrufsentscheidung rechtfertigen könnten.
50
Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Nr. 1 des Bescheids war somit aufzuheben. Als akzessorische Entscheidungen gemäß § 73 Abs. 3 AsylG waren auch die Nr. 2 und Nr. 3 des Bescheids aufzuheben. Über den Hilfsantrag auf Verpflichtung zur Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, war wegen des Erfolgs des Hauptantrags nicht mehr zu entscheiden.
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II. Die Beklagte trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
52
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.