SG München, Endurteil v. 28.09.2021 – S 57 AL 326/20
Titel:
Transferkurzarbeitergeld und Betriebsänderung
Normenketten:
SGB III § 111
BetrVG § 112
Leitsätze:
1. Transferkurzarbeitergeld wegen betriebseinschränkendem Personalabbau verlangt eine Mitarbeiterreduktion um mindestens 5%. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Keinen Anspruch auf Transferkurzarbeitergeld begründet die Abschaffung von Sektoren- und Clusterstrukturen auf Konzernebene, wenn diese ohne wesentliche Bedeutung für den betroffenen Betrieb bleiben. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Transferkurzarbeitergeld, Restrukturierung, betriebliche Voraussetzungen, dauerhafter Arbeitsausfall, Betriebseinschränkung, 5-prozentige Belegschaftsquote, Sektoren-/Clusterstruktur, Konzernebene
Fundstelle:
BeckRS 2021, 33376
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Transfer-Kurzarbeitergeld (Transfer-KuG) für die in einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit (beE) der Klägerin zusammengefassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
2
Die Klägerin ist die Muttergesellschaft eines großen Technologiekonzerns, der sich vor allem auf die Bereiche Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung konzentriert. In einer von der Klägerin entwickelten Restrukturierungsreform, genannt „Vision 2020“, sollten Prozesse und Organisation des Konzerns optimiert und modernisiert werden. Am 17.06.2014 schloss die Klägerin und ihr Gesamtbetriebsrat hierzu einen Interessensausgleich, mit dem die von der Klägerin entwickelte „Vision 2020“ umgesetzt werden sollte.
3
Danach sollten zum 01.10.2014 als wesentliche Maßnahmen in allen Betrieben der Klägerin zwei Management-Ebenen, die sog. Sektoren und Cluster, wegfallen und die sog. Divisionen von 16 auf 8 reduziert werden. Dadurch bzw. durch die Umsetzung der „Vision 2020“ wurde im „Interessensausgleich und Sozialplan über die Auswirkungen der Maßnahmen zur Verringerung der Komplexität zur nachhaltigen Sicherung der S AG am Standort Deutschland zwischen der Klägerin und deren Gesamtbetriebsrat“ vom 22.05.2015 nach Abschluss der wirtschaftlichen Beratungen ein Wegfall von 2.893 Arbeitsplätzen im Gesamtkonzern in Deutschland durch Anpassung der Personalorganisation ermittelt (vgl. 1.3.3./ Bl. 6 des Interessenausgleichs). Die im Interessenausgleich beschriebenen Maßnahmen bezeichneten die Parteien dabei als Betriebsänderung im Sinne von § 111 Satz 3 Nr. 1 und 4 BetrVG.
4
Am Betriebsstandort S AG M der Klägerin, G Straße, N, unternehmensintern bezeichnet als „N M“, sollten 115 von insgesamt 2.591 dort Beschäftigten bis zum 30.09.2015 bzw. zum 31.03.2016 abgebaut werden. Der Betrieb gehörte zum Sektor „Industry“, der wiederum in drei Divisionen unterteilt war. „N M“ gehörte dabei zur Division „Industry Automation“ und „Drive Technologies“, die dem Sektor „Industry“ unterstand. Es handelt sich hierbei um einen Verwaltungsstandort mit Vorfeld- und Softwareentwicklung, Leitung, Vertrieb und Entwicklung von Automatisierungs- und Antriebsprodukten. Der Betrieb hatte eine einheitliche Leitung, die in personellen und sozialen Angelegenheiten entscheiden konnte sowie einen eigenen Betriebsrat. Den vom Abbau betroffenen Mitarbeitern sollte ab 15.06.2015 ein Angebot zum Abschluss eines Altersteilzeitvertrags bzw. eines Aufhebungsvertrags mit oder ohne vorherigen Übertritt in eine zu bildendende interne betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit (beE) angeboten werden.
5
Am 09.10.2015 zeigte die Klägerin bei der Beklagten für den Betrieb N M einen Arbeitsausfall mit Arbeitsentgeltausfall in einer beE ab 1. Oktober 2015 bis 30. September 2017 für insgesamt drei Arbeitnehmer an. Für diese drei Arbeitnehmer sei eine beE in der N Straße in E eingerichtet worden. Der Betrieb S AG M sei von einer Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG betroffen, nämlich durch eine Betriebseinschränkung durch Personalabbau und eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation.
6
Mit Bescheid vom 01.04.2019 lehnte die Beklagte die Gewährung von Transfer-Kurzarbeitergeld (T-Kug) - nach Prüfung der Anzeige - mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Transfer-KuG im Sinn des § 111 SGB III dem Grunde nach nicht vorlägen. Grundvoraussetzung für die Gewährung von Transferleistungen sei unter anderem das Vorliegen einer Betriebsänderung gem. § 111 BetrVG. Weitere Voraussetzung sei, dass der mit der Betriebsänderung beabsichtigte Personalabbau den jeweils anzusetzenden Schwellenwert des § 17 Abs. 1 KSchG erreiche. Bei dem Betrieb N M der S AG in M, G Straße, N, sei von einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 2.591 Personen auszugehen. Der mit der Betriebsänderung im Sozialplan vom 22.05.2015 dokumentierte Personalabbau umfasse insgesamt 115 Arbeitnehmer/-innen und erreicht damit nicht den nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderlichen Schwellenwert von 130 Entlassungen. Die Gewährung von T-KuG sei daher ausgeschlossen.
7
Der hiergegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2020 von der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen.
8
Als Begründung führte sie an, dass der nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Schwellenwert von 5%, also 130 Entlassungen, im Betrieb N M nicht erreicht sei, da dort lediglich ein Personalabbau von 115 Personen dokumentiert sei. Die Schwellenwertbetrachtungsweise sei vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 06.12.1988 (1 ABR 47/87) für alle fünf in § 111 BetrVG aufgeführten Formen der Betriebsänderung eingeführt worden. Nach Angaben der Klägerin in ihrer Anzeige sei im Falle des Betriebs N M von einer Gesamtbeschäftigungszahl von 2.591 Personen auszugehen. Der mit der Betriebsänderung verbundene Personalabbau umfasse insgesamt 115 Arbeitnehmer/-innen und erreiche den erforderlichen Schwellenwert von 5% somit nicht.
9
Hiergegen richtet sich die Klägerin mit ihrer Klage vom 10.07.2020.
10
Sie begehrt die Bewilligung von Transfer-KuG zugunsten der in der beE von N M zusammengefassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
11
Sie trägt vor, dass im Rahmen des Strategieprogramms „Vision 2020“ im Konzern deutschlandweit mehr als 10.000 Arbeitsplätze weggefallen seien. Entscheidend und von der Beklagten nach wie vor übersehen worden sei, dass es zu einer durchgreifenden Änderung der Unternehmens- und jeweiligen Betriebsstruktur gekommen sei, sodass eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation im Sinne des § 111 Satz 3 Ziffer 4 BetrVG vorläge. So seien zwei ganze Managementebenen, die sogenannten Sektoren und Cluster, weggefallen sowie die Anzahl der früher 16 sogenannten Divisionen auf nur noch acht halbiert worden. Dadurch seien die Organisationsstrukturen deutlich verschlankt worden, um Bürokratie abzubauen, Kosten zu senken und Entscheidungen im Unternehmen zu beschleunigen. Auch Querschnittsfunktionen im Unternehmen, wie zum Beispiel das Personalwesen und die Konzern-Kommunikation seien gestrafft worden und würden zukünftig zentral geführt. Unstreitig habe diese Restrukturierung gerade nicht nur zu einem bloßen Personalabbau, sondern zu einer grundlegenden Organisationsänderung geführt. Nicht nur auf der Ebene des Gesamtunternehmens, sondern auch im streitbefangenen Betrieb N M sei es nicht nur zu einem bloßen Personalabbau, sondern vor allem zu erheblichen, betrieblich-organisatorischen Änderungen gekommen. Beispielhaft könne etwa die Personalverwaltung (HR) genannt werden. So sei das sog. Recruitment (Personalbeschaffungswesen) im Unternehmen der Klägerin dezentralisiert worden. Der Personalbeschaffungsprozess sei völlig neu definiert worden, indem eine Gesamtverantwortung der Recruiter vorgesehen worden sei, angefangen bei der Identifizierung eines Personalbedarfs bis hin zum Schließen der publizierten Stellen. Die Personalabteilungen würden seither grundsätzlich nicht mehr vor Ort Bewerbungsgespräche durchführen. Präsenzschulungen „vor Ort“ seien sog. E-Learning-Maßnahmen gewichen. Innerhalb der Personalverwaltung sei es zur Zusammenlegung von Abteilungen und Funktionen, z.B. Teamleitungen gekommen, Führungspositionen und Staatsfunktionen seien entfallen. Im Betrieb N M sei aufgrund der Zusammenlegung eine Gruppenleitungsfunktion entfallen.
12
Eine erhebliche und gerade auch in der täglichen Personalarbeit beachtliche Änderung sei der Wegfall von Originalunterschriften in allen Fällen, in denen das Gesetz nicht zwingend die schriftliche Form vorsehe. Unter anderem im Betrieb N M fertige die Personalabteilung Versetzungsschreiben und ähnliche, bestimmende Willenserklärungen nicht mehr mit Originalunterschrift aus. Es gebe nur noch Signaturen. Die Überprüfung von Auslagenerstattungsanträgen, die sog. Reisekostenprüfung, erfolge unter anderem in N M deutlich vereinfacht. Die Prozesse seien auf eine ITgestützte, digitalisierte Lösung umgestellt worden, das zu verwendende Formular vereinheitlicht worden.
13
Den von der Betriebsänderung betroffenen Mitarbeitern seien zum Teil Aufhebungsverträge mit einem Wechsel in eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit angeboten worden. Betriebsbedingte Kündigungen seien aus sozialen Gründen und wegen der Anwendbarkeit des sog. Abkommens „R II“ auch im Rahmen der Umsetzung der vorbeschriebenen beiden Interessenausgleiche/Sozialpläne nicht ausgesprochen worden. Der notwendige Personalabbau sei vielmehr durch Altersteilzeitvereinbarungen, Versetzungen und Aufhebungsverträge unter anderem mit Wechsel in eine interne betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit erfolgt. Insgesamt seien immerhin 115 Beschäftigte des Standortes N M ausgeschieden. Die von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten hätten die Möglichkeit erhalten, zwecks Vermittlung in ein Folgearbeitsverhältnis in eine beE zu wechseln. Es sei unstreitig, dass es zur Gründung betriebsorganisatorisch eigenständiger Einheiten bezogen auf einzelne Unternehmen bzw. Betriebsratseinheiten gekommen sei, also nicht auf das gesamte, von der vorgeschriebenen Betriebsänderung betroffene Unternehmen.
14
Die Beklagte gehe rechtsirrig davon aus, dass auf eine bestimmte Mindestzahl betroffener Arbeitnehmer abzustellen sei. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen nicht nur Personal abgebaut, sondern die Betriebsorganisation grundlegend geändert und/oder ein Betrieb wesentlich eingeschränkt werde, komme es nicht auf Kopfzahlen und damit nicht auf das Erreichen bzw. Überschreiten der Schwellenwerte des § 17 Kündigungsschutzgesetz an. Im Ergebnis komme es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf an, wie viel Personal im Zusammenhang mit einer Restrukturierung abgebaut werde, sondern ob eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation vorliege, wobei keine zu strengen Anforderungen gestellt werden dürften. Der Hinweis der Beklagten im Widerspruchsbescheid auf die Rechtsprechung des BAG vom 6.12.1988 sei unergiebig, weil im Zeitpunkt jener Entscheidung der Wortlaut des § 111 Betriebsverfassungsgesetz noch nicht auf das Unternehmen des Arbeitgebers insgesamt, sondern nur auf den Betrieb abgestellt habe. Überdies habe das BAG in dieser Entscheidung eine Aussage, dass es zu einem Erreichen/Überschreiten der Schwellenwerte des § 17 Kündigungsgrundes für alle fünf Formen des § 111 Betriebsverfassungsgesetz gleichermaßen kommen müsse, nicht getroffen. In jüngeren Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts werde im Übrigen auch zu Recht nur darauf abgestellt, wenn eine Betriebsänderung aus einem bloßen Personalabbau bestehe. Tatsächlich sei die Zahl der von der Restrukturierung betroffenen Arbeitnehmer(innen) nicht nur unternehmensweit, sondern auch bezogen auf die zu Unrecht lediglich betrachtete beE weit höher als von der Beklagten unterstellt. Insoweit könne nicht nur darauf abgestellt werden, ob und in welchem Umfang es zu Entlassungen im Sinne des § 17 KSchG, also zur Auflösung von Arbeitsverhältnissen komme, entscheidend sei vielmehr, dass sich für zehntausende Arbeitnehmer(innen) die Arbeitsbedingungen dadurch faktisch geändert hätten, auch wenn es deswegen nicht zwingend einer Versetzung im betriebsverfassungsrechtlichen Sinn oder einer Änderungskündigung bedurft hätte.
15
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 01.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.06.2020 zu verurteilen, gemäß der Anzeige der Klägerin über Arbeitsausfall vom 09.10.2015 das Vorliegen eines erheblichen Arbeitsausfalls sowie der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Transfer-Kurzarbeitergeld zugunsten der in der betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit „N M“ in der N Straße, E zusammengefassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzuerkennen.
16
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
17
Zur Begründung beruft sie sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Sie sei weiterhin der Auffassung, dass bei der Betriebsänderung die Berücksichtigung des Schwellenwertes erforderlich und zulässig seiund verweist hierzu auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28.03.2006 (Aktz. 1A ABR 5/05).
18
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
19
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
20
Gegenstand des Rechtsstreits, das die Klägerin als Prozessstandschafterin der in der beE der Klägerin zusammengefassten Arbeitnehmer(innen) führt (vgl. dazu: BSGE 22, 181, 183; BSGE 38, 94, 95 f = SozR 1500 § 75 Nr. 4 S. 3 f; BSG SozR 4-4300 § 323 Nr. 1 S. 4; BSG, Urteil vom 29. Januar 2008 - B 7/7a AL 20/06 R -, SozR 4-4300 § 175 Nr. 1, Rn. 10), ist der Bescheid vom 01.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.06.2020. Durch diesen Bescheid hat die Beklagte festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Transfer-KuG dem Grund nach nicht vorliegen und damit in der Sache die Feststellung eines dauerhaften Arbeitsausfalls und die betrieblichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Transfer-KuG im Anerkennungsverfahren abgelehnt (sog. negativer Anerkennungsbescheid). Diese Feststellungen sind auf der ersten Stufe des zweistufig konzipierten Verwaltungsverfahrens zu treffen (vgl. dazu BSG vom 14.9.2010 - B 7 AL 21/09 R - SozR 4-4300 § 173 Nr. 1 RdNr. 16; BSG, Urteil vom 21. Juni 2018 - B 11 AL 4/17 R -, Rn. 14, juris). Erst in der zweiten Stufe, dem sog. Leistungsverfahren, ist über die jeweiligen Zeiträume, die durch den Leistungsantrag bestimmt werden, das den konkret zu bezeichnenden Arbeitnehmerinnen bzw. Arbeitnehmern zustehende Transfer-Kug und die dem Arbeitgeber zustehenden Zuschüsse durch Leistungsbescheid zu entscheiden. Es wird also zunächst ein Anerkennungsbescheid benötigt, um anschließend das Transfer-KuG für die von der Transfermaßnahme betroffenen Mitarbeiter beantragen zu können. Da die Beklagte vorliegend noch nicht über einzelne Leistungen entschieden hat, sondern auf eine Anzeige des Arbeitsausfalls hin die Anerkennung der Voraussetzungen für die Gewährung von Transfer-KuG abgelehnt hat, ist die vorliegend erhobene, verbundene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) mit dem Ziel der Anerkennung statthaft (vgl. BSG, Urteil vom 15. Februar 1990 - 7 RAr 22/89 -, juris).
21
Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines erheblichen Arbeitsausfalls sowie der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Transfer-KuG für die in der beE zusammengefassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
22
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 111 Abs. 1 SGB III (in der Fassung vom 05.12.2012). Danach haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Förderung der Eingliederung bei betrieblichen Restrukturierungen (Transfer-KuG), um Entlassungen zu vermeiden und ihre Vermittlungsaussichten zu verbessern, wenn 1. und solange sie von einem dauerhaften nicht vermeidbaren Arbeitsausfall mit Entgeltausfall betroffen sind, 2. die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind, 3. die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind, 4. sich die Betriebsparteien im Vorfeld der Entscheidung über die Inanspruchnahme von Transferkurzarbeitergeld, insbesondere im Rahmen ihrer Verhandlungen über einen die Integration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördernden Interessenausgleich oder Sozialplan nach § 112 des Betriebsverfassungsgesetzes, von der Agentur für Arbeit beraten lassen haben und 5. der dauerhafte Arbeitsausfall der Agentur für Arbeit angezeigt worden ist.
23
Der Arbeitsausfall kann gem. §§ 111 Abs. 6, 99 Abs. 1 Satz 2 SGB III nur vom Arbeitgeber oder der Betriebsvertretung bei der Agentur für Arbeit angezeigt werden.
24
Ein dauerhafter Arbeitsausfall im Sinn von § 111 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III liegt vor, wenn auf Grund einer Betriebsänderung im Sinne des § 110 Abs. 1 S. 3 SGB III die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend entfallen. Als Betriebsänderung gilt gem. § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB III (in der Fassung vom 20.12.2011) eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 des Betriebsverfassungsgesetzes, unabhängig von der Unternehmensgröße und unabhängig davon, ob im jeweiligen Betrieb das Betriebsverfassungsgesetz anzuwenden ist.
25
Gem. § 111 BetrVG (in der Fassung vom 25.09.2001) hat der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten (§ 111 Satz 1 BetrVG). Als Betriebsänderungen im Sinne des Satzes 1 gelten 1. Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebs oder von Betriebsteilen, 2. Verlegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen, 3. Zusammenschluss mit anderen Betrieben oder die Spaltung von Betrieben, 4. grundlegende Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Betriebsanlagen, 5. Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren.
26
Ausgehend von dieser Vorschrift, ist vorliegend eine Betriebsänderung zu verneinen.
27
Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei „N M“ um einen Betrieb handelt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Betrieb - im Anschluss an den für das Arbeitsrecht entwickelten Betriebsbegriff - die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Unternehmen allein oder in Gemeinschaft mit Hilfe sächlicher und sonstiger Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Der Betrieb ist demnach im Gegensatz zum Unternehmen eine technisch-organisatorische Einheit (BSG, Urteil vom 25. April 1991 - 11 RAr 21/89 -, SozR 3-4100 § 63 Nr. 2, SozR 3-1300 § 48 Nr. 8, Rn. 24). Das bedeutet, dass es innerhalb eines Unternehmens auch mehrere Betriebe geben kann (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.03.2021 - L 9 AL 198/20 B ER). Da N M über eine einheitliche Leitung verfügte, die über personelle und soziale Angelegenheiten entscheiden konnte (und dabei sogar über einen eigenen Betriebsrat verfügte) und als Standort mit Vorfeld- und Softwareentwicklung, Vertrieb und Entwicklung von Automatisierungs- und Antriebsprodukten auch einen arbeitstechnischen Zweck verfolgte, ist N M als eigenständiger Betrieb einzustufen.
28
Es lag jedoch keine Betriebsänderung im Sinn von § 111 Satz 3 Nrn. 1 bis 5 BetrVG vor.
29
Als Betriebsänderung nach § 111 BetrVG gilt unter anderem eine Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen, § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG. Unter einer Einschränkung des gesamten Betriebs ist dabei eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit des gesamten Betriebs zu verstehen, die sowohl durch eine Verringerung der sächlichen Betriebsmittel als auch durch Einschränkung der Zahl der Arbeitnehmer bedingt sein kann (BAG, 15.10.1979 - 1 ABR 49/77; BAG, 28.03.2006 - 1 ABR 5/05). Hierbei kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Betriebseinschränkung im Sinne des § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG auch in einem reinen Personalabbau bestehen, wobei der Personalabbau jedoch eine relevante Zahl von Arbeitnehmern erfassen muss. Maßgebend sind insoweit die Zahlen des § 17 KSchG, wobei in größeren Betrieben mindestens fünf Prozent der Belegschaft betroffen sein müssen (BAG, Urteil v. 10. Dezember 1996 - 1 AZR 290/96; BAG, Urteil v. 22. Januar 2004 - 2 AZR 111/02; BAG, Beschluss vom 28. März 2006 - 1 ABR 5/05 -, BAGE 117, 296-307, Rn. 18).
30
Zu Recht hat die Beklagte hierzu festgestellt, dass im Falle des Betriebes N M der Klägerin der erforderliche Schwellenwert von 5% nicht erreicht ist, da von insgesamt 2.591 Beschäftigten nur 115 Arbeitnehmer(innen) vom Personalabbau betroffen sind, der erforderliche Wert von 130 Stellen also nicht erreicht wird.
31
Auch eine Betriebsänderung nach § 111 Satz 3 Nr. 4 BetrVG scheidet aus, da es an grundlegenden Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Betriebsanlagen mangelt. Die Klägerin hat darauf abgestellt, dass mit den Restrukturierungsmaßnahmen von „Vision 2020“ eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation stattgefunden habe.
32
Eine Änderung der Betriebsorganisation liegt vor, wenn der Betriebsablauf insbesondere hinsichtlich der der Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten vollkommen geändert wird (vgl. BAG, Urteil vom 18.11.2003; BAG, Urteil vom 26.10.2004 - 1 AZR 493/03; BAG, Beschluss v. 18.03.2008 - 1 ABR 77/06), wenn sich der Betriebsaufbau bzw. die Gliederung des Betriebes oder die Zuständigkeiten oder Unterstellungsverhältnisse ändern (LAG Hamm, Urteil vom 22.07.2003 - 19 Sa 541/03; LAG Hamm, Beschluss v. 26.02.2007 - 10 TaBVGa 3/07).
33
Vorliegend wurden durch die Restrukturierungsreform „Vision 2020“ zwar die Sektoren- und Clusterstruktur im Unternehmen abgeschafft und die Divisionen von 16 auf acht reduziert, diese Neuordnung betraf jedoch nicht den Betrieb N M, sondern spielte sich auf Konzernebene ab. Ein entscheidender Einfluss auf die Struktur bzw. die Verantwortlichkeiten oder Zuständigkeiten des Betriebs N M hatten diese Änderungen jedoch nicht und wurden vom Kläger auch nicht vorgetragen. Vorgetragen wurden von der Klägerin zudem Änderungen im Bereich der Personalverwaltung (HR), insbesondere die Dezentralisierung des Personalbeschaffungswesens (Recruitment), die Neustrukturierung des Personalbeschaffungsprozesses und den damit zusammenhängenden Wegfall einer Gruppenleitungsfunktion. Durch die dadurch entstehende Änderung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten kann in diesen Maßnahmen eine Änderung der Betriebsorganisation erblickt werden.
34
Jedoch muss die Änderung der Betriebsorganisation auch grundlegend sein. Als grundlegend hat das BAG in seiner Rechtsprechung eine Änderung dann angesehen, wenn sie sich auf den Betriebsablauf in erheblicher Weise auswirkt; maßgeblich ist dafür der Grad der Veränderung (vgl. BAG, Beschluss vom 18.03.2008 - 1 ABR 77/06; BAG, Urteil v. 26.10.2004 - 1 AZR 493/03 -, BAGE 112, 260-266 unter Verweis auf BAG, Urteil v. 18.11.2003 - 1 AZR 637/02, welches auf BAG, Urteil v. 16.10.1982 - 1 ABR 11/81 verweist). In seinem Urteil vom 26.10.1982 (1 ABR 11/81) hat das BAG hierzu Folgendes ausgeführt:
„Lässt sich im Einzelfall aufgrund der Beurteilung der technischen Änderung die Frage der „grundlegenden Änderung“ nicht zweifelsfrei beantworten, so ist nach dem Sinn des § 111 BetrVG auf den Grad der nachteiligen Auswirkungen der Änderungen auf die betroffenen Arbeitnehmer abzustellen und zu prüfen, ob sich wesentliche Nachteile für sie ergeben können.“ Und weiter: „Ist ein erheblicher Teil der Belegschaft von der Änderung betroffen, so spricht dies im Zweifel auch für die erhebliche Bedeutung (…) für den Gesamtbetrieb. Dabei kann zur Feststellung, wann ein erheblicher Teil der Belegschaft betroffen ist, an die Rechtsprechung des Senats zur Betriebseinschränkung im Sinne von § 111 Satz 2 Nr. 1 BetrVG angeknüpft werden. Bei Betrieben mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern hat der Senat eine Betroffensein von mindestens 5% der Belegschaft als erheblich angesehen.“
35
In seinem Beschluss vom 6.12.1988 (1 ABR 11/87 - BAGE 60, 237-244, Rn. 22) hat es das BAG nochmals wie folgt verdeutlicht:
„Der Senat hält daher an seiner Rechtsprechung fest, wonach sich die Frage nach einem erheblichen Teil der Belegschaft danach beantwortet, ob die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer den in § 17 Abs. 1 KSchG genannten Zahlen entspricht mit der Maßgabe, dass wenigstens 5% der Gesamtbelegschaft betroffen sein müssen. Das Abstellen auf diese Zahlenwerte ermöglicht es, den in § 111 BetrVG zur Umschreibung der einzelnen Betriebsänderungen dienenden unbestimmten Rechtsbegriffen Konturen zu verleihen, die es der betrieblichen Praxis erlauben, relativ einfach zu entscheiden, ob eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG anzunehmen ist oder nicht. Die Rechtsprechung des Senats dient damit der Praktikabilität und der Rechtssicherheit. Auch jede andere Grenzziehung wäre nicht geeignet, die in der Regelung über die Sozialplanpflichtigkeit nur bestimmter Betriebsänderungen angelegten Wertungswidersprüche aufzulösen.“
36
Sodann hat das BAG in seiner Entscheidung vom 18.03.2008 (1 ABR 77/06 -, BAGE 126, 169-175) wiederholt, dass eine Änderung der Betriebsorganisation im Sinn von § 111 Satz 3 Nr. 4 BetrVG dann grundlegend ist, wenn sie sich auf den Betriebsablauf in erheblicher Weise auswirkt. Maßgeblich sei der Grad der Veränderung. Das BAG hat dies dahingehend konkretisiert, dass es entscheidend darauf ankomme, ob die Änderung einschneidende Auswirkungen auf den Betriebsablauf, die Arbeitsweise oder die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer habe. Die Änderung müsse in ihrer Gesamtschau von erheblicher Bedeutung für den gesamten Betriebsablauf sein. Nur dann sei die mit § 111 Satz 3 Nr. 4 BetrVG verbundene Fiktion gerechtfertigt, dass die Maßnahme im Sinn von § 111 Satz 1 BetrVG wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile davon habe. (vgl. BAG aaO).
37
Zusammenfassend kommt es also für die Frage, ob eine Betriebsänderung durch eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation (§ 111 Satz 3 Nr. 4 Alt. 1 BetrVG) angenommen werden kann - anders als von der Beklagten unterstellt - nicht allein darauf an, wie viele Arbeitnehmer(innen) des Betriebs durch die Änderung der Betriebsorganisation abgebaut werden bzw. dass der damit verbundene Personalabbau den nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderlichen Schwellenwert von 5% erreicht. Vielmehr sind die Änderungen der Betriebsorganisation darauf zu untersuchen, ob diese wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder überwiegende Teile der Belegschaft haben. Hierbei ist darauf abzustellen, ob die Änderung erhebliche Bedeutung für das betriebliche Gesamtgeschehen hat. Dabei kann die Zahl der von der Änderung betroffenen Arbeitnehmer(innen) jedoch durchaus indizielle Bedeutung erlangen. Ist ein erheblicher Teil der Belegschaft von der Änderung betroffen, so spricht dies nämlich im Zweifel auch für die erhebliche Bedeutung der Änderung für den Gesamtbetrieb. Dabei kann zur Feststellung, ob ein erheblicher Teil der Belegschaft betroffen ist, an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.10.1982 (1 ABR 11/81 - BAGE 41, 92) und vom 6.12.1988 (1 ABR 11/87 - BAGE 60, 237-244) angeknüpft werden, indem an § 17 Abs. 1 KSchG und die darin genannten Zahlen mit der Maßgabe angeknüpft wird, dass wenigstens 5% der Gesamtbelegschaft von den Änderungen betroffen sein müssen (so auch Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 20. April 2016 - 4 TaBV 70/15 -, Rn. 32, juris).
38
Dies berücksichtigend, kann die Kammer vorliegend keine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation erkennen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die von der Klägerin dargelegten und aufgeführten Änderungen innerhalb des Betriebs N M so umfassend waren, dass sie von wesentlicher Bedeutung für den Betriebsablauf, die Arbeitsweise oder die Arbeitsbedingungen von erheblichen Teilen der Belegschaft waren. Zwar wurde die Struktur der Personalabteilung geändert, jedoch ist etwa in der Dezentralisierung des Recruitments oder der Tatsache, dass Bewerbungsgespräche oder Präsenzschulungen nicht mehr vor Ort stattfanden oder die Pflicht zur Originalunterschrift in vielen Fällen durch die digitale Form ersetzt wurde, keine Änderung zu erkennen, die entscheidende und umgreifende Auswirkungen auf die überwiegenden Teile der Belegschaft gehabt haben könnte, insbesondere auch keine wesentlichen Nachteile. Auch aus dem Vortrag des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2021 ergaben sich insoweit keine Anhaltspunkte für eine grundlegende Änderung. Hinzu kommt, dass weder mindestens 5% der Gesamtbelegschaft des Betriebs infolge der Maßnahmen abgebaut wurden, noch dass mindestens 5% der Gesamtbelegschaft ersichtlich negativ von den Maßnahmen betroffen waren.
39
Da es vorliegend mithin an einer grundlegenden Änderung der Betriebsorganisation im Sinn von § 111 Satz 3 Nr. 4 BetrVG mangelte und auch keine anderen Fallgruppen des § 111 Satz 3 BetrVG einschlägig sind, liegt eine Betriebsänderung im Sinne von § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB III i.V.m. § 111 BetrVG nicht vor. Ein dauerhafter Arbeitsausfall nach § 111 Abs. 2 SGB III war daher zu verneinen, weshalb die Voraussetzungen für die Bewilligung bzw. zum Erlass von Transfer-KuG bzw. zum Erlass eines Anerkennungsbescheids nicht vorliegen.
40
Die Klage ist daher als unbegründet abzuweisen.
41
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
42
3. Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG).