Inhalt

LSG München, Beschluss v. 29.07.2021 – L 5 SF 174/21 AB
Titel:

Sozialgerichtsverfahren: Unverzüglichkeit eines Befangenheitsgesuchs

Normenketten:
SGG § 60
ZPO § 41
Leitsatz:
Befangenheitsgesuche sind seit der Rechtsänderung zum 1.1.2020 nicht mehr unverzüglich und damit unzulässig, wenn sie nicht binnen einer Überlegungsfrist von wenigen Tagen angebracht werden. (Rn. 15)
Schlagworte:
Befangenheit, unverzüglich, Sozialgericht, Ablehnungsgesuch, Frist, Überlegungsfrist
Vorinstanz:
SG München vom 16.03.2021 – S 12 KR 2030/20 ER
Fundstelle:
BeckRS 2021, 24597

Tenor

1. Die Anhörungsrüge und der Befangenheitsantrag des Antragstellers und Beschwerdeführers vom 11.5.2021 werden zur gemeinsamen Verhandlung sowie Entscheidung miteinander verbunden und als unzulässig verworfen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
1
Zu befinden ist über einen Befangenheitsantrag und eine Anhörungsrüge nach Abschluss eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz gem. § 86b SGG.
2
1. Der 1978 geborene Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) war bis 30.9.2020 bei der Beklagten und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beklagte) beitragsfrei familienversichert. Seither ist der Kläger beihilfeberechtigt sowie privat krankenversichert.
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Einen Antrag des Klägers, bei welchem ein GdB von 100 anerkannt ist, vom 16.7.2020 auf Sachleistung des Medikamentes Exjade (Unverbindliche Preisempfehlung für 90 Tage: 3.466 €), das für die onkologisch bedingte Eisenüberladung des Klägers nicht zugelassen ist, lehnte die Beklagte nach Sachaufklärung unter Einschaltung des MDK ab (Bescheid 24.9.2020; Widerspruchsbescheid 26.11.2020; Klageverfahren Sozialgericht München [im Folgenden: SG]: S 12 KR 1268/20).
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Zwei Eilverfahren, in welchen der Kläger von der Beklagten - trotz Ende seines Versichertenstatus zum 30.9.2020 - Sachleistung des Arzneimittels Exjade von dieser begehrt hat, sind ohne Erfolg geblieben (Beschluss vom 3.2.2021 - L 5 KR 542/20 B ER; Beschluss vom 28.4.2021 - L 5 KR 145/21 B ER: Unzulässigkeit in Haupt- und Hilfsantrag; Nichtannahmebeschluss BVerfG vom 19.05.2021 - 1 BvR 720/21).
5
Das Klageverfahren vor dem SG ist durch Gerichtsbescheid vom 23.3.2021 rechtskräftig beendet, weil der zutreffend rechtmittelbelehrte Kläger auf einem unstatthaften Antrag auf mündliche Verhandlung beharrt, nicht hingegen die zulässige Berufung eingelegt hat (vgl. Beschluss vom 28.7.2021 - L 5 KR 252/21 B).
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2. Auf dem am 28.4.2021 zugestellten ablehnenden Beschluss vom 28.4.2021 hat der Kläger am gleichen Tage in Bezug auf den Vorsitzenden mitgeteilt, er führe „grundsätzlich keine Verhandlung mit Straftätern“ und hat zu „möglichen Fluchtorten vor Strafverfolgung“ eine Liste mit 31 Staaten „ohne Auslieferungsverkehr an Deutschland“ verwiesen. Nach persönlicher Akteneinsicht am 29.4.2021 hat der Kläger unter dem 30.4.2021 die umgehende Rücksendung der Verwaltungsakte gerügt. Der Kläger hat sodann am 3.5.2021 Weiteres zu vorgeblicher Aktenvorenthaltung gerügt und am 5.5.2021 ua mitgeteilt, weitere Diskussion mit dem 5. Senat erübrige sich, dieser könne einer Entscheidung des BVerfG nicht zuvorkommen, da „R das Verfahren … unüberlegt und panikartig beendet hatte“.
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Am 11.5.2021 hat der Kläger die Richter des Beschlusses L 5 KR 145/21 B ER wegen Befangenheit abgelehnt. Diese hätten seine Grundrechte im Verfahren willentlich verletzt, hätten mit dem Beschluss vom 28.4.2021 offensichtlich eine weitere Straftat begangen, das Recht absichtlich falsch angewandt, seinen Vortrag übergangen. Das pflichtwidrige MDK-Gutachten sei nicht relevant. Des Weiteren hat der Kläger Loyalität der Richter untereinander bis hin zur Mittäterschaft eigenständiger Straftaten vorgebracht. Zudem hat er gerügt, eine Urlaubsvertretung sei nicht glaubhaft gemacht. Mit gleichem Schreiben hat der Kläger „pro forma“ Anhörungsrüge erhoben. Der Beschluss vom 28.4.2021 habe bereits erstinstanzliches Vorbringen missachtet, eine Komplikation über Sepsis missachtet ebenso wie die Genehmigungsfiktion. Die Eigenschaft der Erstrichterin und des Vorsitzenden als Straftäter ließen sich beweisen, die Entscheidung sei vorschnell ergangen, Einsicht in die Verwaltungsakte sei nicht ermöglicht worden.
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Mit Schreiben vom 19.5.2021 hat der Kläger dem Ehemann der Erstrichterin persönlich die Möglichkeit eröffnet „seiner Ehefrau im Rahmen einer von ihr verübten Straftat zur Seite zu stehen“. Über die Studienstiftung des deutschen Volkes hat er zudem den Ehemann mit dem vormaligen Verfassungsgerichtspräsidenten in Verbindung gebracht. Darüber hinaus hat der Kläger den Nachnamen der Erstrichterin „ohne rechtliche Wertung des Vorganges“ mit dem Namen einer US-TV-Produktion zu einer - frei übersetzt - bösen Hexe konnotiert.
9
Über dieses hinaus hat sich der Kläger mehrfach - im Ergebnis stets erfolglos - an die Gerichtsleitung des Bayer. LSG gewandt. Er hat dabei ua den Bundesverfassungsgerichtspräsidenten sowie den Vorsitzenden mit Nachnamen benannt und beiden Verfahrenspflichtverletzungen sowie dem Zweitgenannten Verbrechen vorgeworfen.
II.
10
Die hier gegenständliche Anhörungsrüge iSd § 178a SGG sowie der mit dieser kombinierte Befangenheitsantrag iSd § 60 SGG vom 11.5.2021 werden - wegen der Besonderheiten des Falles - als unzulässig verworfen. Der Befangenheitsantrag darf - ohne dass es dienstlicher Stellungnahmen bedurft hätte - vom abgelehnten Senat wegen festzustellender Eigenheiten selbst durch Beschluss verworfen werden.
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1. Das Ablehnungsgesuch ist offenkundig unzulässig.
12
a. Die mit gleicher Begründung abgelehnten Richter des Beschlusses L 5 KR 145/21 B ER sind mit der Sache nicht mehr befasst, da dieser Beschluss rechtskräftig ist, § 177 SGG und damit die abgelehnten Richter in dem Verfahren, auf welches sich das Befangenheitsgesuch bezieht, nicht mehr tätig werden können.
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Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Kläger selbst mit Schreiben vom 2.6.2021 so bezeichneten „Anhörungsrüge kombiniert mit einem Antrag auf Ablehnung“ (s.u.).
14
b. Das Ablehnungsgesuch ist zudem verfristet.
15
Nach § 60 SGG iVm §§ 41 ff ZPO sind Ablehnungsgesuche wegen Besorgnis der Befangenheit gem. § 44 Abs. 4 S. 2 ZPO id ab 1.1.2020 geltenden Fassung unverzüglich anzubringen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen Ablehnungsgesuche ohne prozesswidriges Verzögern nach Kenntniserlangung des Ablehnungsgrundes geltend gemacht werden (vgl. BT.-Drs. 19/13828, S. 17). Die mit der gesetzlichen Neuregelung bezweckte Vermeidung von Verfahrensverschleppungen verlangt für die Einhaltung der Unverzüglichkeit einen klaren Maßstab. Auch bei Zugestehen eines subjektiven Momentes eines Beteiligten ist ein Ablehnungsgesuch nicht mehr „ohne schuldhafte Verzögerung“ (§ 121 BGB), wenn nach Ablauf einer Überlegungsfrist mit dem Gesuch zugewartet wird. Die Überlegungsfrist hängt dabei von den Umständen des Einzelfalles ab. Sie kann sich bei komplexeren Sachlagen durchaus auf mehrere Tage erstrecken, wobei eine Zeit von wenigen Tagen (OLG Hamburg, FamRZ 2020, 1283; LG Stuttgart MDR 2021, 55), also 1 bis 2 Tage (Götsche, jurisPR-FamR 19/2020 Anm. 3), höchstens aber 3 bis 4 Tage (BeckOK ZPO/Wendtland, 37. Ed. 1.7.2020, ZPO § 234 Rn. 9) für die Überlegung verbleiben können (Brandenburgisches OLG, 4.3. 2021 - 9 WF 58/21). Jedenfalls ist mit der Entscheidung des Gesetzgebers - welcher auch für das sozialgerichtliche Verfahren Gültigkeit zukommt - zu beachten, dass die vormals in der sozialgerichtlichen Handhabung regelmäßig zugebilligte Frist von zwei Wochen keineswegs allgemein Anwendung zu finden hat und vielmehr einer Verfahrensbeschleunigung der Vorzug gebührt.
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In Anwendung dieser Grundsätze ist festzustellen, dass der Kläger am 28.4.2021 den Beschluss vom gleichen Tage im Wege der elektronischen Übermittlung formell fehlerlos erhalten hat. Sein Ablehnungsgesuch datiert vom 11.5.2021. Das Gesuch ist damit 13 Tage nach Beschlusszustellung angebracht worden.
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Dem Kläger, bei welchem wegen eines abdominellen Tumors ein GdB von 100 anerkannt ist, muss zweifellos wegen bestehender Handicaps eine erweiterte Überlegungsfrist eingeräumt werden, zwei bis fünf Tage wären eine unangemessen kurze Frist. Zudem war das Verfahren mit Beschluss vom 28.4.2021 beendet, weitere Verzögerungen somit nicht verfahrensverlängernd. Gleichzeitig belegen die Schreiben vom 28.4.2021 mit der Beschimpfung des Vorsitzenden als Straftäter bei Benennung von über 30 Nichtauslieferungsstaaten, die Schreiben nach Akteneinsicht vom 29. und 30.4.2021 mit Aktenversendungsrügen sowie der anrede- und bezeichnungsweglassende Vorwurf vom 5.5.2021, dass der Kläger den Beschluss, dessen Entstehen, Bedeutung, Hintergründe und Auswirkungen vollständig erfasst hatte. Damit ist zugleich dokumentiert festzustellen, dass dem Kläger die erst am 11.5.2021 vorgebrachten Befangenheitsgründe schon sechs Tage vorher geläufig waren. Der aktenkundig schrift-, sprach-, formulierungserfahrene und -gewandte Kläger war also spätestens am 5.5.2021 in der Lage, sein Gesuch ohne schuldhaftes Zögern im Wege der sofortigen Übermittlung per De-Mail bei Gericht anzubringen.
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Zudem sollen gerade Eilverfahren nicht in die Länge gezogen werden, die jeweiligen Beteiligten müssen alsbald wissen, worauf sie ihr Handeln einzustellen haben. Das gilt vorliegend auch für die Antragsgegnerin, welche im Unterliegensfalle umgehend ein nicht zugelassenes Medikament zu einem Listenpreis von umgerechnet rund 115 €/täglich bei Dauermedikation zu Lasten ihrer Versichertengemeinschaft für einen nicht mehr Versicherten zu erbringen gehabt hätte.
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Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist der vom Kläger in Anspruch genommene Zeitraum von nahezu zwei Wochen klar nicht mehr mit dem gesetzlichen Gebot des unverzüglichen Antrags in Einklang zu bringen. Dies gilt, obwohl er das Gesuch in einem bereits abgeschlossenen, also einer Verzögerung eigentlich nicht mehr zugänglichen Verfahren, angebracht hat. Denn Rechtskraft und Rechtsfrieden durch Verfahrensabschluss verlangen ebenso ein Tätigwerden ohne schuldhaftes Zögern. Dem aber läuft das hier vorliegende Zuwarten des Klägers bis 11.5.2021 zuwider.
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2. Etwas Anderes ergibt sich nicht aus der in Kombination mit dem Befangenheitsgesuch erhobenen Anhörungsrüge iSd § 178a SGG.
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a. Die Anhörungsrüge ist ein Instrument der Selbstkontrolle des entscheidenden Spruchkörpers. Denn diesem selbst eröffnet die Anhörungsrüge die Möglichkeit, Verletzungen des rechtlichen Gehörs zu korrigieren. Befangenheitsanträge zielen auf die Ersetzung des befangenen Spruchkörpers durch einen unbefangenen ab. Gesuch und Rüge verfolgen daher miteinander unvereinbare Ziele und Zwecke und sind deshalb in dem hier vorliegenden Fall einer Kombination als unzulässig anzusehen (vgl. Bayer. LSG, 24.9.2020 - L 11 SF 283/20 AB mwN; BSG v. 25.02.2010 - B 11 AL 22/09 C; Bayer. LSG, 25.10.2016 - L 15 SF 281/16 AB). Dies gilt vorliegend umso mehr, als nach dem angegangenen Beschluss L 5 KR 145/21 B ER die Beschwerde des Klägers unzulässig war.
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b. Schließlich würde eine sachlich nicht veranlasste Neueröffnung des Verfahrens L 5 KR 145/21 B ER durch die Anhörungsrügen-/Befangenheitskombination dem Kläger eine Plattform eröffnen können, weiter rechtsmißbräuchlich Hass, halt- und grundlose Vorwürfe sowie Kundgaben von Nicht- bzw. Missachtung zu verbreiten und auch gänzlich Unbeteiligte - wie den Ehemann der Erstrichterin - in diese unwürdigen Vorwürfe mit hineinzuziehen.
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Mit der gehäuften titel- und anredelosen Benennung von Gerichtspersonen, mit den mehrfachen Bezichtigungen von Straftäterschaft, den Vorwürfen absichtlicher Rechtsverletzungen, den gehäuften mehrseitigen Beschwerdeschreiben an die Gerichtsleitung der ersten und der zweiten Instanz mit Fristsetzungen von wenigen Tagen lässt der Kläger erkennen, dass ihm beleidigende, hassgetragene Schreiben ein besonderes Anliegen sind. Die Konnotierung der Erstrichterin mit einer Hexe mag zwar feinsinnig formuliert sein, hat mangels sachlichen Bezuges zum Verfahren jedoch nur den einzigen Zweck, diese herabzuwürdigen. Das Nämliche bezweckt die haltlose sinngemäße Unterstellung, der Ehemann der Erstrichterin und der vormalige Verfassungsgerichtspräsident hätten sich über den Verbindungsweg aus der Studienstiftung des deutschen Volkes gegen den Kläger gewissermaßen verschworen, woraus eine strafbare Schädigung des Klägers durch die Erstrichterin erwachse.
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3. Die kombinierte Anhörungsrüge ist als unzulässig zu verwerfen, weil der Kläger mit dieser allein sein bisheriges Vorbringen wiederholt hat. Dass ihm nach Ende der Familienversicherung keine Sachleistung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugesprochen werden kann, hat der Kläger ebensowenig zur Kenntnis genommen wie den tragenden Verwerfungsgrund, dass seinem Begehren die Rechtskraft des Beschlusses vom 3.2.2021 - L 5 KR 542/20 B ER entgegensteht.
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4. In einer Gesamtschau liegt somit hier einer der wenigen Fälle vor, in welchem höchst ausnahmsweise die abgelehnten Richter über ein rechtsmissbräuchliches und nach Abschluss der Instanz grundsätzlich unzulässiges Ablehnungsgesuch entscheiden dürfen (BSG, Beschluss vom 22. Juni 2021 - B 13 R 256/20 B -, Rn. 7, juris Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 60 RdNr. 10d mwN). Wegen Unzulässigkeit und Rechtsmißbräuchlichkeit hatte es auch höchst ausnahmsweise der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richter nicht bedurft.
26
Anhörungsrüge und Befangenheitsantrag in Kombination sind somit zu verwerfen.
27
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.
28
Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht eröffnet, § 177 SGG.