Inhalt

VG München, Beschluss v. 21.01.2021 – M 11 S 20.50065
Titel:

Überstellung eines Asylbewerbers nach Italien

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 9, Art. 17 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3
Leitsätze:
1. Es ist nicht davon auszugehen, dass ein Asylbewerber aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 21 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ist eine ungebundene, europarechtliche Befugnis, keine Pflicht. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Italien), kein Abschiebungshindernis wegen im Bundesgebiet lebender irakischer Ehefrau, die aus einer früheren Ehe ein Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit hat (Einzelfallprüfung), Abschiebungshindernis, im Bundesgebiet lebende irakische Ehefrau, Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit, Einzelfallprüfung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 2212

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des Eilrechtschutzes gegen seine Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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ist irakischer Staatsangehöriger und reiste nach seinen Angaben am 9. September 2019 in das Bundesgebiet ein, wo er ein Asylgesuch äußerte, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 3. Oktober 2019 schriftlich Kenntnis erlangte. Am 7. November 2019 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag.
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Ausweislich einer Eurodac-Trefferauskunft vom 3. Oktober 2019 war der Antragsteller bereits bei seiner Einreise in Italien am 2. September 2019 registriert worden (Eurodac-Treffer der Kategorie 2).
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Bei seiner Befragung und Anhörung durch das Bundesamt am 7. November und 16. Dezember 2019 gab der Antragsteller an, dass er sein Heimatland am 24. Mai 2019 verlassen habe und mit dem Flugzeug in die Türkei geflogen sei. Von dort sei er über Griechenland, Italien und Frankreich (Durchreise) nach Deutschland gereist. Der Antragsteller erklärte, dass er nur in Deutschland einen Asylantrag gestellt habe. Nachdem sein Schiff in Italien angekommen sei, sei er erkennungsdienstlich behandelt worden. Dabei habe er gleich gesagt, dass er zu seiner Ehefrau nach Deutschland wolle. Er habe seine Frau im Juli 2017 in … geheiratet. Sie lebe in … und er telefoniere ab und zu mit ihr. Außerdem treffe er sie hin und wieder in der Stadt, da er nicht zu ihr ziehen dürfe. Sie hätten keine gemeinsamen Kinder. Seine Frau habe ein Kind von ihrem ersten Ehemann, dass er adoptieren wolle. Ferner lebe noch eine Cousine in Hamburg. Im Übrigen wird auf den Sachvortrag und die vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.
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Das Bundesamt richtete am 13. November 2019 ein Aufnahmegesuch an Italien. Eine Reaktion der italienischen Behörden erfolgte nach Aktenlage nicht.
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Mit Bescheid vom 14. Januar 2020, dem Antragsteller zugestellt am 23. Januar 2020, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Nr. 3). Ferner wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am 28. Januar 2020 hat der Antragsteller durch seine Bevollmächtigte beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid erhoben (M 11 K 20.50064) und zugleich beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Asylverfahren des Antragstellers im nationalen Verfahren zu prüfen sei. Die Antragsgegnerin sei gemäß Art. 9 bzw. 10 Dublin IIIVO für die materielle Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Ausführungen der Antragsgegnerin, wonach die Ehefrau kein Bleiberecht im Bundesgebiet zustehe, seien unzutreffend. Die Ehefrau des Antragstellers halte sich mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet auf. Sie habe eine Verlängerung ihres Aufenthaltstitels beantragt und bis zur Ausstellung des neuen Aufenthaltstitels eine Fiktionsbescheinigung erhalten, die in Kopie vorgelegt wurde. Die Ehefrau des Antragstellers sei Mutter eines deutschen Kindes und verfüge aus diesem Grund im Bundesgebiet über ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Die Abschiebung des Antragstellers würde zu einer mit Art. 6 GG i.V.m. Art. 8 EMRK nicht zu vereinbarenden Trennung der Kernfamilie führen. Es bestehe somit ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG. Die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern habe, verpflichtet die jeweils zuständige Behörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die bestehenden familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dem Antragsteller sei die Trennung von seiner Ehefrau nicht zuzumuten, da diese nicht nur vorübergehender Natur sei. Die Dauer eines Asylverfahrens und das weitere Schicksal des Antragstellers gerade im Falle einer möglichen Ablehnung seines Asylantrags in Italien, würden sich nicht mit dem erforderlichen Grad an Sicherheit prognostizieren lassen. Die rechtmäßige Heirat sei anhand der Original-Heiratsurkunde nachgewiesen worden.
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Mit Beschluss vom 8. Mai 2020 wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet, nachdem die Beteiligten dies übereinstimmend infolge einer behördlichen „Corona“-Aussetzung der Vollziehung beantragt hatten. Nach dem Widerruf der behördlichen Aussetzung mit Schreiben des Bundesamts vom 23. Juli 2020 wurde das Verfahren fortgesetzt.
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Mit Schriftsätzen vom 14. August und 3. September 2020 wurde eine am 16. Juli 2017 in … (Irak) ausgestellte und registrierte Heiratsurkunde sowie eine bis zum 6. März 2021 gültige Fiktionsbescheinigung der Ehefrau (jeweils in Kopie) vorgelegt.
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Das Bundesamt führte mit Schriftsatz vom 27. August 2020 im Wesentlichen aus, dass keine außergewöhnlichen Umstände für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Dublin III-VO zugunsten des Antragstellers vorlägen. Unter humanitären Gesichtspunkten liege keine Situation vor, in der eine langfristige Trennung der Eheleute drohe, ohne dass die Möglichkeit bestehe, die Familieneinheit vom Ausland aus herzustellen. Die Eheleute hätten die Trennung der Familie selbstständig herbeigeführt, indem die Ehefrau ohne den Antragsteller im Jahr 2017 aus dem Irak ausgereist sei und der Antragsteller erst nach etwa 2 Jahren den Irak in Richtung Deutschland verlassen habe. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände sei das öffentliche Interesse daher höher zu werten als ein Anspruch des Antragstellers auf Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland. Zudem verweise die obergerichtliche Rechtsprechung auch in ausländerrechtlichen Verfahren auf die Zumutbarkeit der Nachholung eines Visum-Verfahrens, um eine legale Einreise zu erwirken.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakte des Antragstellers sowie die beigezogenen Behördenakte der Ehefrau Bezug genommen.
II.
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Der zulässige - nach Auslegung (§§ 122, 88 VwGO) gegen die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 des Bescheids gerichtete - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 34 a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO) hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag ist unbegründet, da sich der streitgegenständliche Bescheid bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig erweist. Das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung überwiegt daher das Interesse des Antragstellers, vorläufig im Bundesgebiet bleiben zu dürfen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz - AsylG).
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Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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1.1 Die Antragsgegnerin ist zutreffend davon ausgegangen, dass Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.06.2013, S. 31) - im Folgenden: Dublin III-VO - für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Ausgehend von den Eurodac-Daten und den Angaben des Antragstellers ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags i.S.d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG zuständig. Das Aufnahmeverfahren wurde korrekt durchgeführt. Insbesondere trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, sodass davon auszugehen ist, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO). Italien ist daher gem. Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen.
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Der Umstand, dass die Ehefrau des Antragstellers im Bundesgebiet lebt kann eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 9 Dublin III-VO schon deshalb nicht begründen, weil dies voraussetzen würde, dass die Ehefrau Begünstigte internationalen Schutzes wäre. Dies ist nach Aktenlage nicht der Fall. Vielmehr wurde sowohl ein im Jahre 2007 gestellter erster Asylantrag der (damals anderweitig verheirateten) Ehefrau bestandskräftig abgelehnt, wie auch ein am 28. September 2017 gestellter Folgeantrag. Damit fehlt es auch an den Voraussetzungen des geltend gemachten Art. 10 Dublin III-VO.
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1.2 Der Antragsteller kann seiner Überstellung nach Italien auch nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtscharta) mit sich bringen, sodass eine Überstellung nach Italien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO).
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegensei-tigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 -„Jawo“ - juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - „Ibrahim u.a.“ - juris Rn. 84.; U.v. 21.12.2011 - C- 411/10, C-493/10 - juris Rn. 79 ff.) gilt die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtscharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine Vermutung (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 83 f.), welche durch den substantiierten Vortrag von Umständen widerlegt werden kann, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Nach der neueren Rechtsprechung des EuGH sind Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtscharte bzw. Art. 3 EMRK zu werten, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem EuGH erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91 ff.).
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Ausgehend von diesen Maßstäben ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
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Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials in der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen und auch obergerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. ausführlich etwa VGH BaWü, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 28.5.2018 und 4.4.2018 - 10 LB 201/18, 10 LB 202/18 und 10 LB 96/17; OVG NRW, B.v. 7.1.2019 - 13 A 888/18.A; NdsOVG, B.v. 6.6.2018 - 10 LB 167/18 - juris Rn. 32, bestätigt von BVerwG, B.v. 12.9.2018 - 1 B 50/18, 1 PKH 39/18 - juris; VG München, U.v. 28.10.2020 - M 19 K 19.51141 - u.v.; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 -juris; VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 - W 10 K 19.30677 - juris Rn. 36ff.; VG Augsburg, U.v. 9.7.2020 - Au 9 K 20.30303 - juris Rn. 44; VG Cottbus, U.v. 26.8.2020 - 5 K 1123/19.A - juris Rn. 17 ff.; VG Freiburg, U.v.19.8.2020 - A 10 K 3159/18 - juris Rn. 42 ff.) und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen im Übrigen auf die ausführliche Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG).
25
Zusammenfassend ist demnach festzustellen, dass Italien über ein im Wesentlichen richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass rücküberstellte Asylbewerber nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen i. S. d. Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 EMRK rechnen müssen. Die durchaus vorhandenen und keineswegs nur geringfügigen Defizite und Unzulänglichkeiten der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien stellen sich danach im Ergebnis jedenfalls für den Regelfall als nicht so gravierend dar, dass ihre Folgen für die Betroffenen beachtlich wahrscheinlich die Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta mit sich brächten. Zwar kann in Bezug auf besonders schutzbedürftige bzw. besonders vulnerable Antragsteller ein anderer Schutzstandard veranlasst sein, dies gilt indes nicht für den Antragsteller. Auch vor dem Hintergrund der am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen durch das „Decreto Legge No. 113 vom 4. Oktober 2018“ (sog. „Salvini-Dekret“) und der damit einhergehenden Umstrukturierung ist davon auszugehen, dass Dublin-Rückkehrer in der Lage sein werden, sich den - zwar im Vergleich zu Deutschland schwierigeren - Bedingungen zu stellen und durch ein gewisses Maß an Eigeninitiative diese auch zu bewältigen. Auf die noch 2018 bestehenden Defizite, wonach unangemessene und überfüllte Einrichtungen in Rom und anderen Hauptstädten und limitierter Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Rechtsberatung, Grundbildung und anderen öffentlichen Diensten zu verzeichnen waren (US Departement of State, Country Report on Human Rights Practices 2017 - Italy vom 20.4.2018, https://www.ecoi.net/en/document/1430262.html), wirken sich zumindest die seitdem stetig abnehmenden Anlandungszahlen positiv aus. Die Neuankünfte 2018 betrugen nur ca. ein Viertel der Neueinkünfte des Zeitraums im Vorjahr (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12). Hinsichtlich der insgesamt von Italien untergebrachten Migranten sind sinkende Zahlen zu verzeichnen, waren es 2018 noch 182.537, waren es 2019 nur noch 131.067 und 2020 sank die Zahl auf 90.198 (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2.4.2020, S. 7; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 - Rn. 57). Angesichts fortbestehender Rücküberstellungen, einem Rückstau anhängiger Verfahren und der Schließung von Aufnahmezentren bleibt der Druck auf das italienische Asylsystem zwar bestehen (SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12). Die defizitären Umstände sind jedoch nicht so gravierend, dass sie den obergerichtlich aufgestellten Kriterien folgend, zu einer existentiellen Not der Dublin-Rückkehrer in Italien führen würden. Weder kann aus den dargelegten Mängeln eine Gleichgültigkeit der italienischen Behörden entnommen werden, noch eine zu befürchtende Verelendung der Dublin-Rückkehrer. Hervorzuheben bleibt, dass anders als etwa im Falle Griechenlands der Hohe Flüchtlingskommissar zu keinem Zeitpunkt einen Abschiebestopp hinsichtlich Italiens gefordert hat.
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Ferner ist davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle seiner Anerkennung durchaus eine realistische Chance hätte, sich in Italien eine Existenz aufzubauen. Das gleichwohl nicht auszuschließende Risiko, dass er für den Fall seiner Rückkehr nach Italien künftig in eine Situation geraten könnte, die für die Prüfung des Art. 4 EU-Grundrechtecharta relevant wäre, stellt sich jedenfalls nicht als in einem Maße wahrscheinlich dar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Rahmen des Dublin-Verfahrens hieraus folgend ein entsprechendes Abschiebungsverbot angenommen werden könnte. Hinzuweisen ist auch auf die Möglichkeit eines etwaigen Nachsuchens um Rechtsschutz gegenüber den italienischen Gerichten (vgl. hierzu ausführlich VG Aachen, U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17.A - juris).
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Ebenso ist nicht ersichtlich, dass die Regelungen bzw. die Praxis hinsichtlich des Umgangs mit Antragstellern, deren Anträge bestandskräftig abgelehnt wurden, durch die italienischen Behörden, soweit es um die Vorbereitung einer Rückführung in den Heimatstaat oder einen sonst aufnahmebereiten Staat geht, eine Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta befürchten ließe - wobei auch insoweit auf die Möglichkeit eines etwaigen Nachsuchens um Rechtsschutz gegenüber den italienischen Gerichten hinzuweisen ist.
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Nach summarischer Prüfung sind damit vorliegend keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller als gesunder und arbeitsfähiger junger Mann im Falle einer Überstellung nach Italien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt wäre.
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1.3 Die Entscheidung des Bundesamts, von einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO abzusehen, ist in Hinblick auf die familiäre Situation des Antragstellers rechtlich nicht zu beanstanden.
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Zwar können im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu beachtende, ermessensleitende Gesichtspunkte insbesondere auch humanitäre Aspekte wie familiäre Bindungen sein, die nicht von Art. 8 ff. Dublin III-VO erfasst werden (vgl. Huber u. a., AufenthG, § 60 Rn. 29ff.; Lehnert/Pelzer, NVwZ 2010, 613, 614; Maiani/Hruschka, ZAR 2014, 69, 71; Marx, ZAR 2014, 5, 8; Nestler/Vogt, ZAR 2017, 21, 28; NK-AuslR, AsylVfG, § 27a Rn. 61). Die von der Antragsgegnerin vorgenommene Ermessensausübung bewegt sich aber im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten, die Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eröffnet.
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Der Europäische Gerichtshof (EuGH, U.v. 23.1.2019 - C-661/17, M. A. u. a. - NVwZ 2019, 297) hat zur Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO entschieden, dass selbst Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von der Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen. Die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO eröffneten Befugnis sei demnach an keine besondere Bedingung geknüpft und es sei grundsätzlich Sache jedes Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von dieser Befugnis Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (so bereits EuGH, U.v. 30.5.2013 - C-528/11, Halaf - NVwZ-RR 2013, 660; U.v. 4.10.2018 - C-56/17, Fathi - juris, allerdings nicht zu Kindeswohlerwägungen). Demnach können selbst Kindeswohlerwägungen einen Mitgliedstaat generell nicht dazu verpflichten, von der Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist demnach eine ungebundene, europarechtliche Befugnis, keine Pflicht (vgl. auch Peukert u. a., ZAR 2016, 131, 135).
32
Vorliegend ist der Antragsteller unstrittig nicht Vater oder sonst Personensorgeberechtigter des aus der ersten Ehe seiner Ehefrau stammenden Kindes. Eine schützenswerte familiäre Bindung könnte der Antragsteller damit lediglich von seiner im Bundesgebiet lebenden Ehefrau ableiten. Nach den vorgelegten Unterlagen ist zwar von einer gültigen Eheschließung am 16. Juli 2017 in … auszugehen, allerdings haben die Eheleute nach der Aktenlage im Heimatland offenbar kein gemeinsames Eheleben geführt. Die Ehefrau hat den Irak bereits am 17. August 2017 und damit ca. einen Monat nach der Eheschließung verlassen. Ausweislich der Angaben der Ehefrau im Rahmen ihrer Anhörung am 4. Oktober 2017 lebte diese im Irak vor ihrer Ausreise zuletzt mit ihrem Vater und der Tochter in einer Mietwohnung, während der Kläger nach seinen Angaben mit seinen Eltern und Geschwistern im Haus seines Vaters zusammenlebte. Erst knapp zwei Jahre nach seiner Ehefrau hat auch der Antragsteller den Irak verlassen. Da die Eheleute demnach selbst im Heimatland nicht oder jedenfalls nicht über einen nennenswerten Zeitraum in ehelicher Gemeinschaft zusammenlebten und selbst ein kurzes etwaiges Zusammenleben über mehrere Jahre zurückliegen würde, besteht kein Anspruch darauf, das eheliche Zusammenleben nun erstmals im Bundesgebiet zu begründen. Dem Antragsteller und seiner Ehefrau ist es vielmehr zuzumuten, den Kontakt über Telefon und Internet aufrechtzuerhalten, so wie sie dies seit ihrer Eheschließung offenbar bereits in den vergangenen Jahren zu tun pflegten. Auch der Vortrag gelegentlicher Treffen der Eheleute im Stadtgebiet vermag hieran nichts zu ändern.
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3.1 Der Überstellung stehen zudem weder zielstaatsbezogene noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegen, sodass die Überstellung auch im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden kann. Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ergibt sich insbesondere nicht aus der familiären Situation des Antragstellers. Vorliegend gebieten weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK von der Überstellung des Antragstellers nach Italien abzusehen.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, B.v. 31.8.1999 - 2 BvR 1523/99; B.v. 4.12.2007 - 2 BvR 2341/06; B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - jew. juris) gewährt Art. 6 GG grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die bestehenden ehelichen Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen und mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Das Schutzgebot für Ehe und Familie ist daher in verhältnismäßiger Weise mit den öffentlichen Interessen abzuwägen. Art. 6 GG gebietet es regelmäßig nicht, dem Wunsch eines Ausländers nach ehelichen und familiären Zusammenleben im Bundesgebiet zu entsprechen, wenn er oder sein Ehegatte hier nicht seinen Lebensmittelpunkt gefunden haben. Letzteres kann generell nur angenommen werden, wenn der Verbleib im Bundesgebiet aufenthaltsrechtlich auf Dauer gesichert ist oder ein Anspruch auf Einräumung eines Daueraufenthaltsrechts besteht (vgl. BVerfG B.v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 - juris Rn. 114). Ein nur verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht genügt nicht. Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG zudem nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen, entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalls. Auch aus Art. 8 EMRK folgt nicht grundsätzlich die Pflicht eines Konventionsstaates, die von einem Ehepaar getroffene Wahl eines gemeinsamen Wohnsitzes zu achten und dem ausländischen Ehegatten den Aufenthalt zu ermöglichen (vgl. EGMR, U.v. 4.10.2016 - Nr. 30474/14 - juris; BVerfG, B.v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 - juris Rn. 165).
35
Mit Blick auf das geltend gemachte Asylbegehren und die diesbezüglichen Regelungen der Dublin III-VO ist zu berücksichtigen, dass ein erhebliches Interesse der Bundesrepublik Deutschland daran besteht, sich an dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zu beteiligen, das eine anhand von einheitlichen Zuständigkeitskriterien erfolgende Verteilung von Asylbewerbern vorsieht, hierbei familiäre Belange berücksichtigt (vgl. insbes. Erwägungsgründe 13 ff., Art. 9 bis 11 und 16 der Dublin III-VO) und darüber hinaus ein rechtsmissbräuchliches Verhalten wie Scheinehen oder ein sog. „asylum-shopping“ verhindern soll. Kommt es einem Ausländer darauf an, ein Asylverfahren zu durchlaufen, so muss er angesichts des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems grundsätzlich in Kauf nehmen, dass das Asylverfahren in einem (zuständigen) anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union durchgeführt wird. Dies ist jedenfalls dann nicht unzumutbar, wenn die Trennung der Ehegatten bzw. Familie nur vorübergehend ist. Eine vorübergehende Trennung bis zum Abschluss eines laufenden Asylverfahrens dürfte dabei regelmäßig nur dann unzumutbar sein, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, etwa weil einer der Ehegatten auf Grund individueller Besonderheiten mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.2.2015 - Au 5 K 14.50254 - juris Rn. 33; BVerfG, B.v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 - juris Rn. 116 f).
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Nach diesem Maßstab ist es dem Antragsteller vorliegend zuzumuten, sein Asylverfahren in Italien zu betreiben. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die obigen Ausführungen unter Ziff. 1.3 Bezug genommen. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass ein gesichertes Aufenthaltsrecht der Ehefrau im Bundesgebiet nach summarischer Prüfung der Aktenlage zweifelhaft erscheint. Ein etwaiges Aufenthaltsrecht könnte sich allenfalls von dem deutschen Kind ableiten, wobei hierbei ausländerrechtlich wohl allerdings auch das Personensorgerecht des deutschen Ex-Ehemanns der Ehefrau des Antragstellers zu berücksichtigen wäre. Näheres hierzu ergibt sich weder aus den Akten noch dem Vortrag der Antragstellerseite. Ob sich der deutsche Kindsvater in Irak oder Deutschland aufhält, war der Ehefrau des Antragsstellers nach ihren Angaben im Oktober 2017 nicht bekannt.
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2. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.