VG München, Urteil v. 18.05.2021 – M 4 K 18.2315
Titel:

Ausweisung wegen schwerer und wiederholter Straffälligkeit

Normenkette:
AufenthG § 11 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5, § 53 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Bei der Gefahrenprognose sind die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte nicht an die Prognose des Strafvollstreckungsgerichts gebunden. Sie können sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren geht es um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Abwägung des Ausweisungs- gegen das Bleibeinteresse im Rahmen einer Gesamtwürdigung fällt zulasten des Klägers besonders die wiederholte Straffälligkeit und die hohe Rückfallgeschwindigkeit ins Gewicht. Das klägerische Bleibeinteresse wird dadurch abgeschwächt, dass eine gelungene Integration in die Rechts- und Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht stattgefunden hat. (Rn. 76) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die an den Nachweis der Straffreiheit geknüpfte bedingte Befristung der Ausweisung auf fünf Jahre ist unter präventiven Gesichtspunkten ermessensgerecht. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. (Rn. 83) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Im Bundesgebiet aufgewachsener irakischer Staatsangehöriger, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis, Straffälligkeit, Wiederholungsgefahr, Gefahrenabwehr, Resozialisierung, Einreise- und Aufenthaltsverbot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.11.2021 – 10 ZB 21.2363
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22110

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung.
2
Der am … … … geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und reiste im Jahr 2000 mit seinen Eltern und seinem Bruder in die Bundesrepublik Deutschland ein.
3
Am … … … stellten er und seine Familie Asylanträge beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt). Mit Bescheid vom 21. Juli 2000 lehnte dieses die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte jedoch für den Kläger und seine Familie fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1997 hinsichtlich des Iraks vorliegen (Bl. … ff.).
4
Am … … … erhielt der Kläger eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Seit dem … … … besitzt er eine Niederlassungserlaubnis.
5
Der Kläger erlitt im Kleinkindalter Verbrennungen im Hals-/Kinnbereich, die zu dauerhaften Narben führten. Die Narben bedurften wiederholt operativer Behandlung (Bl. … … …).
6
Der Kläger besuchte die Mittelschule bis zur neunten Klasse. Im November 2015 musste er wegen störenden Verhaltens die Schule ohne Abschluss verlassen.
7
Am 5. August 2014 sah die Staatsanwaltschaft München I von der Verfolgung des Klägers wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Beleidigung nach § 45 Abs. 2 JGG ab (Bl. …).
8
Am 1. Dezember 2014 erging durch das Amtsgericht München aufgrund eines Diebstahls eine richterliche Weisung (Bl. …).
9
Am 9. April 2015 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einem zweiwöchigen Dauerarrest (Az.: 1034 Ds 462 Js 109194/15 jug). Dem Urteil lagen folgende Sachverhalte zugrunde:
10
1. Am 1. Juli 2014 fasste der Kläger am Stachus in München einer ihm Unbekannten an das Gesäß und verpasste ihr einen leichten Tritt. Die Geschädigte ging zunächst weiter, begab sich aber anschließend zurück, um den Kläger zur Rede zu stellen. Als die Geschädigte dem Kläger ihr Getränk ins Gesicht schüttete, verfolgte er die Geschädigte mit ca. neun Begleitern und schlug und trat die Geschädigte. Die Geschädigte erlitt eine Rippenprellung sowie Prellungen an Gesäß und Beinen.
11
2. Knapp zwei Stunden später umarmte der Kläger am selben Ort eine ihm unbekannte 15-jährige und fasste ihr in den Intimbereich. Anschließend entfernte der Kläger sich. Die Geschädigte ging ihm nach und stellte ihn im ersten Untergeschoss der Stachuspassagen zur Rede. Als der Kläger sich nicht entschuldigte, sondern das Ansinnen der Geschädigten frech kommentierte, schlug die Geschädigte dem Kläger mit der flachen Hand ins Gesicht. Daraufhin schlug der Kläger ihr mit der rechten Faust gegen das linke Auge. Die Geschädigte erlitt hierdurch Kopfschmerzen, eine Prellung des Gesichtsschädels und eine Gehirnerschütterung, wegen der sie sich vom 2. Juli 2014 bis zum 4. Juli 2014 zur Behandlung im Krankenhaus befand.
12
Im Rahmen der Strafzumessung bewertete das Amtsgericht zu Lasten des Klägers, dass die Situation für die sehr jungen Geschädigten sehr demütigend und aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit des Klägers und seiner Begleiter sehr bedrohlich gewesen sei. Beide Geschädigte hätten bei den Taten starke Gefühle von Angst und Hilflosigkeit erlitten. Der gegen das Auge der einen Geschädigten gesetzte Faustschlag sei zudem als besonders gefährlich einzustufen gewesen, da gewaltsame Einwirkungen im Augenbereich auch mit einer Beeinträchtigung des Sehvermögens einhergehen können. Die extreme Übergriffigkeit des Klägers, der ohne Anlass die beiden Geschädigten unsittlich berührte, fiel ebenfalls ins Gewicht. Für den Kläger sprach, dass er geständig war und sich bei den Geschädigten auch schriftlich entschuldigte (Bl. … f., … ff.).
13
Am 9. April 2015, dem Tag seiner Verurteilung zu einem zweiwöchigen Dauerarrest, gegen 20:00 Uhr verabredete sich die Jugendgruppe der „Afghanen“ („Giesinger“) mit der verfeindeten Jugendgruppe der „Albaner“ („Hasenbergler“), zu welcher sich der Kläger zählte, zu einem Treffen an einem Einkaufszentrum, um auf gewaltsame Art und Weise jeweils Rache für vorhergehende körperliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden Jugendgruppen zu nehmen. Dies wurde der Polizei jedoch im Vorfeld des Treffens bekannt, weshalb ein großes Polizeiaufgebot beim Einkaufszentrum körperliche Angriffe verhindern konnte, und sich die 50 bis 70 anwesenden Jugendlichen wieder verstreuten. Im Anschluss daran verfolgten der Kläger und fünf Begleiter den Geschädigten. Sie hatten die gemeinsame Absicht, den Geschädigten zu verprügeln, um sich auf diese Art und Weise für eine vorhergehende Auseinandersetzung zu rächen. Unter anderem schlugen der Kläger und seine Freunde auf den Geschädigten ein, um diesem nach ihrer Absicht eine „Abreibung zu verpassen“. Nachdem der Geschädigte aufgrund der Schläge zu Boden gegangen war, trat unter anderem der Kläger mit Füßen auf diesen ein. Der Geschädigte erlitt einen Nasenbeinbruch sowie diverse Prellungen und musste an der Nase operiert werden (Bl. … ff.).
14
Am 20. April 2015 gegen 19:30 Uhr trafen der Kläger, sein Bruder und zwei weitere Begleiter am Stachus in München auf die Geschädigten N. und S. Der Bruder des Klägers sprach den Geschädigten N. mit den Worten „Bist du Hikmat?“ an. Nachdem der Geschädigte N. diese Frage bejaht hatte, schlug der Bruder des Klägers ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund dem Geschädigten N. zweimal in dessen Gesicht und traf diesen hierbei am Hals sowie am Hinterkopf. Der Geschädigte N. drehte sich hierauf um und versuchte wegzulaufen. Er wurde durch einen Begleiter des Klägers verfolgt, eingeholt und von diesem ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mit Fäusten in dessen Gesicht geschlagen. Gleichzeitig wollte der Geschädigte S. dem Geschädigten N. zur Hilfe kommen. Deshalb packte der Kläger den S. und schlug ihn von unten mit der Faust gegen dessen Kiefer. Dann versetzte der Bruder des Klägers dem Geschädigten S. ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund einen Faustschlag auf dessen Nase, sodass der Geschädigte S. stark aus der Nase zu bluten begann und den Kopf senkte. Die Geschädigten N. und S. erlitten nicht unerhebliche Schmerzen. Der Geschädigte S. erlitt zudem eine stark blutende Nase (Bl. … ff.).
15
Am 20. Mai 2015 gegen 20:50 Uhr standen der Kläger, sein Bruder sowie fünf weitere Personen aus dem Freundeskreis des Klägers in München an der Straßenecke K. straße/W.straße. Als der Geschädigte mit seinen Freunden vorbeiging, rief der Kläger diesem „Was guckst du so blöd?“ zu. Um nicht zu provozieren, reagierte der Geschädigte hierauf nicht. Der Kläger und seine Freunde verfolgten die Gruppe rund um den Geschädigten jedoch. Hierbei beschimpfte der Kläger den Geschädigten mit dem Wort „Schwuchtel“, um seine Missachtung ihm gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Sodann begann der Kläger, den Geschädigten zu schubsen. Als ein Freund dem Geschädigten zur Hilfe kommen wollte, forderte der Bruder des Klägers diesen auf, sich nicht einzumischen, und blieb hinter dem Kläger stehen, in der Absicht durch seine Präsenz zu verdeutlichen, dass er eingreifen würde, sollte der Geschädigte versuchen, sich in irgendeiner Form zu wehren oder den Kläger anzugreifen. Der Kläger schlug dem Geschädigten sodann ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mit der linken Faust gegen dessen rechtes Ohr. Der Geschädigte erlitt eine Schwellung und Rötung an der rechten Gesichtshälfte, nicht unerhebliche Schmerzen und ein Piepsen im Ohr (Bl. … ff.).
16
Am 12. Juni 2015 gegen 21:00 Uhr stieg der Kläger hinter dem Geschädigten an der … 25 in den Bus 160 ein. Dort fragte der Kläger den Geschädigten, ob dieser Iraner sei. Als dieser bejahte, kam der Kläger sehr nah auf den Geschädigten zu, weshalb dieser den Kläger wegschubste. Daraufhin schlug der Kläger den Geschädigten mehrfach mit der Faust gegen den Kopf und dessen Brust, bis ein anderer Fahrgast dazwischen ging und die beiden trennte. Der Geschädigte erlitt nicht unerhebliche Schmerzen, eine Schädelkontusion und ein Schwindelgefühl (Bl. … ff.).
17
Am 31. Dezember 2015 entwendete der Kläger auf einer Silvesterparty in Unterföhring fünf Ringe, zwei Parfums und drei Armbänder aus der Wohnung der Geschädigten (Bl. … ff.).
18
Am 8. Januar 2016 hatte der Kläger einen Wurfstern in Besitz und führte die Waffe am S1.T. Platz, München außerhalb der eigenen Wohnung mit sich. Hierbei handelte es sich um eine verbotene Waffe (Bl. … ff.).
19
Am 21. Januar 2016 beschimpfte der Kläger den Geschädigten per WhatsApp mit den Worten: „Halt die Schnauze du Opfer“, „ich schieb dir meinen Schwanz in den Mund, du schwuler Hund“, „ich hau dich du Fotze“. Später am Tag schickte er eine Sprachnachricht mit folgendem Inhalt: „Mein Bruder is jetzt Knast, wenn ich dich seh bring ich dich um, ich schwör auf Gott ich bring dich um Digger“ (Bl. … ff.).
20
Am 6. Juni 2016 gegen 16:40 Uhr verabredete sich der Kläger mit dem Geschädigten und forderte diesen zwei Mal dazu auf, ihm sein Mobiltelefon Samsung im Wert von 240 EUR zu überlassen. Diesen Aufforderungen kam der Geschädigte nicht nach. Daraufhin hakte der Kläger den Arm um den Hals des Geschädigten und forderte diesen erneut auf, ihm das Mobiltelefon zu überlassen. Als der Geschädigte dies erneut verweigerte, schlug der Kläger ihm mit der flachen Hand in das Gesicht, um den Geschädigten einzuschüchtern und der Forderung Nachdruck zu verleihen. Hierbei erlitt der Geschädigte Schmerzen im Gesicht und gab auf erneute Aufforderung durch den Kläger sein Mobiltelefon an ihn heraus (Bl. … ff.).
21
Mit Untersuchungshaftbefehl vom 8. Juni 2016 wurde der Kläger vorläufig festgenommen und kam am selben Tag in Untersuchungshaft (Bl. …). Ab dem 8. Juli 2016 wurde er zur Vermeidung der Untersuchungshaft bis zum 29. November 2016 in das Evangelische Jugendfürsorgewerk in … verlegt. Dort wurde dem Kläger eine stationäre Jugendhilfemaßnahme angeboten, vorrangig eine Internatsunterbringung mit dem Ziel der mittleren Reife. Trotz intensiver Bemühungen konnte beim Kläger jedoch keine Motivation für eine stationäre Jugendhilfe erarbeitet werden (Bl. …). Daraufhin wurde ihm die Teilnahme am Lernprojekt des „hpkj“ zum Erwerb eines externen Schulabschlusses ermöglicht. Diese Maßnahme war mit einer Weisungsbetreuung verbunden, die … … vom Verein … … übernahm (Bl. …). Bewährungshilfe erhielt der Kläger von … … im Rahmen des Projektes Rubikon (Bl. …). Zu beiden Betreuern pflegte der Kläger in der Folgezeit einen intensiven Kontakt.
22
Am 29. November 2016 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger aufgrund der Taten vom 9. April 2015, 20. April 2015, 12. Juni 2015, 8. Januar 2016, 21. Januar 2016 und 6. Juni 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung in drei tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen und in einem Fall tateinheitlich mit Beleidigung, tatmehrheitlich mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Besitz in Tateinheit mit Führen einer verbotenen Waffe in Tatmehrheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit Bedrohung sowie in Tatmehrheit mit räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten. Das Gericht setzte die Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung aus (Az.: 1024 Ls 461 Js 140526/15 jug). Das Strafgericht führte im Rahmen der Strafzumessung zu Gunsten des Klägers aus, dass dieser vollumfänglich gestanden und sich bei den Opfern entschuldigt habe. Er habe in der Hauptverhandlung den Eindruck hinterlassen, dass ihm die Straftaten wirklich leidtäten. Zu Lasten des Klägers sprach nach Auffassung des Strafgerichts dessen hohe Anzahl an bereits begangenen Straftaten, insbesondere dessen erfolgte Verurteilung wegen gefährlicher und vorsätzlicher Körperverletzung vom 9. April 2015. Am selben Tag habe er sich an der Schlägerei im Einkaufszentrum beteiligt. Seit dem 9. Dezember 2016 ist die Entscheidung rechtskräftig (Bl. … ff.).
23
Mit Schreiben vom 19. Januar 2017 hörte die Beklagte den Kläger zu beabsichtigten ausländerrechtlichen Maßnahmen an (Bl. …).
24
Der Vater des Klägers trug mit Schreiben vom 26. Januar 2017 vor, dass der Kläger aufgrund der Situation in der beengten Wohnung mit Schimmel, den prekären finanziellen Verhältnissen und den Verbrennungen unter einer schwierigen Kindheit gelitten habe. Er gab an, dass der Kläger mit Hilfe der Bewährungshelfer und den anderen Hilfsangeboten wieder eine berufliche Perspektive und Ansprechpartner für seine persönlichen Probleme habe. Der Kläger besuche täglich ein Lernprojekt und bereite sich auf den Mittelschulabschluss vor. Er mache nun viel Sport und verbringe seine Freizeit mit seiner neuen Freundin ohne seinen alten Freundeskreis. Die Ausweisung würde eine unzumutbare Härte für den Kläger darstellen, da er keine tragenden verwandtschaftlichen Kontakte im Irak habe und die Sprache nicht spreche. Ihm sei es wichtig, von nun an straffrei zu bleiben und sich um seine Ausbildung zu kümmern (Bl. …).
25
Daraufhin verwarnte die Beklagte den Kläger ausländerrechtlich mit Schreiben vom 22. Februar 2017 und wies darauf hin, dass bei erneuter entsprechend schwerer Straffälligkeit mit einer Ausweisung zu rechnen sei (Bl. …).
26
Der Kläger traf, ausweislich der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München I vom 5. April 2017, am 28. März (sic!) 2017 (vermutlich gemeint: Februar) mit seinen Begleitern im Bereich des … in München auf den späteren Geschädigten und äußerte diesem gegenüber wahrheitswidrig, dessen neue Freundin „…“ sei seine Cousine. Entgegen des Ratschlags seiner Begleiter forderte der Kläger den späteren Geschädigten dazu auf, mit ihm in ein nah gelegenes Müllhäuschen zu gehen, was die beiden dann auch taten. Dort äußerte der Kläger gegenüber dem Geschädigten, dass dieser nun zwei Möglichkeiten habe: Entweder er solle ab sofort keinen Kontakt mehr zur Cousine des Klägers haben und ihm alles geben, was er habe oder der Kläger werde ihn auf der Stelle totschlagen. Aus Angst übergab der Geschädigte dem Angeklagten 14 Euro Bargeld sowie sein Mobiltelefon Apple Iphone 7 im Wert von ca. 860 Euro. Der Kläger nahm die Gegenstände an sich, obwohl er wusste, dass er darauf keinen Anspruch hatte. Bevor er das Müllhäuschen wieder verließ, äußerte er gegenüber dem Geschädigten, dass er dessen Familie umbringen werde, falls dieser zur Polizei gehe. Der Kläger versuchte anschließend, das Mobiltelefon des Geschädigten in Geschäften am Hauptbahnhof in München zu veräußern. Dies gelang ihm jedoch nicht, da der Geschädigte das Mobiltelefon vor der Übergabe an den Kläger - von diesem unbemerkt - zurückgesetzt hatte und die Ankäufer die Nennung der Apple ID forderten, wozu der Kläger nicht in der Lage war (Bl. … ff.).
27
Ab dem 1. März 2021 befand sich der Kläger aufgrund des Untersuchungshaftbefehls des Amtsgerichts München vom 1. März 2021 (Gz.: ER VIII Gs 642/17 jug) in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt München (Bl. …).
28
Mit Urteil vom 12. Juli 2017 (Az.: 1034 Ls 461 Js 120356/17) verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen der Taten vom 28. März (sic!) 2017 aufgrund räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Bedrohung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts München vom 29. November 2016 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Das Amtsgericht attestierte dem Kläger eine erhebliche kriminelle Energie. Dass er die Taten in einer Zeit intensiver Betreuung begangen habe, zeuge von seinen tief verfestigten kriminogenen Charakterzügen. Er sei in seiner sozialen Bezugsgruppe äußerst beliebt und angesehen gewesen, sodass er es nicht nötig gehabt habe, sich durch die Straftat soziale Geltung zu verschaffen. Ein Ursachenzusammenhang mit der „peer-group“ könne ausgeschlossen werden, da die Freunde des Klägers diesem sogar dazu geraten hätten, den Geschädigten in Ruhe zu lassen. Zur Einwirkung auf den Jugendlichen sei nun ein längerfristiger Jugendstrafvollzug unerlässlich. Zu Gunsten des Klägers spreche die ausdrückliche Entschuldigung und dass er das Tatgeschehen im Wesentlichen eingeräumt habe. Positiv falle auch ins Gewicht, dass der Kläger entgegen seiner anfänglichen Behauptung, er sei zum Tatzeitpunkt alkoholisiert gewesen, im Laufe der Verhandlung offengelegt habe, dass er zum Tatzeitpunkt nicht unter Alkoholeinfluss gestanden habe. Strafmildernd wirke sich ebenfalls aus, dass der Geschädigte sein Mobiltelefon unbeschädigt zurückerhalten habe. Zu Lasten des Klägers wertete das Gericht, dass er bereits vielfach und auch einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Zudem habe er die hiesige Straftat nur drei Monate nach der Verurteilung am 29. November 2016 und trotz laufender Bewährung, in deren Rahmen ihm ein umfassendes Hilfsangebot zuteilwurde, begangen. Strafschärfend wirkten sich auch der erhebliche Wert des Mobiltelefons, die psychische Beeinträchtigung des Geschädigten über die Tatsituation hinaus, sowie die Untermauerung des Herausgabeverlangens mit konkreten Bedrohungen gegenüber dem Geschädigten und dessen Familie aus. Wegen der weiteren Urteilsgründe wird auf das Urteil Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO) (Bl. … ff.).
29
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil vom 12. Juli 2017 wurde mit Urteil des LG München I vom 28. November 2017, rechtskräftig seit 6. Dezember 2017, verworfen (Az.: 10 J Ns 461 Js 120356/17). Das Landgericht führte aus, die Taten des Klägers, die den Urteilen vom 9. April 2015 und vom 29. November 2016 zugrunde gelegen hatten, belegten eine erhebliche kriminelle Energie und Gewaltbereitschaft des Klägers. Motiv des Klägers sei gewesen, seine Person und seine Macht in den Vordergrund zu stellen. Die Straftat sei die Fortführung und Steigerung der bereits dem Urteil vom 29. November 2016 zugrundeliegenden kriminellen Verhaltensweisen. Das Verhalten „in der Haft“ lasse positive Ansätze erkennen, dennoch seien verfestigte charakterliche Mängel erkennbar, sodass eine längere Jugendstrafe unerlässlich sei. Für den Kläger spreche, dass er sich auch in der Berufungsverhandlung erneut entschuldigt, dem Geschädigten eine finanzielle Entschädigung angeboten und dass der Geschädigte das Mobiltelefon durch die Polizei unbeschädigt zurückerhalten habe. Zu Lasten des Klägers sei zu werten, dass dieser bereits vielfach und einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Negativ bewertete das Gericht auch die hohe Rückfallgeschwindigkeit, da der Kläger die Tat noch während der laufenden Bewährungszeit begangen habe. Darüber hinaus seien der hohe Wert des Mobiltelefons und die psychischen Folgen beim Geschädigten, der nach der Tat massive Angst gehabt habe, zu berücksichtigen (Bl. … ff.).
30
Die Beklagte gab dem Kläger mit Schreiben vom 1. Februar 2018 die Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Ausweisung und Abschiebung aus dem Bundesgebiet (Bl. …).
31
Mit Schreiben vom 2. März 2018 nahm die Klägerbevollmächtigte Stellung zu den beabsichtigten Maßnahmen der Ausländerbehörde. Sie wies darauf hin, dass der Kläger keinerlei Bezug zu seinem Heimatland Irak habe. Er habe dort außer seiner pflegebedürftigen Großmutter keinerlei Familie und spreche kein Arabisch. Aufgrund seiner erlittenen Verbrühungen sei er nachhaltig gesundheitlich eingeschränkt und leide immer noch unter den Folgen. Der Kläger könne seinen Mund nicht in normaler Weise bewegen, sodass von einer Behinderung auszugehen sei. Die erfolgte Inhaftierung habe einen Änderungsprozess beim Kläger eingeleitet. Dieser werde keinerlei Straftaten mehr begehen. Der Kläger habe in der Haft seinen Mittelschulabschluss gemacht und bereite sich auf den externen qualifizierten Mittelschulabschluss vor. Der Kläger legte handschriftlich dar, dass er seine Taten bereue und beabsichtige, in der Zukunft als Rettungssanitäter oder Altenpfleger zu arbeiten (Bl. 1032).
32
Mit Bescheid vom 4. Mai 2018, der Bevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis ausweislich des Faxsendevermerks am 4. Mai 2018 zugestellt, wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), befristete unter der Bedingung des Nachweises von Straffreiheit das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf fünf Jahre, im Übrigen auf sieben Jahre ab Ausreise (Nr. 2) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak oder einen anderen aufnahmebereiten oder zu seiner Rücknahme verpflichteten Staat an, sofern die mit Bescheid vom 21. Juni 2000 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen werde (Nr. 3). Die Beklagte legte ihrer Entscheidung zu Grunde, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine Gefahr für Sicherheit und Ordnung darstelle. Der Kläger sei bereits kurz nach Eintritt der Strafmündigkeit durch delinquentes und aggressives Verhalten aufgefallen und habe sich in seiner Strafffälligkeit kontinuierlich gesteigert. Die Strafffälligkeit sei nicht nur Auswuchs jugendlicher Unreife, sondern deutlicher Ausdruck der allgemeinen Persönlichkeitsstruktur des Klägers. Er verfüge über eine verfestigte kriminelle Persönlichkeit mit erhöhtem Aggressionspotential. Die erste Konfrontation mit der Justiz habe den Kläger keineswegs beeindruckt. Dieser habe ab 2015 seine Deliktsfrequenz erheblich gesteigert und angefangen, nahezu das gesamte Spektrum an Straftaten abzudecken. Das Verhalten des Klägers zeige, dass dieser nicht gewillt sei, in Deutschland ein gesetzeskonformes Leben ohne Straftaten zu führen. Die Begehung von Straftaten sei für den Kläger zur Gewohnheit geworden, sodass ihn weder Unterstützungsmaßnahmen noch drohende Sanktionen beeinflussen würden. Ein Ursachenzusammenhang mit einer Beeinflussung durch seine Freunde könne ausgeschlossen werden, da diese ihm zum Teil sogar von den Taten abgeraten hätten. Der Kläger habe keinerlei realistische oder konkrete Perspektive, um seine materiellen Bedürfnisse zu stillen. Um eine Ausbildungsstelle habe er sich nie konkret bemüht. Es liege nahe, dass er erneut straffällig werde, um seinem erhöhten Geldbedarf gerecht zu werden. Seine Strafffälligkeit werde aber auch durch sein Dominanzstreben beeinflusst. Er habe sich stets unterlegene Opfer ausgesucht oder aus einer größeren Gruppe heraus agiert. Die körperliche oder psychische Integrität der Opfer spiele für ihn keine Rolle. Er nehme innerhalb seines Freundeskreises eine Führungsrolle ein und werde trotz seiner Straffälligkeit von diesem nachhaltig unterstützt. Auch das weitgehend beanstandungsfreie Verhalten in Haft ändere nichts an der bestehenden Wiederholungsgefahr. Das habe auch das „tadellose“ Verhalten in der letzten Untersuchungshaft gezeigt, welches aber zu keiner Veränderung im Leben des Klägers geführt habe. Seine gegenüber der Ausländerbehörde geäußerte Reue überzeuge nicht, da er sich auch in der Vergangenheit immer wieder entschuldigt habe. Der Kläger habe noch im Rahmen des Ermittlungsverfahrens keinerlei Verantwortung für sein Handeln übernommen, da er beispielsweise versucht habe, ein Alkoholproblem oder eine Spielsucht zu fingieren und seinen Freund für die Taten verantwortlich zu machen. Die Ausführungen zu seiner schwierigen Kindheit wirkten wenig authentisch. Gleiches gelte auch dafür, dass er angebe, seine Verletzungen am Hals seien Ursache für sein Verhalten, obgleich die Tathintergründe deutlich belegen, dass sein Freundeskreis ihn stets unterstützt habe. Die Straftaten lägen im Bereich der Schwerkriminalität und es bestehe eine erhöhte Wiederholungsgefahr. Als Ergebnis der Gesamtabwägung ergebe sich, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege und die Ausweisung unerlässlich sei. Es gehe um die Bekämpfung von Schwerkriminalität. Die Ausweisung verfolge spezialpräventive Gesichtspunkte. Im Rahmen des Bleibeinteresses sei berücksichtigt worden, dass es sich beim Kläger um einen faktischen Inländer mit Mittelschulabschluss handele. Die Integration in Deutschland stütze sich jedoch allein auf seinen langen Aufenthalt. Im Übrigen habe keine nachhaltige Integration stattgefunden. Eine Ausbildung habe der Kläger ebenso nicht abschließen können. Er beherrsche die kurdische Sprache, könne sich daher im Irak verständigen. Seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt seien im Irak und in der Bundesrepublik gleichermaßen schlecht. Im Bundesgebiet erwarte den Kläger kein positiver Empfangsraum. Er komme in das gleiche familiäre Umfeld zurück, in dem er seit Jahren Straftaten begehe. Der familiäre Rückhalt sei offenbar nicht besonders tragfähig. Seine Eltern hätten einer Internatsunterbringung nur widerwillig zugestimmt und sein Vater und sein Bruder indirekt versucht, Zeugen zu beeinflussen. Es sei zu befürchten, dass der Kläger bei Rückkehr in sein Umfeld wieder Straftaten begehen werde. Die Verbrennung am Hals mitsamt den Narben stelle ein lediglich ästhetisches Problem dar, das den Kläger im Alltag nur bedingt beeinträchtige. Die Verhinderung weiterer Straftaten durch den Kläger entspreche einem besonders dringenden sozialen Bedürfnis. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO) (Bl. … ff.).
33
Hiergegen ließ der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 9. Mai 2018, bei Gericht eingegangen am 16. Mai 2018, unter Ankündigung einer gesonderten Begründung Klage erheben und beantragen,
34
den Bescheid der Beklagten aufzuheben.
35
Mit Beschluss vom 15. Mai 2018 setzte das Amtsgericht Neuburg a.d. Donau den Rest der Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten zum 7. Juli 2018 zur Bewährung aus. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dem Kläger wurde u.a. die Weisung erteilt, sich umgehend um eine Arbeitsaufnahme zu bemühen und eine geregelte Arbeit aufzunehmen, sowie angeordnet Wohnung bei seinen Eltern zu nehmen und sich bei der Bewährungshilfe zu melden und deren Anordnungen und Weisungen Folge zu leisten, an einer Berufsorientierungsmaßnahme teilzunehmen und bis zur Teilnahme an ebendieser 20 Stunden gemeinnützige Arbeit pro Woche nach Einteilung der Brücke München e.V. zu leisten (Bl. 1046).
36
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 19. Juni 2018,
37
die Klage abzuweisen.
38
Mit Schriftsatz vom 21. Juni 2018 legte die Beklagte die Akten vor (Bl. …).
39
Der Kläger wurde am 5. Juli 2018 aus der Strafhaft entlassen.
40
Mit Schriftsatz vom 6. Juli 2018 begründete die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage im Wesentlichen wie folgt: Mit Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018 sei der Rest der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 12. Juli 2017 zur Bewährung ausgesetzt worden mit der Begründung, dass der Kläger keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr darstelle. Es sei nicht zu erwarten, dass er weitere Straftaten begehen werde. Es überwiege daher das Bleibeinteresse des Klägers, insbesondere aufgrund der familiären Umstände (Bl. …).
41
Mit Schreiben vom 13. August 2018 erklärte eine Mitarbeiterin des Vereins … …, der für den Kläger zuständigen Stelle zur Ableistung der angewiesenen 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit pro Woche, dass dessen Tätigkeit dort bereits am 6. August 2018 wegen mangelnder Zuverlässigkeit des Klägers bei der Termineinhaltung beendet worden sei (Strafakte 1034 BÜR 58/18 jug (Bl. …)).
42
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers legte mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2018 dar, dass der Kläger nun eine außerbetriebliche Berufsausbildung absolviere. Diese werde vom Beruflichen Fortbildungszentrum der Bayerischen Wirtschaft (bfz) in Zusammenarbeit mit dem Jobcenter München durchgeführt. Dabei werde der Kläger zum Kaufmann für Büromanagement ausgebildet.
43
Mit Arztbrief vom … … … attestierte der plastische Chirurg … … … dem Kläger „massive Kontrakturen des Gesichts mit funktionellen Einschränkungen“. Er empfahl erneute Narbenrevisionen im Sinne von Kontrakturlösungen. Die Eingriffe könnten „ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen“ (Bl. … ff.).
44
Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2019 schilderte die Prozessbevollmächtigte des Klägers, dass dieser seine erste betriebliche Ausbildungsphase erfolgreich beendet habe. Dabei sei der Kläger von Seiten der bfz positiv bewertet worden (Bl. …). Der Kläger sei aufgrund seiner Narben am Hals weiter in Behandlung und bedürfe auch in Zukunft weiterer Eingriffe. Im Herkunftsland Irak sei eine derartige Behandlung nicht möglich (Bl. … ff.).
45
Im September 2019 brach der Kläger seine außerberufliche Ausbildung bei der bfz ab (Strafakte 1034 BÜR 58/18 jug (Bl. …)).
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Am 1. September 2019 begann der Kläger eine Ausbildung zum Verkäufer bei der Fa. …, Filiale … … …, 8... M. Laut Vertrag beträgt die Ausbildungszeit 24 Monate (Strafakte 1034 BÜR 58/18 jug (Bl. …)). Im Rahmen der Ausbildung kam es am 15. November 2019 zu einem Zwischenfall mit einem Kollegen, bei welchem der Kläger diesen bedroht haben soll (Strafakte 1034 Ls Js 147184/20 jug (Bl. … ff)). Ausweislich der Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2021 einigte er sich mit seinem Arbeitgeber auf die Aufhebung des Ausbildungsverhältnisses nach zwölf Monaten.
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Am 31. August 2020 klagte die Staatsanwaltschaft München I den Kläger wegen Diebstahls und Bedrohung an (1034 Ls Js 147184/20 jug (Bl. ...)).
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Ab 1. Februar 2021 setzte der Kläger seine Ausbildung zum Verkäufer bei einer Tankstelle fort. Die Ausbildung dauert insgesamt 24 Monate. Die bereits absolvierten zwölf Monate bei der Fa. … kann sich der Kläger anrechnen lassen.
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Mit Schreiben vom 22. Februar 2021 stellte die Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Sachbeschädigung (Az.: 262 Js 212 571/20) gemäß § 154 Abs. 1 StPO ein (Bl. …).
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In der mündlichen Verhandlung erklärte der Vertreter der Beklagten, dass das letzte Ausbildungsverhältnis vom Arbeitgeber des Klägers gekündigt worden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt das Gericht Bezug auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2021, die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten und die beigezogenen Strafakten (Az.: 262 Js 212571/20; 1034 Ls 461 Js 147184/20 jug; 1034 BÜR 58/18 jug).

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, weil sie unbegründet ist.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids, weil dieser im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 12) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO).
I.
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Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig, weil dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (1.) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommene Abwägung (2.) der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
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Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung des Bescheids und sieht insofern von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Lediglich ergänzend gilt Folgendes:
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1. Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gefährdet zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
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Bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung haben die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei dieser Gefahrenprognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 21.11.2017 - 10 B 17.818, BeckRS 2017, 134588; BayVGH, B.v. 8.11.2017 - 10 ZB 16.2199 - juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 6.6.2017 - 10 ZB 17.588 - juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 9.5.2017 - 10 ZB 16.57 - juris Rn. 15).
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Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers vom 12. Juli 2017 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten unter Einbeziehung des Urteils vom 29. November 2016 wegen räuberischer Erpressung und Bedrohung. Das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und das Eigentum aus Art. 14 GG sind hohe Rechtsgüter, deren Verletzung schwer ins Gewicht fällt. Dabei wurde der Kläger in noch offener Bewährung rückfällig. Eine Wiederholungsgefahr besteht insbesondere, da der Kläger bereits eine Vielzahl von einschlägigen Straftaten begangen hat (1.1.), strafrechtliche Sanktionen und Bewährungsauflagen ihn nicht von weiteren Straftaten abhalten konnten (1.2.), nach Auffassung des Gerichts - abweichend vom Strafaussetzungsbeschluss vom 15. Mai 2018 - vom Aufenthalt des Klägers weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht (1.3.).
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1.1. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten, ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe.
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Der Kläger hat seit dem Jahr 2013 eine Vielzahl von Straftaten, vor allem Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte, begangen, wobei er sich bis zur Verurteilung vom 12. Juli 2017 in seiner Straffälligkeit kontinuierlich gesteigert hat. Insbesondere wurde der Kläger bereits mit Urteil des Amtsgerichts München vom 29. November 2016 wegen einer räuberischen Erpressung verurteilt, bei welcher der Kläger den Geschädigten unter Einsatz von Gewalt nötigte, das Handy herauszugeben. Jegliche Unterstützung von Seiten der Jugendhilfe oder des Bewährungshelfers beeinflussten den Kläger nicht nachhaltig im positiven Sinne. Zu weitergehenden Maßnahmen der Jugendhilfe, wie einer Internatsunterbringung, war der Kläger nicht bereit. Dieser zeigt, dass er weder gewillt noch in der Lage ist, in Zukunft straffrei in der Bundesrepublik zu leben.
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1.2. Der Kläger ändert sein Verhalten auch nicht unter dem Eindruck von strafrechtlichen Sanktionen. Weder ein zweiwöchiger Arrest aufgrund des Urteils vom 9. April 2015, die erlittene Untersuchungshaft vom 8. Juni 2016 bis zum 8. Juli 2016, noch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung mit Urteil vom 29. November 2016 haben den Kläger von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten. Der Kläger wurde trotz allem in offener Bewährung innerhalb von vier Monaten nach der letzten Verurteilung am 28. März 2017 erneut straffällig. Dies geschah trotz engmaschiger Bewährungsauflagen und der Betreuung durch seinen Weisungsbetreuer sowie seinem Bewährungshelfer, die ihm ein positives Verhalten attestierten.
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Das Verhalten während der Haft steht der Annahme eine Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Das klägerische Verhalten in vorangegangener Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvermeidung gab keinen Anlass zu Tadel, was jedoch nicht zu einer dauerhaften Verhaltensänderung beim Kläger führte. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, war der Kläger während der Haft naturgemäß nicht in der Lage, weitere derartige Straftaten zu begehen. Nach Entlassung aus der Haft erfüllte der Kläger bereits die Weisung Nr. 3, Punkt 4 aus dem Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018 nicht, da er nach Haftentlassung die geforderten 20 Sozialstunden pro Woche nicht ableistete. Es zeigt sich, dass der Kläger ohne strenge Beaufsichtigung in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Eine dauerhafte Änderung seines Verhaltens ist nicht zu erwarten.
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1.3. Vor dem dargestellten Hintergrund sieht das Gericht - abweichend vom Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018, den Rest der Einheitsjugendstrafe gemäß § 88 JGG zur Bewährung auszusetzen, da dies im Hinblick auf die Entwicklung des Klägers und des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne - weiterhin eine vom Aufenthalt des Klägers ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Insbesondere besteht die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum weiter fort.
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Das Gericht ist bei der Gefahrenprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht Neuburg a.d. Donau bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung getroffene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB, der im Wesentlichen dem § 88 JGG entspricht, von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris). Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - NVwZ-RR 2013, 435; BayVGH, U. v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 34; BeckOK MigrR/Katzer, AufenthG, § 53 Rn. 22). Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgewichen wird (BayVGH, B.v. 27.9.2019 - 10 ZB 19.1781 - juris Rn. 11). Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB (bzw. § 88 JGG) geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Betroffenen während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - NVwZ-RR 2013, 435).
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Vorliegend kann auch unter Beachtung der Entscheidung des Gerichts Neuburg a.d. Donau nicht der Schluss gezogen werden, dass der Kläger keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundespublik darstellt. Unter Berücksichtigung des längeren Prognosezeitraums über die Bewährungszeit hinaus und des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes des § 88 JGG, der beinhaltet auch ein gewisses Restrisiko zuzulassen (BeckOK JGG/Kilian, JGG § 88 Rn. 14.1), ergibt sich ausländerrechtlich eine abweichende Prognose, dahingehend, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr nicht entfallen ist. Die Beklagte hat zutreffend angenommen, dass der Kläger, der strafrechtlich erstmals 2014 in Erscheinung in Erscheinung getreten ist, über eine verfestigte kriminelle Persönlichkeit verfügt. Die hohe Anzahl an bereits begangenen Straftaten (s.o.) und die ausbleibende Verhaltensänderung unter Eindruck von strafrechtlichen Sanktionen (s.o.) streiten für ein Fortbestehen der Gefahr durch den Kläger.
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Über dies kommt einer Aussetzungsentscheidung hinsichtlich der Reststrafe nur vermindertes Gewicht zu, wenn sie nur rudimentär erkennen lässt, auf welcher Tatsachengrundlage sie beruht und ihre Begründung sich in einer pauschalen Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erschöpft (OVG NRW, B.v.14.8.2019 - 18 A 1127/16 - juris). Das Amtsgericht Neuburg a.d. Donau macht im Beschluss vom 18. Mai 2018 keine weiteren Angaben, sondern begründet die Entscheidung ausschließlich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 88 JGG. Objektiv nachprüfbare Gründe sind im Beschluss nicht enthalten. Eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Gesichtspunkten fehlt. Schon daher ist diese Entscheidung nur mit verminderter Bedeutung zu berücksichtigen. Außerdem trifft das Gericht seine Entscheidung auf einer aktuelleren und breiteren Tatsachengrundlage.
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Entgegen der Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2021, wurde dem Kläger im Rahmen seiner erst zum 1. Februar 2021 begonnenen Ausbildungsstelle zum Verkäufer bei einer Tankstelle bereits gekündigt. Der Kläger verschwieg dies, als er auf Nachfrage des Beklagtenvertreters, wie seine Ausbildung laufe, antwortete, diese laufe „sehr gut“. Auch bei seiner vorigen Ausbildungsstelle, der Fa. …, … … 8.M, blieb der Kläger nicht für die vorgesehene Ausbildungszeit von 24 Monaten, sondern schied nach zwölf Monaten aus. Dort kam es zu einem Konflikt mit einem Kollegen, weswegen die Staatsanwaltschaft u.a. Anklage wegen Bedrohung gemäß § 241 StGB erhob (Az.: 1034 Ls 461 Js 147184/20 jug). Im Rahmen der polizeilichen Zeugenvernehmung vom 7. April 2020 gab der damalige Kollege des Klägers an, der Kläger habe ihn am Kragen gepackt und mit der anderen Hand ein Cutter-Messer mehrmals auf- und wieder zugemacht.
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2. Die Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Zu Lasten des Klägers spricht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (2.1.), zu seinen Gunsten ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse (2.2.). Insgesamt überwiegt im Rahmen der Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausweisung gegenüber dem Interesse des Klägers an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, § 53 Abs. 1 AufenthG (2.3.).
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2.1. Im Falle des Klägers wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, da er zum einen wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten mit Urteil vom 12. Juli 2017 rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und er zum anderen, durch dieselbe Verurteilung, zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit verurteilt worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).
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Ferner wiegt das Ausweisungsinteresse auch schwer, da der Kläger durch Urteil vom 12. Juli 2017 zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde, (§ 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) und zudem mit gleichem Urteil zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde (§ 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
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2.2. Demgegenüber wiegt auch das persönliche Bleibeinteresse des Klägers besonders schwer, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich schon seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
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Der Kläger weist auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf, da er als Minderjähriger in das Bundesgebiet einreiste und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
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Zudem wiegt das klägerische Bleibeinteresse schwer, da der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
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2.3. Unter Berücksichtigung der weiteren relevanten Umstände fällt die Abwägung im Rahmen einer Gesamtwürdigung letztlich zulasten des Klägers aus
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2.3.1. Das klägerische Bleibeinteresse wird dadurch abgeschwächt, dass eine gelungene Integration des Klägers in die Rechts- und Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht stattgefunden hat. Indem der Kläger wiederholt straffällig wurde und damit letztlich zum Ausdruck brachte, dass er sich an die hiesige Vorstellung von Recht und Ordnung nicht zu halten vermag, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er vorhat, sich in Zukunft rechtstreu zu verhalten. Besonders negativ ins Gewicht fallen die hohe Rückfallgeschwindigkeit des Klägers und, dass selbst die Strafaussetzung zur Bewährung diesen nicht davon abhalten konnte, weitere schwere Straftaten zu begehen.
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2.3.2. Auch wirtschaftlich hat sich der Kläger nicht nachhaltig in der Bundesrepublik integriert. Abgesehen von einem Mittelschulabschluss hat er keine abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen, die ihn für den Arbeitsmarkt qualifiziert. Der Kläger konnte nicht nachweisen, dass er in der Lage ist, über eine längere Zeit einer geregelten Tätigkeit nachzugehen, um das Ziel der Ausbildung zu erreichen. So beendete er zunächst vorzeitig seine außerbetriebliche Ausbildung bei der bfz im September 2019. Daraufhin begann er eine Ausbildung als Verkäufer bei der Firma … am 1. September 2019, die er wiederum nach ca. einem Jahr beendete. Zum 1. Februar 2021 nahm der Kläger eine neue Ausbildung bei einer Tankstelle auf, bei der ihm im Mai 2021 gekündigt wurde. Die Abbrüche lassen auf eine unstete Erwerbsbiographie schließen. Sie vermitteln nicht das Bild einer nachhaltigen wirtschaftlichen Integration. Der Kläger vermag es nicht, unter Beachtung der entsprechenden Regeln, über längere Zeit einer geordneten Tätigkeit nachzugehen. Negativ fällt hier auch ins Gewicht, dass es selbst im Rahmen seiner Ausbildung bei der Fa. … Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen wegen Bedrohung gab (Az.: 461 Js 147184/20 1034 Ls).
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2.3.3. Die Bindung des inzwischen volljährigen Klägers zu seinen Eltern, bei denen er nach wie vor lebt, und sein durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Privatleben streiten für einen weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet. Weiter fließt zu dessen Gunsten ein, dass er einen Mittelschulabschluss besitzt. Vor allem spricht für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet bei dieser Abwägung, dass dieser sich seit 2000 im Bundesgebiet aufhält und sein Herkunftsland bereits im Alter von sieben Monaten zusammen mit seiner Familie verließ. Auch die Eltern und Geschwister des Klägers leben seitdem in der Bundesrepublik. Damit ist er als faktischer Inländer einzustufen. Faktische Inländer sind Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind. Sie sind nur noch über das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbunden (BeckOK AuslR/Fleuß AufenthG, § 53 Rn. 87). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener beziehungsweise als Kleinkinder in das Bundesgebiet eingereister Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessener Weise Rechnung zu tragen (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 Trabelsi - 41548/06 - NJOZ 2012, 830; BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 230, Rn. 19).
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2.3.4. Die Verletzungen am Halsbereich des Klägers samt der notwendigen medizinischen Behandlung führen nicht dazu, dass die privaten Bleibeinteressen des Klägers überwiegen. Nach dem Arztbrief des behandelnden Arztes vom … … … ist bereits eine deutliche Besserung der Befunde erreicht worden. Er empfahl eine weitere Behandlung über ein bis zwei Jahre, welche zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits verstrichen sind. Der Kläger entschied sich nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung gegen die Durchführung der angeratenen Operationen im Jahr 2019, sodass eine dringende Behandlungsnotwendigkeit nicht anzunehmen ist. Eine psychische Beeinträchtigung des Klägers, die dessen Fähigkeit zur Integration im Arbeitsleben beeinträchtigen könnte, ist vorliegend nicht erkennbar. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung war der Kläger mit 14 bis 15 Jahren in psychologischer Behandlung, seitdem aber nicht mehr.
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2.3.5. Es ist dem Kläger zumutbar, aus dem Irak Kontakt zu seiner Familie über Telefon, Briefe und Internet zu halten. Zu Personen in seinem Heimatland Irak hat der Kläger nach seinen Angaben zwar keine relevanten Beziehungen mehr, jedoch spricht er nach eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung Kurdisch. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie hat und nunmehr volljährig ist, sodass er nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist.
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2.3.6. Vor diesem Hintergrund fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung, selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgeht, dass er faktischer Inländer ist, zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher zur Wahrung des mit ihr verfolgten Zwecks verhältnismäßig.
II.
82
Die von der Beklagten verfügte Befristung der Ausweisung auf fünf Jahre unter der Bedingung des Nachweises der Straffreiheit und auf sieben Jahre im Übrigen ist rechtlich nicht zu beanstanden, da Ermessensfehler nicht ersichtlich sind, § 114 VwGO.
83
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG. Über die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist hat die Beklagte gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Sie hat dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu tun und darf hierbei fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, § 11 Abs. 5 AufenthG. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes sowie der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Hierbei bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 2 C 19.11 - juris Rn. 42). Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer Straf- oder Drogenfreiheit, § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.
84
Gemessen an diesen Vorgaben erweist sich die durch den Nachweis der Straffreiheit bedingte Befristung auf fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise als ermessensfehlerfrei. Die Befristung auf fünf Jahre ist angemessen. Auch liegen die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG vor.
85
Auch die bei Nichterfüllung der Bedingung festgesetzte Frist von sieben Jahren ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch diesbezüglich erweist sich die Befristung als ermessensfehlerfrei.
III.
86
Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 59 Abs. 1 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
IV.
87
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
V.
88
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.