Inhalt

SG Landshut, Endurteil v. 30.04.2021 – S 16 AS 387/19
Titel:

Keine Rückforderung von SGB II-Leistungen nach irrtümlicher Zahlung von steuerrechtlichem Kindergeld

Normenketten:
SGB X § 103 Abs. 1, § 104, § 107, § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3, § 48 Abs. 1 S. 1
SGB II § 11 Abs. 1, § 40 Abs. 2 Nr. 3,
EStG § 74 Abs. 2
AO § 37 Abs. 2 S. 1, § 47, § 218 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Als Einkommen i. S. d. § 11 Abs. 1 SGB II sind nur solche Einnahmen anzusehen, die einen Zuwachs von Mitteln bedeuten, der dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung verbleibt. Entsteht eine Verpflichtung zur Rückzahlung einer Einnahme erst nach dem Monat des Zuflusses, bleibt es für den Zuflussmonat bei der Berücksichtigung als Einkommen (vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R). (Rn. 28)
2. Zahlt die Familienkasse irrtümlich steuerrechtliches Kindergeld an den SGB II-Leistungsbezieher nach, obwohl der Anspruch wegen eines bestehenden Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers bereits als erfüllt gilt, handelt es sich hierbei nicht um Einkommen, da die Einnahme unmittelbar mit einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung belastet ist. Dies gilt auch, wenn der Rückforderungsanspruch von der Familienkasse erst nach dem Monat des Zuflusses mit Bescheid geltend gemacht wird. (Rn. 39 – 40)
3. Für die Bösgläubigkeit i. S. d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist es ausreichend, wenn der Leistungsempfänger im Rahmen einer sog. Parallelwertung in der Laiensphäre wusste oder wissen musste, dass ihm die zuerkannte Leistung so nicht zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 24.06.2020 - B 4 AS 10/20 R). (Rn. 46)
4. Die Rechtswidrigkeit eines Bewilligungsbescheids, in dem der Grundsicherungsträger entgegen der gesetzlichen Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II Kindergeld nicht als Einkommen des Kindes, sondern des Kindergeldberechtigten berücksichtigt hat, muss ein Leistungsbezieher jedenfalls ohne einen vorherigen, eindeutigen Hinweis zur Rechtslage nicht erkennen. (Rn. 47)
Schlagworte:
Einkommensberücksichtigung, Grobe Fahrlässigkeit, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Irrtümliche Kindergeldnachzahlung trotz Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers, kein wertmäßiger Zuwachs wegen Rückzahlungsverpflichtung, Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes, Verletzung der Sorgfaltspflicht, Vertrauensschutz, Ermessen, Erstattungsbescheid
Fundstelle:
BeckRS 2021, 21036

Tenor

I. Der Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Juni bis November 2018 und deren Rückforderung.
2
Die im Dezember 2017 geborene Klägerin wohnte zusammen mit ihrer Mutter in einer Wohnung, für die eine monatliche Gesamtmiete von 497 Euro zu zahlen war. Für Dezember 2017 bis März 2018 bewilligte ihnen der Beklagte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten und ohne Anrechnung von Einkommen. Im Januar 2018 meldete der Beklagte bei der beigeladenen Familienkasse vor dem Hintergrund eines etwaigen Anspruchs auf Kindergeld einen Erstattungsanspruch an. Für die Zeit von April bis September 2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter zunächst vorläufig Leistungen, wiederum ohne Anrechnung von Einkommen.
3
Mit Schreiben vom 08.06.2018 teilte die Beigeladene dem Beklagten mit, dass für die Klägerin für Dezember 2017 ein Anspruch auf Kindergeld i.H.v. 192 Euro bestehe, ab Januar 2018 i.H.v. 194 Euro monatlich, woraufhin der Beklagte den Erstattungsanspruch für die Zeit von Dezember bis Juni auf insgesamt 1.356 Euro bezifferte und geltend machte. Das entsprechende Schreiben ging am 14.06.2018 bei der Beigeladenen ein. Mit Bescheid vom 19.06.2018 setzte die Beigeladene für die Klägerin entsprechend Kindergeld auf steuerrechtlicher Grundlage nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) fest. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass der Anspruch der Mutter der Klägerin gegenüber für den Zeitraum von Dezember 2017 bis einschließlich Juni 2018 i.H.v. 1.356 Euro als erfüllt gelte, weil der Beklagte für den gleichen Zeitraum Kindergeld vorgeleistet habe. Für den genannten Zeitraum würden keine Leistungen ausgezahlt.
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Ungeachtet dessen zahlte die Beigeladene nach Erlass des Bescheides dennoch Kindergeld rückwirkend ab Dezember 2017 an die Mutter der Klägerin aus. Der Betrag i.H.v. 1.356 Euro wurde Ende Juni 2018 auf deren Girokonto gutgeschrieben.
5
Mit Bescheid vom 22.08.2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter für die Zeit vom 01.04.2018 bis 30.09.2018 abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dabei wurden die tatsächlichen Mietkosten als Bedarfe für die Unterkunft und Heizung anerkannt. Ab Juli wurde bei der Mutter der Klägerin Kindergeld i.H.v. 194 Euro als eigenes Einkommen angesetzt und nach Bereinigung um die 30 Euro-Pauschale des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) und horizontaler Verteilung anteilig i.H.v. 72,11 Euro bei der Klägerin als Einkommen berücksichtigt. Der Klägerin wurden auf Grundlage dieser Berechnung für April bis Juni 2018 Leistungen i.H.v. 488,50 Euro monatlich bewilligt, für Juli bis September i.H.v. 416,39 Euro.
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Auf den Weiterbewilligungsantrag für den Folgezeitraum hin, der am 17.08.2018 beim Beklagten einging und in dem der Bezug von Kindergeld i.H.v. 194 Euro monatlich angegeben war, bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter für den Zeitraum Oktober 2018 bis September 2019 Leistungen auf Grundlage derselben Berechnungsweise, d.h. das Kindergeld wurde wiederum als Einkommen der Mutter angesetzt und horizontal anteilig i.H.v. 72,11 Euro auf die Klägerin verteilt (Bescheid vom 22.08.2018). Nachdem der Vater der Klägerin, der zunächst ebenfalls in der gemeinsamen Wohnung gewohnt hatte und für den ein separater Mietvertrag existierte, im September 2018 ausgezogen war, wurde bei der Mutter ein Regelbedarf der Stufe 1 anerkannt (Änderungsbescheide vom 07.09.2018). Der Klägerin wurden Leistungen i.H.v. 418,66 Euro für September und i.H.v. 419,02 Euro monatlich ab Oktober bewilligt.
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Im Oktober 2018 machte der Beklagte gegenüber der Beigeladenen erneut den Erstattungsanspruch i.H.v. 1.356 Euro geltend, der im Nachgang von der Beigeladenen auch erfüllt wurde (Dezember 2018).
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Am 16.11.2018 erließ die Beigeladene gegenüber der Mutter der Klägerin einen Rückforderungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 i.V.m. § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO), mit dem die Erstattung des zu viel ausgezahlten Betrages i.H.v. 1.356 Euro geltend gemacht wurde. Für den Zeitraum von Dezember 2017 bis einschließlich Juni 2018 habe der Beklagte das Kindergeld durch Nichtanrechnung auf das Arbeitslosengeld II vorgeleistet. Der Anspruch auf Kindergeld für diesen Zeitraum sei durch diese Vorleistung bereits erfüllt gewesen und deshalb erloschen. Die nochmalige Zahlung durch die Beigeladene sei ohne Rechtsgrund erfolgt. Der Betrag wurde am 26.02.2019 von der Mutter der Klägerin an die Beigeladene zurückgezahlt.
9
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 08.02.2019 nahm der Beklagte gegenüber der Klägerin die Bewilligungsbescheide vom 22.08.2018 und 07.09.2018 für die Zeit von Juni bis November 2018 teilweise zurück und machte die Erstattung überzahlter Leistungen geltend (Juni: 194 Euro, Juli und August: jeweils 315,56 Euro, September: 317,83 Euro, Oktober: 169,40 Euro, November: 318,19 Euro, insgesamt also 1.630,54 Euro). Das Kindergeld sei fälschlicherweise bei der Mutter angerechnet worden. Die Klägerin habe im Juni die erste laufende Kindergeldzahlung i.H.v. 194 Euro erhalten. Zudem sei im Juni eine einmalige Kindergeldnachzahlung i.H.v. 1.162 Euro erfolgt. Diese einmalige Einnahme sei im Monat nach dem Zufluss auf einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag von 193,67 Euro zu berücksichtigen. Der Erhalt der Kindergeldnachzahlung sei nicht mitgeteilt worden. Auch sei die Entscheidung wegen Kenntnis bzw. grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit zurückzunehmen. Die sich für die Mutter der Klägerin ergebende Nachzahlung werde mit der Überzahlung für die Klägerin verrechnet, so dass nur ein Betrag i.H.v. 1.312,35 Euro zu zahlen sei.
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Am 19.02.2019 ergingen zwei Änderungsbescheide, mit denen der Beklagte bei der Leistungsberechnung für die Bedarfsgemeinschaft einen Mehrbedarf für Alleinerziehende für die Mutter der Klägerin ab September sowie eine Erhöhung der tatsächlichen Mietkosten im November berücksichtigte. Die Bescheide vom 07.09.2018 „i.d.F. des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 08.02.2019“ wurden insoweit aufgehoben und der Klägerin höhere Leistungen bewilligt (September und Oktober: jeweils 100,83 Euro, November: 121,38 Euro).
11
Mit Schreiben vom 21.02.2019 legte die Mutter der Klägerin Widerspruch gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid ein. Sie sei der deutschen Sprache nicht mächtig. Die Familienkasse habe auch eine Zahlungsaufforderung gestellt. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.04.2019 wies der Beklagte den Widerspruch betreffend den „Rücknahme- und Erstattungsbescheid für die Zeit vom 01.06.2018 bis 30.11.2018“ als unbegründet zurück. Der angefochtene Bescheid vom 08.02.2019 sei eingehend geprüft und für rechtmäßig befunden worden. Die überzahlten Leistungen seien für die Zeit vom 01.06.2018 bis 30.11.2018 zurückzufordern, weil sowohl die laufende Kindergeldzahlung als auch die erhaltene Kindergeldnachzahlung nicht mitgeteilt worden seien. Der Leistungsanspruch habe daher unter Berücksichtigung dieser Einkommen rückwirkend neu berechnet werden müssen.
12
Am 24.05.2019 hat die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, Klage beim Sozialgericht Landshut erhoben. Die Kindergeldnachzahlung durch die Familienkasse sei irrtümlich erfolgt. Es könne nicht sein, dass der Betrag doppelt sowohl an die Beigeladene als auch an den Beklagten zurückzuzahlen sei.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019 aufzuheben.
14
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
15
Zugeflossene Einnahmen seien von Gesetzes wegen anzurechnen. Die Rechtsvorschriften der Einkommensanrechnung nach dem SGB II und die Aufhebungsvorschriften zum Verwaltungsakt seien gesondert zum Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X zu betrachten. Die Zahlung einer Sozialleistung stelle eine Einnahme in Geld dar. Es sei unerheblich, woraus die Zahlung resultiere. Das Bundessozialgericht habe bereits vor längerer Zeit entschieden, dass es für die Klassifizierung als Einkommen unerheblich sei, wenn erst nach dem Monat des Zuflusses die Einnahme mit einer Rückzahlungsverpflichtung belastet werde (Rückforderungs- und Erstattungsbescheid der vorrangigen Behörde). Vielmehr bestehe die Verpflichtung des Hilfebedürftigen, die Leistung als „bereite Mittel“ in dem Monat des Zuflusses auch zu verbrauchen. Rückstellungen, die Leistungsempfänger in Bezug auf möglicherweise eintretende, im Zeitpunkt des Zuflusses aber noch ungewisse, künftige Zahlungsverpflichtungen vornehmen, seien nicht geschützt (BSG, Urteil vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R). Diese Rechtsprechung sei auf den hier vorliegenden Streitgegenstand zu übertragen, da das „doppelt“ gezahlte Kindergeld auch erst später an die Familienkasse zu erstatten gewesen sei. Die Erfüllungsfiktion nach § 107 SGB X stehe der Rückforderung des zugeflossenen Einkommens nicht entgegen.
16
Das Gericht hat die Familienkasse zum Verfahren beigeladen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und der Beigeladenen sowie auf die Akte des Gerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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1. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019, mit dem der Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Juni bis November 2018 zurückgenommen und die Erstattung überzahlter Leistungen geltend gemacht hat. Die Klägerin wendet sich gegen die Anrechnung von Kindergeld als Einkommen und begehrt die Aufhebung des Bescheides.
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2. Die als isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG statthafte Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§§ 87, 90, 92 SGG).
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Auch wurde das gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG als Prozessvoraussetzung erforderliche Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt. Die Bescheide vom 19.02.2019 änderten den Rücknahmebescheid vom 08.02.2019 insoweit ab, als der Klägerin für die Zeit von September bis November 2018 höhere Leistungen bewilligt und die Rücknahme dadurch in der Folge betragsmäßig reduziert wurde. Die Bescheide wurden gem. § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens. Dass die Bescheide vom 19.02.2019 der Klägerin bzw. ihrer Mutter als gesetzlicher Vertreterin zum Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs am 21.02.2019 bereits zugegangen und bekannt gegeben waren (§ 37 SGB X), kann das Gericht nicht erkennen. Selbst wenn dies jedoch der Fall gewesen sein sollte, so wäre das Widerspruchsschreiben vom 21.02.2019, auch wenn es die Bescheide vom 19.02.2019 nicht explizit erwähnte, jedenfalls dahingehend auszulegen, dass sich der Widerspruch der nicht von einem Rechtsanwalt vertretenen Klägerin gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 richten sollte. In dem Widerspruchsschreiben wurde eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich die Klägerin gegen die Anrechnung des Kindergelds wandte, und dass die Aufhebungs- und Erstattungsverfügung insoweit nicht bestandskräftig werden sollte. Durch den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 30.04.2019 wurde das Vorverfahren ordnungsgemäß und vollumfänglich abgeschlossen. Zwar wurden darin die Änderungsbescheide vom 19.02.2019 nicht ausdrücklich genannt. Jedoch hat der Beklagte eine endgültige und abschließende Entscheidung über den Widerspruch gegen die Rücknahme- und Erstattungsverfügung betreffend den Zeitraum Juni bis November 2018 unter Berücksichtigung aller rechtlicher Gesichtspunkte getroffen, und damit auch unter Berücksichtigung der Bescheide vom 19.02.20219. Dies ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Begründung und der Betreffzeile des Widerspruchsbescheides.
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3. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Beklagte war nicht berechtigt, die Bewilligung von Leistungen für die Zeit von Juni bis November 2018 teilweise zurückzunehmen. Damit ist die Klägerin auch nicht verpflichtet, den vom Beklagten geforderten Betrag zu erstatten.
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a. Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligung kommt vorliegend § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 SGB X in Betracht. Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Bewilligungsbescheide vom 22.08.2018 und 07.09.2018 war die Kindergeldnachzahlung an die Mutter der Klägerin von der Familienkasse bereits ausgezahlt, und auch die laufende Kindergeldzahlung war bereits aufgenommen, so dass keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorliegt. Die vorläufigen Bewilligungsbescheide für die Zeit von April bis September 2018 hatten sich durch den Erlass des endgültigen Bescheides vom 22.08.2018 bereits erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X).
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b. Die gem. § 24 SGB X vor Erlass des Rücknahme- und Erstattungsbescheides erforderliche und hier unterbliebene Anhörung der Klägerin wurde durch Nachholung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt (zu den Voraussetzungen hierfür vgl. etwa Schütze/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X, § 41 Rn. 15 m.w.N.).
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c. Jedoch sind die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 45 SGB X für eine teilweise Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Zeit von Juni bis November nicht erfüllt. Soweit die Kindergeldnachzahlung für Dezember 2017 bis Juni 2018 nicht als Einkommen der Klägerin angerechnet wurde, sind die jeweiligen Bewilligungsbescheide bereits nicht rechtswidrig (dazu aa.). Und in Bezug auf die unterbliebene volle Anrechnung der laufenden Kindergeldzahlung i.H.v. 194 Euro als eigenes Einkommen für die Zeit ab Juli sind die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht erfüllt. Die Klägerin kann sich auf Vertrauensschutz berufen (dazu bb.).
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aa. Gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 des § 45 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist. Soweit in den ursprünglichen Bewilligungsbescheiden vom 22.08.2018 und 07.09.2018 die irrtümlich ausgezahlte Kindergeldnachzahlung i.H.v. 1.356 Euro, die im Juni 2018 auf dem Konto der Mutter der Klägerin gutgeschrieben wurde, für die Zeit von Juni bis November nicht bedarfsmindernd als Einkommen berücksichtigt worden ist, sind die Bescheide bereits nicht (anfänglich) rechtswidrig. Die irrtümlich erfolgte Auszahlung des Betrages durch die Beigeladene stellt nämlich kein zu berücksichtigendes Einkommen der Klägerin i.S.d. § 11 SGB II dar, weshalb auch eine Aufteilung der Nachzahlung auf sechs Monate und Berücksichtigung eines entsprechenden Teilbetrags gem. § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II ausscheidet.
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(1) Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen. Als Einkommen zu berücksichtigen sind auch Zuflüsse aus darlehensweise gewährten Sozialleistungen, soweit sie dem Lebensunterhalt dienen (§ 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist Einkommen grundsätzlich alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält (vgl. etwa BSG, Urteile vom 30.07.2008 - B 14 AS 26/07 R, Rn. 23, und vom 24.06.2020 - B 4 AS 9/20 R, Rn. 24, zitiert nach juris). Ein „wertmäßiger Zuwachs“ liegt dann vor, wenn die Einnahme eine Änderung des Vermögensstandes bewirkt. Nach Sinn und Zweck der Regelungen zur Einkommensberücksichtigung muss der Zuwachs an Mitteln dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung verbleiben, denn nur dann lässt er seine Hilfebedürftigkeit dauerhaft entfallen (BSG, Urteile vom 17.06.2010 - B 14 AS 46/09 R, Rn. 16, und vom 08.12.2020 - B 4 AS 30/20 R, Rn. 15, zitiert nach juris). Entscheidend ist insoweit, ob in dem Zeitpunkt, in dem die Einnahme als Einkommen berücksichtigt werden soll, der Zufluss bereits mit einer (wirksamen) Rückzahlungsverpflichtung belastet ist. Jedenfalls sofern eine Verpflichtung zur Rückzahlung der laufenden Einnahme erst nach dem Monat eintritt, für den sie berücksichtigt werden soll, besteht die Verpflichtung des Hilfebedürftigen, die Leistung als „bereite Mittel“ in dem Monat des Zuflusses auch zu verbrauchen (BSG, Urteil vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R, Rn. 23, zitiert nach juris).
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(2) Diese Maßstäbe zugrunde legend ist die rückwirkende Zahlung von Kindergeld für die Zeit von Dezember 2017 bis Juni 2018, die von der Beigeladenen trotz des bestehenden Erstattungsanspruchs des Beklagten und entgegen den Ausführungen im Festsetzungsbescheid vom 19.06.2018 irrtümlich an die Mutter der Klägerin geleistet wurde, nicht als Einkommen der Klägerin zu berücksichtigen. Zwar wurde der Betrag i.H.v. 1.356 Euro im Juni 2018 auf dem Konto der Mutter gutgeschrieben. Auch ist Kindergeld gem. § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II normativ nicht der Anspruchsberechtigten, hier der Mutter der Klägerin, als Einkommen zuzurechnen, sondern dem Kind selbst, soweit es zur Bedarfsgemeinschaft gehört und das Kindergeld bei dem jeweiligen Kind zur Sicherung des Lebensunterhaltes benötigt wird. Ein Fall von § 11a SGB II liegt ebenfalls nicht vor. Jedoch war die Einnahme bereits unmittelbar mit Gutschrift auf dem Konto mit einer rechtlich wirksamen Rückzahlungsverpflichtung an die Beigeladene gem. § 37 Abs. 2 Satz 1 Abgabenordnung (AO) belastet, so dass es sich bei dem ausgezahlten Betrag nicht um einen Zuwachs an Mitteln handelte, der der hilfebedürftigen Klägerin zur endgültigen Verwendung verblieb.
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(a) Der Mutter der Klägerin wurde vorliegend Kindergeld auf Grundlage des Einkommensteuergesetzes (EStG) gewährt, nicht nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Für die Rückforderung der irrtümlichen Doppelzahlung durch die Beigeladene kommen daher steuerrechtliche Regelungen zur Anwendung.
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(b) Ist eine Steuer, eine Steuervergütung, ein Haftungsbetrag oder eine steuerliche Nebenleistung ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten oder zurückgezahlten Betrags (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO). Die Vorschrift erfasst auch Ansprüche des Steuergläubigers gegen den Empfänger einer rechtsgrundlosen Zahlung (Vergütung) oder Rückzahlung (Klein/Ratschow, 15. Aufl. 2020, AO § 37 Rn. 12). Das im laufenden Kalenderjahr gezahlte Kindergeld stellt eine Steuervergütung i.S.v. § 37 Abs. 1 AO dar (vgl. § 31 Satz 3 EStG).
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(c) Die irrtümliche (Doppel-)Auszahlung von Kindergeld an die Mutter der Klägerin durch die Beigeladene im Juni 2018 für die Zeit von Dezember bis Juni ist ohne rechtlichen Grund i.S.v. § 37 Abs. 2 Satz 1 AO erfolgt, weil der Anspruch auf Kindergeld für diese Zeit durch die Leistungen des Beklagten nach dem SGB II an die Klägerin, die in diesem Zeitraum ohne Anrechnung von Einkommen erfolgten, aufgrund der Erfüllungsfiktion des § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X bereits als erfüllt galt und damit erloschen war (§ 47 AO).
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Der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger gilt gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Vorliegend hatte der Beklagte zum Zeitpunkt der Auszahlung des Kindergelds einen Erstattungsanspruch i.H.v. 1.356 Euro gegen die beigeladene Familienkasse gem. § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 SGB X.
34
Gemäß § 104 Abs. 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Dies gilt auch dann, wenn von einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger für einen Angehörigen Sozialleistungen erbracht worden sind und ein anderer mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegenüber einem vorrangig verpflichteten Leistungsträger hat oder hatte (§ 104 Abs. 2 SGB X).
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Hier war der Beklagte nachrangig verpflichteter Leistungsträger, weil er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung der Familienkasse infolge der Anrechnung des Kindergelds als Einkommen gem. § 9 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II selbst nicht im gleichen Umfang zur Leistung an die Klägerin verpflichtet gewesen wäre. Das Kindergeld wäre in der Zeit von Dezember bis Juni in voller Höhe als deren Einkommen angerechnet worden. Die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X liegen nicht vor. Die Leistungserbringung durch den Beklagten erfolgte rechtmäßig auf Grundlage des für ihn geltenden Leistungsrechts. Auch hatte die Beigeladene noch nicht geleistet, bevor sie von der Leistung des Beklagten Kenntnis erlangte. Den Erstattungsanspruch hatte der Beklagte bereits am 14.06.2018, also vor der Auszahlung, gegenüber der Beigeladenen geltend gemacht und auf 1.356 Euro beziffert. Das Kindergeld ist zudem eine zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II kongruente und gleichartige Leistung, so dass einem Sozialleistungsträger, der bedarfsabhängige Sozialleistungen für Eltern und Kinder erbracht hat, die in einem Haushalt zusammenleben und eine Bedarfsgemeinschaft bilden, grds. ein Anspruch auf Erstattung des nachträglich festgesetzten Kindergelds zusteht. Das Kindergeld ist, soweit es wie hier der Familienförderung dient, ebenso wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu bestreiten (vgl. BFH, Urteil vom 26.07.2012 - III R 28/10, Rn. 12, 15, zitiert nach juris; Finanzgericht Baden-Württemberg, Gerichtsbescheid vom 28.05.2020 - 13 K 2747/17, Rn. 31, zitiert nach juris).
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Zu Recht hat die Beigeladene daher im Bescheid vom 19.06.2018, mit dem Kindergeld für die Klägerin festgesetzt wurde, darauf hingewiesen, dass der Anspruch für den Zeitraum von Dezember 2017 bis einschließlich Juni 2018 i.H.v. 1.356 Euro als erfüllt gilt, weil der Beklagte für den gleichen Zeitraum bereits vorgeleistet hat (§ 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X). Der Anspruch war erloschen (§ 47 AO). Die ungeachtet dessen von der Beigeladenen irrtümlich angewiesene Zahlung an die Mutter der Klägerin war eine Doppelleistung, die über den Festsetzungsbescheid hinausging, nicht von diesem gedeckt war und somit ohne Rechtsgrundlage erfolgte.
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(d) Folge der Doppelleistung war ein Rückforderungsanspruch der Beigeladenen gegen die Mutter der Klägerin gem. § 37 Abs. 2 Satz 1 AO in Höhe des ohne rechtlichen Grund ausgezahlten Betrages von 1.356 Euro. Ein solcher Erstattungsanspruch entsteht gem. § 38 AO in dem Zeitpunkt, in dem die Leistung ohne rechtlichen Grund erbracht wird (vgl. BFH, Urteile vom 12.05.2009 - IX R 2/08, Rn. 12, und vom 06.06.2000 - VII R 104/98, Rn. 21, zitiert nach juris; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 165. Lieferung 04.2021, § 37 AO Rn. 122), hier also bereits zum Zeitpunkt der Gutschrift auf dem Konto. Auf eine gesonderte Festsetzung des Erstattungsanspruchs durch die Behörde kommt es für dessen Entstehung nicht an (BFH, Urteile vom 18.06.1986 - II R 38/84, Rn. 15, und vom 25.02.1992 - VII R 8/91, Rn. 14, zitiert nach juris; Klein/Ratschow, 15. Aufl. 2020, AO § 37 Rn. 45, § 38 Rn. 30). Erstattungsansprüche können daher auch ohne Festsetzung im Erhebungsverfahren erfüllt werden, der rechtsgrundlos gezahlte Betrag kann auch ohne vorherigen Festsetzungsbescheid zurückgefordert werden (BeckOK AO/Specker, 16. Ed. 1.4.2021, AO § 218 Rn. 68 m.w.N.; Klein/Rüsken, 15. Aufl. 2020, AO § 218 Rn. 1). Somit bestand bereits bei Gutschrift des irrtümlich ausgezahlten Betrages an die Mutter der Klägerin im Juni 2018 ein konkreter Rückforderungsanspruch der Beigeladenen. Spiegelbildlich dazu war die Einnahme mit einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung belastet. Da hier der irrtümlichen Doppelzahlung keine Festsetzung durch Bescheid zugrunde lag, wurde der Anspruch gem. § 220 Abs. 2 Satz 1 AO auch sofort mit seiner Entstehung, also im Zeitpunkt der Leistung, fällig (vgl. BFH, Urteil vom 12.05.2009 - IX R 2/08, Rn. 12; Klein/Ratschow, 15. Aufl. 2020, AO § 37 Rn. 50).
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(e) Für die Frage der Beurteilung als Einkommen ist ohne Auswirkung, dass die Beigeladene den Rückforderungsanspruch erst Monate später durch Bescheid tatsächlich geltend gemacht hat. Die Behörde kann - wie hier geschehen mit Bescheid vom 16.11.2018 - zur Verwirklichung des Anspruchs gemäß § 218 Abs. 2 Satz 2 AO einen Rückforderungsbescheid erlassen oder über Bestehen und Höhe des Anspruchs in einem Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO entscheiden, insbesondere, wenn zwischen den Beteiligten Streit über die Entstehung derartiger Ansprüche besteht (vgl. hierzu BFH, Urteile vom 18.06.1986 - II R 38/84, Rn. 15, vom 25.02.1992 - VII R 8/91, Rn. 14 und vom 12.11.2013 - VII R 15/13, Rn. 5, zitiert nach juris; BeckOK AO/Brühl bzw. Specker, 16. Ed. 1.4.2021, AO § 37 Rn. 347 f., § 218 Rn. 200 ff.). Ein solches Vorgehen ist dann aber bereits auf Erfüllung gerichtet und betrifft die Stufe der Verwirklichung und Durchsetzung des - bereits bestehenden - Anspruchs, also die Einziehung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis, die von der Frage der Entstehung zu trennen ist (allgemein zum Erhebungsverfahren und zur Verwirklichung von Ansprüchen vgl. etwa Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 165. Lieferung 04.2021, § 218 AO Rn. 1 ff.). Der Rückforderungsanspruch auf Grund von Doppel- bzw. Fehlzahlungen entsteht rechtlich nicht erst mit dem Erlass eines Rückforderungs- oder Abrechnungsbescheids nach § 218 Abs. 2 Satz 2 AO, sondern - wie oben ausgeführt - bereits mit der rechtsgrundlosen Zahlung. Die Begründung einer Zahlungsverpflichtung ist nicht Gegenstand des Bescheids, vielmehr wird sie als bestehend vorausgesetzt (vgl. BeckOK AO/Brühl, 16. Ed. 1.4.2021, AO § 37 Rn. 347 f.; Klein/Ratschow, 15. Aufl. 2020, AO § 37 Rn. 56). Ein Rückforderungsbescheid setzt den allein durch die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes entstandenen und bestehenden Anspruch lediglich fest und dient als Grundlage für die tatsächliche Verwirklichung und weitere Durchsetzung des betreffenden Zahlungsanspruchs (BFH, Urteil vom 18.06.1986 - II R 38/84, Rn. 15 f., zitiert nach juris; BeckOK AO/Specker, 16. Ed. 1.4.2021, AO § 218 Rn. 67 ff., 201), insbesondere, wenn er im Wege der Vollstreckung zwangsweise geltend gemacht werden soll bzw. muss. Eine Verwirklichung bzw. Durchsetzung setzt aber bereits entstandene Ansprüche voraus. Darüber hinaus ist der Erlass eines Rückforderungs- oder Abrechnungsbescheids gem. § 218 Abs. 2 AO nicht in jedem Fall zwingend erforderlich. So bedürfte es etwa einer Festsetzung des Anspruchs durch Rückforderungsbescheid nicht, wenn der Steuerpflichtige den Anspruch freiwillig erfüllt (Koenig/Koenig, 3. Aufl. 2014, AO § 37 Rn. 73).
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Für die Frage, ob Einkommen i.S.d. § 11 SGB II zu bejahen ist, also ob ein wertmäßiger Zuwachs des Vermögensstands vorliegt, der dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung verbleibt, ist allein auf den Bestand einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung im Zeitpunkt des Zuflusses abzustellen, nicht auf eine - evtl. auch später erst erfolgende - tatsächliche Durchsetzung und Realisierung dieses Anspruchs gegenüber dem Schuldner. Bereits die bestehende Rückzahlungsverpflichtung, die im Zeitpunkt des Zuflusses auf der Einnahme lastet, bewirkt, dass diese dem Hilfebedürftigen nicht zur endgültigen Verwendung verbleibt. So kommt es etwa auch bei der Frage, ob Beträge, die von Unternehmern als Umsatzsteuer ausgewiesen und vereinnahmt worden sind, als Einkommen Selbstständiger zu berücksichtigen sind, entscheidend darauf an, wann der Steueranspruch der Finanzverwaltung und damit die Zahlungsverpflichtung tatsächlich entstanden ist (BSG, Urteil vom 22.08.2013 - B 14 AS 1/13 R, Rn. 25, zitiert nach juris).
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Unabhängig von dem Rückforderungsbescheid der Beigeladenen, der erst mehrere Monate nach der Auszahlung erlassen wurde, war die Einnahme in Form der Gutschrift des Kindergelds i.H.v. 1.356 Euro im Juni 2018 daher bereits zu diesem Zeitpunkt mit einer rechtlich wirksamen, hinreichend konkreten Rückzahlungsverpflichtung an die Beigeladene belastet. In der Folge kann die Einnahme auch nicht als ein wertmäßiger Zuwachs im Vermögensstand der Klägerin betrachtet werden, der dieser zur endgültigen Verwendung zur Verfügung stand. Dieses Ergebnis ist auch sachgerecht, weil es für die Mutter der Klägerin offen erkennbar war, dass es sich bei der Auszahlung, die entgegen der eindeutigen und ausdrücklichen Hinweise im Festsetzungsbescheid der Beigeladenen vom 19.06.2018 erfolgt ist, um eine nicht gerechtfertigte Doppelauszahlung handelte. Insoweit konnte sie auch nicht davon ausgehen, dass ihr die Einnahme auf Dauer und zur endgültigen Verwendung zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stand.
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(f) Die vom Beklagten in Bezug genommene Konstellation, die vom Bundessozialgericht mit Urteil vom 23.08.2011 entschieden wurde (Az. B 14 AS 165/10 R), unterscheidet sich vom vorliegenden Fall. In dieser war Arbeitslosengeld, das auf Grundlage eines Bewilligungsbescheides ausgezahlt worden war, auf das jedoch materiell-rechtlich kein Anspruch mehr bestand, weil die entsprechenden Voraussetzungen entfallen waren, als Einkommen bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Jedoch entstand dort die rechtliche Verpflichtung zur Rückzahlung der Einnahme erst nach dem Monat des Zuflusses, weil der Bescheid, mit dem Arbeitslosengeld bewilligt worden war, erst danach rückwirkend aufgehoben sowie die Erstattung der überzahlten Leistungen verfügt wurde. Bis zum Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides stellt der Bewilligungsbescheid einen Rechtsgrund für das Behalten der Leistung dar. Ein auf einer bindenden Bewilligung begründeter Leistungsbezug ist rechtmäßig, solange der Bewilligungsbescheid besteht (BSG vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R, Rn. 24, zitiert nach juris). Im vorliegenden Fall hingegen erfolgte die Doppelzahlung des Kindergelds gerade nicht auf Grundlage des Festsetzungsbescheides der Beigeladenen vom 19.06.2018, weil der Anspruch infolge der Leistungen des Beklagten nach dem SGB II bereits als erfüllt galt. Konsequenterweise wurde dieser Bescheid von der Beigeladenen auch nicht (rückwirkend) gem. § 70 Abs. 2 EStG aufgehoben oder abgeändert (so etwa bei LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.06.2018 - L 34 AS 201/15, Rn. 39). Somit bestand für ein (vorläufiges) Behaltendürfen der irrtümlich erfolgten Auszahlung kein Rechtsgrund in Form eines formal weiterbestehenden Verwaltungsakts. Vielmehr entstand die Rückzahlungsverpflichtung - wie ausgeführt - bereits mit Auszahlung des Betrages. Es handelte sich daher auch nicht um eine nur möglicherweise eintretende, im Zeitpunkt des Zuflusses aber noch ungewisse, künftige Zahlungsverpflichtung. Zwischen Steuerverfahrensrecht und SGB X bestehen Unterschiede. Die §§ 45, 50 Abs. 1 SGB X sind ebenso wie § 50 Abs. 2 SGB X, bei dem von der Behörde zunächst eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, auf die vorliegende Fallkonstellation nicht anwendbar und auch nicht übertragbar.
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(g) Bei dem von der Beigeladenen irrtümlich ausgezahlten Kindergeld handelte es sich auch nicht um einen Zufluss aus darlehensweise gewährten Sozialleistungen i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II, die dem Lebensunterhalt dienen und damit trotz Rückzahlungsverpflichtung als Einkommen zu berücksichtigen wären. Es handelte sich bereits nicht um ein bewusst gewährtes Darlehen der Beigeladenen, das zweckbestimmt als Hilfe zum Lebensunterhalt geleistet werden sollte, sondern um eine irrtümlich erfolgte Doppelzahlung.
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bb. Soweit für die Zeit ab Juli 2018 die laufenden Kindergeldzahlungen nicht in voller Höhe (194 Euro) als Einkommen der Klägerin berücksichtigt wurden, sondern nach horizontaler Verteilung gem. § 9 Abs. 2 Sätze 2 und 3 SGB II nur anteilig, waren die Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 22.08.2019 und 07.09.2018 zwar rechtswidrig i.S.d. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 1 SGB X. Denn gem. § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II ist Kindergeld normativ nicht der Anspruchsberechtigten, hier der Mutter der Klägerin, als Einkommen zuzurechnen, sondern den Kindern selbst, soweit sie - wie hier - zur Bedarfsgemeinschaft gehören und das Kindergeld bei dem jeweiligen Kind zur Sicherung des Lebensunterhaltes benötigt wird. Dennoch ist der angefochtene Rücknahmebescheid des Beklagten insoweit rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X nicht erfüllt sind. Die Klägerin kann sich auf Vertrauensschutz berufen.
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(1) Eine kausale arglistige Täuschung der Mutter der Klägerin (eine solche wäre dieser zuzurechnen, vgl. § 166 Abs. 1, § 1629 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) liegt offenkundig nicht vor (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB II).
45
(2) Auch beruhen die Bewilligungsbescheide vom 22.08.2019 und 07.09.2018 nicht auf Angaben, die die Mutter der Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Zum einen wurde im Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab Oktober 2018, der beim Beklagten am 17.08.2018 und damit vor Erlass der entsprechenden Bescheide einging, der Kindergeldbezug für die Klägerin i.H.v. 194 Euro monatlich ausdrücklich angegeben. Zum anderen hat der Beklagte die laufende Kindergeldzahlung ab Juli in den Bescheiden als Einkommen auch tatsächlich berücksichtigt, jedoch bei der Klägerin - nach horizontaler Verteilung - nur anteilig. Die rechtswidrigen Verwaltungsakte beruhen daher insoweit nicht auf unrichtig oder unvollständig gemachte Angaben, sondern auf einem fehlerhaften Berechnungsansatz des Beklagten.
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(3) Ebenso sind die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dabei ist von einem subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff auszugehen, d.h. das Maß der Fahrlässigkeit ist insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, Rn. 23, zitiert nach juris). Ausreichend ist, wenn der Leistungsempfänger im Rahmen einer sog. Parallelwertung in der Laiensphäre wusste oder wissen musste, dass ihm die zuerkannte Leistung so nicht zusteht (BSG, Urteil vom 24.06.2020 - B 4 AS 10/20 R, Rn. 30, zitiert nach juris).
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Vorliegend kannte die Klägerin bzw. ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide bei Bekanntgabe nicht und musste sie auch nicht kennen. Zwar besteht eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, Rn. 25, zitiert nach juris). Auch wusste die Mutter der Klägerin aus dem Verwaltungsverfahren, dass Kindergeld eine vorrangige Leistung darstellt, die im Rahmen des SGB II-Leistungsbezugs grundsätzlich als Einkommen angerechnet wird. Jedoch war für sie nicht erkennbar, bei welcher Person das Kindergeld berücksichtigt wird. Aus den Berechnungsbögen der jeweiligen Bescheide war gerade ersichtlich, dass der Beklagte die laufenden Kindergeldzahlungen ab Juli 2018 tatsächlich als Einkommen bedarfsmindernd berücksichtigt hatte. Dass dabei die Berechnungsweise, das Kindergeld als Einkommen der Mutter anzusetzen und gem. § 9 Abs. 2 Sätze 2 und 3 SGB II horizontal nur anteilig auf den Bedarf der Klägerin anzurechnen, nicht der gesetzlichen Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II entsprach, musste die Mutter der Klägerin nicht wissen. Die Rechtswidrigkeit eines Bewilligungsbescheides, in dem der Beklagte Kindergeld entgegen den gesetzlichen Vorgaben falsch anrechnet, muss ein Leistungsbezieher nicht ohne Weiteres erkennen. Jedenfalls ohne einen vorherigen, eindeutigen Hinweis zur Rechtslage stellt dies keinen Berechnungsfehler dar, der im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre erkannt werden muss. Aus der Begründung der jeweiligen Bewilligungsbescheide ergibt sich vorliegend keine Erläuterung, dass das Kindergeld in voller Höhe als Einkommen allein der Klägerin, nicht der Mutter, anzurechnen ist. Auch im Verwaltungsverfahren wurde vorab kein entsprechender Hinweis gegeben. In den allgemein gehaltenen Ausfüllhinweisen zum SGB II-Leistungsantrag und im Merkblatt zum SGB II-Leistungsbezug finden sich ebenfalls keine klaren, eindeutigen Erläuterungen. Von einem Leistungsberechtigten kann aber nicht erwartet werden, die detailreichen und komplizierten Vorgaben des SGB II zur Leistungsberechnung bis ins Detail zu kennen oder gar sachkundiger zu sein als die Behörde (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 17.02.2015 - L 5 R 900/13, Rn. 26, zitiert nach juris; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 45 SGB X (Stand: 16.04.2021), Rn. 94).
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(4) Für eine Rücknahme nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X fehlt es an einer Ermessensausübung. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III sieht nur für die Fälle des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X eine gebundene Entscheidung vor.
49
d. Nachdem der Beklagte nicht berechtigt war, die Bewilligung von Leistungen für die Zeit von Juni bis November 2018 teilweise zurückzunehmen, ist auch die Erstattungsverfügung gem. § 50 Abs. 1 SGB X rechtswidrig. Darauf, ob die Verrechnung des Erstattungsbetrages mit der Nachzahlung für die Mutter der Klägerin zu Recht erfolgte, kommt es hier nicht an.
50
4. Nach alledem war der Bescheid aufzuheben. Die Klägerin hat keine Erstattung des von der Beigeladenen irrtümlich ausgezahlten Kindergelds an den Beklagten zu leisten.
51
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.