LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 24.06.2021 – 12 Qs 39/21
Titel:

Auslegung der Zuschrift eines Beschuldigten als Rechtsmittel

Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
StPO § 300
GKG § 21 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Bleibt nach der Auslegung zweifelhaft, ob eine Erklärung an das Gericht als vom Anfechtungswillen getragene Rechtsmitteleinlegung zu verstehen ist, hat das Gericht diesen Zweifel durch Nachfrage zu klären. (Rn. 7 – 10)
Schlagwort:
Rechtsmittel
Vorinstanz:
AG Nürnberg vom -- – 50 Cs 203 Js 10628/21
Fundstellen:
BeckRS 2021, 15647
LSK 2021, 15647
StV 2022, 805

Tenor

1. Die Sache wird an das Amtsgericht Nürnberg zurückgegeben.
2. Etwaige Kosten und notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.
1
Mit Zuschrift vom 26. März 2021 beantragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth bei dem Amtsgericht Nürnberg den Erlass eines Strafbefehls gegen den nicht durch einen Rechtsanwalt verteidigten Beschuldigten. Das Amtsgericht erließ den Strafbefehl, der eine Sanktion von 60 Tagessätzen zu 25 € gegen den Beschuldigten vorsah, antragsgemäß am 15. April 2021. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Strafbefehl dem Beschuldigten am 20. April 2021 durch Einlage in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt. Am 7. Mai 2021 brachte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle einen Rechtskraftvermerk auf dem Strafbefehl an.
2
Erst mit Schreiben vom 11. Mai 2021, beim Amtsgericht eingegangen am Folgetag, legte der Beschuldigte Einspruch gegen den Strafbefehl ein und erklärte sich zum Anklagevorwurf. Im weiteren Schreiben vom 17. Mai 2021 begründete er die späte Einspruchseinlegung unter Vorlage von Kopien von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen damit, dass er krank gewesen sei.
3
Das Amtsgericht legte das Schreiben des Beschuldigten vom 17. Mai 2021 dahin aus, dass es einen konkludenten Wiedereinsetzungsantrag enthalten habe und verwarf diesen als unzulässig, weil er verspätet eingelegt worden sei. Zugleich verwarf es den Einspruch des Beschuldigten gegen den Strafbefehl als unzulässig. Der Verwerfungsbeschluss vom 27. Mai 2021 wurde dem Beschuldigten am 29. Mai 2021 zugestellt.
4
Der Beschuldigte wandte sich mit Schreiben vom 31. Mai 2021 erneut an das Amtsgericht. Dieses Schreiben hat folgenden Wortlaut (Schreibweise im Original):
„… Ich habe alles beweise schon vorgelegt aber Ich glaube Sie will nicht hören oder wissen. Die Kosten konnen Sie etwas tun weil ich habe ein Früh geburt Kind und mein Frau auch Arbeitet nicht so tun was! oder schicken Sie mich die Kosten und Ich zahlen in Raten € 30 monatlich weil ich zahlen auch zurück die JobCenter …“
5
Das Amtsgericht legte dieses Schreiben ohne weitere Rückfrage beim Beschuldigten als sofortige Beschwerde aus, half ihr nicht ab und leitete die Akte der Kammer zu.
6
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat in ihrer Zuschrift beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
7
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts und der Staatsanwaltschaft handelt es sich bei dem Schreiben des Beschuldigten vom 31. Mai 2021 nicht um eine sofortige Beschwerde und auch um kein sonstiges Rechtsmittel gegen den Strafbefehl. Demgemäß ist beim Beschwerdegericht nichts zur Entscheidung hierüber angefallen; vielmehr war die Sache an das Amtsgericht zurückzugeben.
8
1. Nicht eindeutige Prozesserklärungen sind auszulegen. Als ein Rechtsmittel kann eine Erklärung nur dann ausgelegt werden, wenn aus ihr der Anfechtungswille hervorgeht (Jesse in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 300 Rn. 5; Paul in KK-StPO, 8. Aufl., § 300 Rn. 2), also der Wille, gegen eine gerichtliche Entscheidung vorzugehen mit dem Ziel, sie vollständig oder teilweise zu beseitigen oder sonst zu eigenen Gunsten abzuändern. Das Rechtsmittel muss von einem unzweideutigen Anfechtungswillen getragen sein (OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2016 - 3 OLG 7 Ss 78/16, juris Rn. 4). Das wird allerdings nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die sprachliche Form, in der dieser Wille seinen Ausdruck gefunden hat, ihrerseits unvollkommen, missverständlich oder sonst uneindeutig ist. Bleibt auch nach der durchzuführenden Auslegung der Erklärung der Anfechtungswille unklar, ist der verbleibende Zweifel durch eine Nachfrage zu klären (zutreffend Hoch in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., § 300 Rn. 4 unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 - 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63, 67).
9
2. Hiervon ausgehend war der Kammer bei Anwendung der herkömmlichen Auslegungsgrundsätze nicht klar, ob sich der Beschuldigte mit dem zitierten Schreiben gegen die Verwerfung seines Einspruchs und Wiedereinsetzungsantrags wehren wollte - ob also ein Anfechtungswille vorlag -, wofür möglicherweise der erste Satz des Schreibens sprechen könnte. Dort wirft der Beschuldigte dem Amtsgericht vor, seinen Vortrag und die vorgelegten Beweismittel nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Ob darin auch ein Angriff im Sinne eines Anfechtungswillens liegt oder eher eine resignative Feststellung, bleibt allerdings unklar.
10
Näherliegend schien es der Kammer, dass es dem Beschuldigten vor allem um die Vereinbarung einer Ratenzahlung ging, worauf der Rest des Schreibens deutet. Jedenfalls wird in dem gesamten Schreiben das Wort „Beschwerde“ oder ein sinnverwandter Ausdruck, der als Bezeichnung eines Rechtsmittels verstanden werden könnte, nicht benutzt. Es findet sich in dem Schreiben noch nicht einmal eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Mai 2021. Die Kammer hat weiter bedacht, dass der Beschuldigte kein deutscher Muttersprachler ist und dass er als offensichtlich Nicht-Rechtskundiger und ohne anwaltlichen oder sonstigen Beistand die Voraussetzungen und Erfolgschancen einer sofortigen Beschwerde nicht abschätzen kann. Die Kammer hat schließlich erwogen, dass die vermeintliche Wohltat der Eröffnung einer weiteren Instanz durch eine großzügige Auslegung - die eher eine „Einlegung“ wäre - des Schreibens als sofortige Beschwerde, dem Beschuldigten außer weiteren Kosten (Nr. 3602 KV GKG) wegen handgreiflicher Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels in der Sache nichts gebracht hätte.
11
3. Vor dem Hintergrund der nach alldem verbleibenden Zweifel über das Vorliegen des Anfechtungswillens telefonierte der Kammervorsitzende am 23. Juni 2021 mit dem Beschuldigten. Ergebnis des Telefonats war, dass es dem Beschuldigten letztlich um eine Ratenzahlungsvereinbarung ging. Damit war zugleich der anfangs bestehende Zweifel dahingehend beseitigt, dass der Anfechtungswille - und damit auch eine sofortige Beschwerde - nicht vorlag. Mangels sofortiger Beschwerde im Ausgangspunkt konnte eine Sachentscheidung der Kammer als Beschwerdegericht danach nicht ergehen.
III.
12
Etwaige Kosten des (vermeintlichen) Beschwerdeverfahrens sind beim Beschuldigten nicht zu erheben (§ 21 Abs. 1 Satz 1 GKG).