VG Ansbach, Urteil v. 17.05.2021 – AN 3 K 20.01482
Titel:
Nachbarklage gegen eine Sichtschutzwand
Normenkette:
BayBO Art. 6, Art. 57 Abs. 1, Art. 63 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1
Leitsätze:
1. Als grundsätzliche Faustregel gilt, dass Mauern mit einer mittleren Höhe von über zwei Metern eine gebäudeähnliche Wirkung auslösen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Abstandsflächenvorschriften, die von dem vorhandenen Geländeniveau ausgehen, sollen eine Bebauung gewährleisten, die mit dem gebotenen Nachbarschutz vereinbar ist. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Richtigkeitsvermutung des Grundbuchs erstreckt sich auf den im Liegenschaftskataster dargestellten Grenzverlauf. Stimmen die abgemarkten Grenzpunkte mit den tatsächlichen Eigentumsverhältnissen nicht überein, muss der Eigentümer seine Rechte zunächst im Zivilrechtsweg geltend machen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4. Abweichungen von den Abstandsflächen lassen sich in erster Linie dann rechtfertigen, wenn die strikte Einhaltung des Abstandsflächenrechts aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls mit Blick auf dessen Ziele (Belichtung und Lüftung der Grundstücke) nicht geboten ist. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
5. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 BayBO vor, so ist es regelmäßig ermessensgerecht, die Abweichung zuzulassen, es sei denn, besondere Umstände stünden dem entgegen. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Sichtschutzwand, gebäudeähnliche Wirkung, Befreiung, Atypik, Geländeverlauf, Einfriedung, Stützmauer, Abstandsfläche, Liegenschaftskataster
Fundstelle:
BeckRS 2021, 13620
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 2020, mit welchem der Beigeladenen eine Baugenehmigung für die Errichtung einer Sichtschutzwand erteilt wurde.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstückes FlNr. … der Gemarkung … Südöstlich hiervon befindet sich das im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück FlNr. … der Gemarkung … Die mit Wohngebäuden bebauten Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplanes Nr. „…“ der Gemeinde … aus dem Jahre 1977, welcher Festsetzungen über die Gestaltung von Einfriedungen, welche zu öffentlichen Verkehrsflächen gerichtet sind, enthält.
3
Mit Bescheid vom 1. August 2017 erteilte die Gemeinde … dem Kläger für dessen Gartenumgestaltung hinsichtlich der zu den öffentlichen Verkehrsflächen gelegenen Einfriedung eine isolierte Befreiung von diesen Festsetzungen; hierbei wurde von einem verfahrensfreien Vorhaben ausgegangen. Nach einem Hinweis des Ehemannes der Beigeladenen an das Landratsamt vom 11. September 2017 zu den Gartenbauarbeiten auf dem klägerischen Anwesen wurde der Kläger im Rahmen einer Baukontrolle darauf hingewiesen, dass aufgrund der Überschreitung der maßgeblichen Höhe der errichteten Quadermauer mit Einfriedung von 2 m an mehreren Stellen eine Baugenehmigungspflicht für das Gesamtvorhaben bestehe. Daraufhin erfolgte ein teilweiser Rückbau. Ein Kompromiss zur Gestaltung der Einfriedung und Stützmauer an der Grenze zu dem Grundstück der Beigeladenen konnte damals nicht erzielt werden.
4
Die Beigeladene und ihr Ehemann beantragten sodann mit Bauantrag vom 22. April 2020 eine Baugenehmigung sowie eine Abweichung für die Errichtung einer Sichtschutzwand an der Grenze zu dem klägerischen Grundstück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass aufgrund der klägerseits erfolgten Auffüllung des Hanggrundstückes FlNr. … der Gemarkung … zur Wiederherstellung der Privatsphäre eine Sichtschutzwand in der beantragten Höhe erforderlich sei. Dem Bauantrag beigefügt wurden die handgezeichneten Pläne „Ansicht Ost“ sowie „Schnitt A-A“ (jeweils Maßstab 1:50), wonach der geplante Sichtschutz im oberen Bereich (Richtung Norden) eine Höhe ab 1,80 m sowie im unteren Bereich (Richtung Süden) von bis zu 3,00 m aufweist. Als unterer Bezugspunkt für die Höhenermittlung wurde der im Rahmen der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses mit Doppelgarage vom 7. Februar 1991 festgelegte Geländeverlauf herangezogen.
5
Mit Beschluss des Gemeinderates vom 28. Mai 2020 erteilte die Gemeinde … ihr Einvernehmen zu dem Vorhaben.
6
Mit Bescheid vom 7. Juli 2020 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung einer Sichtschutzwand als sonstige bauliche Anlage unter Gewährung einer Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Westen. In den Bescheidgründen wird ausgeführt, dass die Abweichung gewährt werden könne, da sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Das von der Abweichung betroffene klägerische Anwesen FlNr. … der Gemarkung … sei ein Hanggrundstück, welches in Teilbereichen aufgefüllt worden sei und oberhalb des Beigeladenengrundstückes FlNr. … der Gemarkung … liege.
7
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten, das am 3. August 2020 bei Gericht einging, Klage.
8
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung vorliegend nicht erfüllt seien. Der Kläger sei bereits vor einigen Jahren erfolglos mit der Frage nach einem gemeinsamen Sichtschutz an die Familie … herangetreten. Sodann habe der Kläger einen Sichtschutz, welcher an keiner Stelle eine Höhe von 2 m überschreite, errichtet. Schon damals sei es deswegen sowie aufgrund des klägerischen Gartenhauses zu Streitigkeiten gekommen. Nachdem die Beigeladene auf die Einhaltung der Abstandsflächen beharrt habe, sei das Gartenhaus 3 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernt aufgestellt worden. Zuletzt sei im Zuge der Vermittlungsbemühungen des Beklagten angedacht worden, dass der Kläger die Abweichung von den Abstandsflächen hinsichtlich des Sichtschutzes akzeptiere und die Beigeladene ihrerseits der Versetzung des klägerischen Gartenhauses an die Grundstücksgrenze zustimme. Dies habe die Beigeladene kategorisch abgelehnt.
9
Der streitgegenständliche Bescheid gehe von falschen Gegebenheiten aus, nachdem darin ausgeführt worden sei, dass das klägerische Grundstück oberhalb des Beigeladenengrundstückes liege. Denn die Beigeladene und ihr Ehemann hätten zu einem unbekannten Zeitpunkt vor einigen Jahren auf ihrem Grundstück im oberen Bereich Aufschüttungen sowie im unteren Bereich Abgrabungen vorgenommen. Hierdurch liege das Beigeladenengrundstück im oberen Bereich der Grundstücksgrenze circa 1,35 m höher sowie im unteren Bereich teilweise niedriger als das klägerische Grundstück. Ob diese Abgrabungen und Aufschüttungen überhaupt genehmigt worden seien, sei unklar und zu prüfen. Aufgrund der hierdurch entstandenen Terrassierung des Beigeladenengrundstückes werde der von der Beigeladenen beabsichtigte Sichtschutz den auf der Klägerseite vorhandenen Sichtschutz aus der Perspektive des Klägers erheblich überragen; so werde der Sichtschutzzaun im hinteren Bereich eine Gesamthöhe von 3,15 m (1,35 m Aufschüttung plus 2 m Zaunhöhe) erreichen und damit mindestens 1,15 m höher sein als der klägerische Sichtschutz. Dies führe zu Beeinträchtigungen hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Sozialabstand. Im Übrigen erfülle der Sichtschutz seinen Zweck ohnehin nicht, nachdem dieser aufgrund der Aufschüttung auf dem Grundstück der Beigeladenen aus deren Perspektive lediglich 1,80 m hoch sei, so dass man problemlos über diesen herüber auf das tiefer liegende Grundstück der Kläger herunterschauen könne. Der Begründung des inmitten stehenden Bescheides sei indes nicht zu entnehmen, ob und welche gewichtigen Gründe für die Erteilung einer Abweichung vorliegen bzw. inwieweit eine Schmälerung der Interessen des Klägers durch überwiegende Interessen der Beigeladenen oder öffentliche Belange gerechtfertigt sei. Zu berücksichtigten sei hierbei insbesondere, dass die übermäßige Beeinträchtigung des Klägers letztlich durch die Terrassierung und damit verbundene Beseitigung des zuvor einheitlichen Gefälles durch die Beigeladene seinerzeit selbst geschaffen worden sei. Hinzu komme, dass auf dem Klägergrundstück bereits ein Sichtschutzzaun errichtet worden sei.
10
In formeller Hinsicht sei zu kritisieren, dass eine sachgerechte Ermittlung, Abwägung und Würdigung der berührten Belange ausweislich der Bescheidbegründung nicht stattgefunden habe.
11
Der Kläger beantragt,
Die Baugenehmigung des Beklagten vom 7. Juli 2020 wird aufgehoben.
12
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die streitgegenständliche Abweichung erfüllt seien. Diese habe insbesondere unter Abwägung des Interesses der Beigeladenen, denselben Schutz sozialverträglichen Wohnens wie der Kläger zu erhalten - nämlich einen den Blicken des Nachbarn weitgehend entzogenen Rückzugsbereich im Garten -, mit den Interessen des Klägers im Hinblick auf eine Beeinträchtigung von Belichtung, Belüftung und Besonnung sowie Wohnfrieden gewährt werden können.
14
Der Kläger habe seinen Garten umgestaltet und hierfür im Westen, Süden und Osten seines Anwesens eine Mauer aus Granitquadersteinen errichtet. Hierbei sei der südliche Grundstücksteil unter Aufschüttung des Geländes neu profiliert worden, wobei der bislang nach Süden abfallende Grundstücksteil im Wesentlichen eingeebnet worden sei. An der östlichen Grundstücksgrenze betrage die Gesamthöhe von Mauer und Aufschüttung im grenznahen Bereich nun bis zu 2 m. Auf der neu gestalteten Ebene seien sodann ein Pool sowie diverse Nebengebäude, darunter ein 2,20 m hohes und 6,70 m langes Gartenhaus (Poolhaus) mit einem Abstand von 3 m zu dem Grundstück der Beigeladenen, errichtet worden. Zwischenzeitlich habe der Kläger entlang der Grenze zu den Grundstücken FlNrn. … und … der Gemarkung … östlich vor der Aufschüttung bzw. Quadersteinmauer eine bis zu 2 m hohe Sichtschutzwand errichtet.
15
Die inmitten stehende Sichtschutzwand der Beigeladenen weise im Süden eine Höhe von bis zu 3 m sowie im Norden von bis zu 1,80 m auf. Unterer Bezugspunkt für die Höhenermittlung sei dabei der im Rahmen der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses mit Doppelgarage vom 7. Februar 1991 festgelegte Geländeverlauf. Wie der Westansicht der damals genehmigten Bauvorlagen zu entnehmen sei, sei seinerzeit der Geländeverlauf durch Terrassierung angepasst worden. Hierbei sei es im nördlichen Grundstücksteil zu einer Aufschüttung sowie im südlichen Teil zu einer Abgrabung des natürlichen Geländes gekommen.
16
Fraglich sei im vorliegenden Fall indes bereits, ob vor der Sichtschutzwand der Beigeladenen überhaupt Abstandsflächen einzuhalten seien, da für bauliche Anlagen, die keine Gebäude sind, nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO die Einhaltung von Abstandsflächen nur erforderlich sei, wenn von diesen Anlagen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen. Dies könne in dem hier zu entscheidenden Fall jedoch dahingestellt bleiben, da sowohl für diese Frage als auch für eine positive Abweichungsentscheidung letztlich ausschlaggebend sei, dass die Bedürfnisse nach ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Ermöglichung eines sozialverträglichen Wohnens unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange nicht beeinträchtigt werden. Die von dem Kläger geschaffene Freifläche befinde sich im Bereich der im südlichen Grenzverlauf bis zu 3 m hohen Sichtschutzwand topographisch auf deutlich höherem Niveau als das Beigeladenengrundstück. Aufgrund der klägerseits vorgenommenen Aufschüttung überrage die streitgegenständliche Sichtschutzwand das Geländeniveau auf dem Klägergrundstück um maximal 2 m. Bei Sichtschutzzäunen sei regelmäßig erst ab einer Höhe von mehr als 2 m von einer gebäudeähnlichen Wirkung bzw. einer Beeinträchtigung des Schutzzweckes des Abstandsflächenrechtes auszugehen. Auch die Prüfung, ob im vorliegenden Einzelfall die durch das Abstandsflächenerfordernis besonders geschützten nachbarlichen Belange betroffen sind, führe zu keinem anderen Ergebnis. Der zu Freizeitzwecken genutzte Gartenbereich des Klägers befinde sich westlich des von ihm errichteten Nebengebäudes und hinter einer von ihm selbst geschaffenen Sichtschutzwand, so dass eine nennenswerte Beeinträchtigung von Belichtung, Besonnung und Belüftung dieses Areals ausgeschlossen werden könne. Im Hinblick auf den Schutz sozialverträglichen Wohnens habe der Kläger bereits durch die Gestaltung seines Grundstückes zu erkennen gegeben, dass es auch ihm um eine möglichst geschlossene und umfassende Unterbrechung der Sichtverbindung zwischen seinem Grundstück und dem der Beigeladenen gehe. Dies werde untermauert durch den klägerischen Vortrag, wonach der Sichtschutz der Beigeladenen seinen Zweck nicht erfülle, da man in Teilbereichen auf das Grundstück des Klägers blicken könne.
17
Im Übrigen widerspreche der streitgegenständliche Sichtschutz auch nicht den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. „…“ der Gemeinde … Eine Verletzung des vorliegend in § 15 Abs. 1 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebotes durch die Sichtschutzwand der Beigeladenen setze indes voraus, dass der Kläger in qualifizierter und individualisierbarer Weise tatsächlich betroffen sei und diese Betroffenheit das Maß des in dem Baugebiet Zumutbaren überschreite. Eine diesbezüglich erforderliche erdrückende Wirkung durch ein übergroßes Vorhaben sei vorliegend ausgeschlossen.
18
Der Klägervertreter replizierte hierzu, dass zunächst in einem ersten Schritt zu prüfen sei, ob die von der Beigeladenen vorgenommenen Terrassierung rechtmäßig erfolgt sei. Des Weiteren sei zu prüfen, ob bei der Messung der Höhe des Sichtschutzes der Beigeladenen von dem ursprünglichen, natürlichen Geländeverlauf oder von dem durch die Terrassierung künstlich geschaffenen Geländeverlauf auszugehen sei. Sofern die vorgenommenen Aufschüttungen und Abgrabungen nicht genehmigt worden seien, sei nach Auffassung der Klägerseite von dem ursprünglichen Geländeverlauf auszugehen. Dies sei auch immer noch nachvollziehbar, nachdem auf dem Klägergrundstück entlang der Grundstücksgrenze seit Jahren unveränderte Rabatten vorhanden seien. Ein weiterer unbeleuchteter Aspekt sei die Frage, wie es sich mit den Grenzsteinen an der Grundstücksgrenze verhalte. Im Rahmen eines Ortstermines habe der Ehemann der Beigeladenen beiläufig erwähnt, dass er im Rahmen der Abgrabung seinerzeit einen Grenzstein versetzt habe. Mithin sei nicht nur hinsichtlich der erfolgten Terrassierung, sondern auch bezüglich des Grenzverlaufs keine ausreichend klare Sachlage gegeben, um rechtliche Bewertungen vornehmen zu können.
19
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Behörden- und Gerichtsakten sowie die Niederschrift über den gerichtlichen Augenschein und die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2021.
Entscheidungsgründe
21
Die zulässige Klage ist unbegründet.
22
Der streitgegenständliche Bescheid vom 7. Juli 2020 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
23
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung, die gemäß Art. 68 Abs. 1 BayBO zu erteilen ist, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, entgegenstehen, haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass die Nachbarn durch die Genehmigung zugleich in ihren Rechten verletzt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies ist nur dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. etwa BVerwG, U.v. 6.10.1989 - 4 C 14.87 - juris).
24
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Durch das inmitten stehende Vorhaben wird der Kläger nicht in Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die dem Schutz seiner individuellen Interessen dienen, verletzt.
25
1. Die der Beigeladenen gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilte Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen ist rechtlich nicht zu beanstanden.
26
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten. Diese für Gebäude getroffenen Regelungen gelten sinngemäß für andere bauliche Anlagen sowie andere Anlagen und Einrichtungen, wenn von diesen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen, Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO.
27
a) Die streitgegenständliche Sichtschutzwand der Beigeladenen, welche sich grenzständig zu dem klägerischen Grundstück weitgehend auf eine Höhe von über 2 m erstreckt und damit gemäß Art. 57 Abs. 1 Nr. 7a BayBO nicht verfahrensfrei ist, weist eine gebäudeähnliche Wirkung auf, so dass eine Abstandsfläche von 1 H, mindestens 3,00 m, einzuhalten ist. Eine zulässige Errichtung der streitgegenständlichen Sichtschutzwand ohne Einhaltung einer Abstandsfläche gemäß Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO scheidet indes vorliegend bereits deshalb aus, weil die Sichtschutzwand die in dieser Vorschrift festgelegte Höhe von 2,00 m überschreitet. Aus der Freistellung von geschlossenen Einfriedungen bis zu einer Höhe von zwei Metern in Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO ergibt sich, dass eine mittlere Höhe von über zwei Metern eine gebäudeähnliche Wirkung auslöst (BayVGH, B.v. 29.4.2020 - 15 ZB 18.946 - juris Rn. 12). Als grundsätzliche „Faustregel“ gilt, dass eine gebäudeähnliche Wirkung von „Mauern“ über 2 m Höhe stets, von Mauern zwischen 1,50 und 2 m Höhe nach Lage des Einzelfalls ausgeht (vgl. etwa BayVGH, U.v. 7.8.2009 - 15 B 1239 - juris Rn. 17 m.w.N.). Den unteren Bemessungspunkt für die Berechnung der Wandhöhe eines Vorhabens bildet dabei nach Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO die Geländeoberfläche. Dabei differenziert der Gesetzgeber seit der Neufassung im Jahre 2008 nicht mehr zwischen natürlicher oder festgelegter Geländeoberfläche, so dass grundsätzlich auf das vorhandene Geländeniveau auf dem Baugrundstück abzustellen ist. Etwas anderes gilt dann, wenn die Geländeoberfläche im Zusammenhang mit dem zur Genehmigung gestellten Bauvorhaben ohne rechtfertigenden Grund verändert worden ist. Auch ohne direkten Bezug zu dem Bauvorhaben herbeigeführte Niveauveränderungen durch Aufschüttungen oder Abgrabungen können zu Lasten des Bauherrn berücksichtigt werden, um einem missbräuchlichen sukzessiven Vorgehen wirksam entgegenwirken zu können. Dabei verlangen die Regelungen der Abstandsflächen aber nicht, dass ein ursprüngliches Gelände heranzuziehen ist, das weit in der Vergangenheit einmal vorhanden war und in der Zwischenzeit verändert wurde. Die Abstandsflächenvorschriften sollen in Gegenwart und Zukunft eine Bebauung gewährleisten, die mit den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und dem gebotenen Nachbarschutz vereinbar ist. Es soll deshalb vermieden werden, durch Manipulationen des Geländes die gesetzlichen Regelungen zu unterlaufen. Ist die Geländeoberfläche in den letzten 30 Jahren nicht verändert worden, so ist allein der Zeitablauf ausreichend, um von der Rechtmäßigkeit der Veränderung auszugehen. Aber auch eine kürzere Frist kann genügen, um von einer in der Vergangenheit veränderten Geländeoberfläche auszugehen. Es kommt entscheidend auf die Umstände des Einzelfalls an (BayVGH, B.v. 7.11.2017 - 1 ZB 15.1839 - juris Rn. 5 f.).
28
Nach diesen rechtlichen Maßgaben sind die vorliegend von der Beigeladenen gewählten und von dem Beklagten der Abweichung zugrunde gelegten Bezugspunkte für die Höhe der streitgegenständlichen Sichtschutzwand nicht zu beanstanden. Seit wann der in den Bauvorlagen der Beigeladenen dargestellte Geländeverlauf zwischen den streitgegenständlichen Grundstücken in der heutigen Ausgestaltung vorhanden ist, kann dahingestellt sein. Selbst wenn das Gelände in dem hier verfahrensgegenständlichen Grenzbereich möglicherweise „erst“ mit Errichtung des im Jahre 1991 bauaufsichtlich genehmigten Einfamilienhauses verändert worden sein sollte, ist dieses aufgrund der zugunsten der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung sowie überdies des Zeitablaufes als vorhandenes Geländeniveau zugrunde zu legen.
29
Im Übrigen ist im Hinblick auf eine etwaige Grenzsteinversetzung seitens der Beigeladenen darauf hinzuweisen, dass eine von der katastermäßigen Eintragung der Grundstückgrenze abweichende Lage der Grenzsteine ohne Folge für die Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung ist. Maßgeblich ist nicht die Lage der Grenzsteine, sondern der Grenzverlauf des Baugrundstückes, wie er sich aus dem zu den Bauvorlagen gehörenden Auszug aus dem Katasterkartenwerk (§ 1 Abs. 1 Nr. 7, § 7 Abs. 1 BauVorlV) ergibt. Denn die Richtigkeitsvermutung des Grundbuches (§ 891 BGB) bezüglich der Eigentumsverhältnisse an einem Grundstück erstreckt sich auf den im Liegenschaftskataster dargestellten Grenzverlauf. Stimmen das Liegenschaftskataster oder die abgemarkten Grenzpunkte mit den tatsächlichen Eigentumsverhältnissen nicht überein, muss der Eigentümer seine Rechte (§§ 985 ff., §§ 919 f. BGB) zunächst im Zivilrechtsweg geltend machen (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 14.6.2007 - 1 CS 07.265 - juris Rn. 31).
30
b) Gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen der Bayerischen Bauordnung und aufgrund derer erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Diese Voraussetzungen sind in dem hier zu entscheidenden Fall erfüllt.
31
aa) Die Abweichung ist „unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung“, vorliegend mithin der Anforderungen des Abstandsflächenrechts, vertretbar.
32
Die Anforderungen des Abstandsflächenrechts sollen Gebäudeabstände und dadurch in erster Linien eine ausreichende Belichtung und Lüftung der Grundstücke gewährleisten sowie sicherstellen, dass Flächen für Nebenanlagen frei bleiben (BayVerfGH, E.v. 12.5.2004 - Vf. 7-VII-02 - juris Rn. 38 f.). Das Abstandsflächenrecht ist in diesem Sinn ausreichend berücksichtigt und folglich ein Zurückbleiben hinter dem angestrebten Schutzniveau vertretbar, wenn die strikte Einhaltung des Abstandsflächenrechts aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls mit Blick auf dessen Ziele nicht geboten ist. Abweichungen von den Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO lassen sich deshalb in erster Linie dann rechtfertigen, wenn Gründe vorliegen, durch die sich der Einzelfall vom gesetzlichen Regelfall unterscheidet und wegen derer die Einbuße an Belichtung und Lüftung zu vernachlässigen ist. Dabei vermögen insgesamt nur objektive Gründe und nicht etwa subjektive Gesichtspunkte, die speziell den Bauherrn betreffen, eine Abweichung rechtfertigen. Diese können sich beispielsweise - wie vorliegend bei den in Hanglage befindlichen Grundstücken der Beteiligten - aus einem besonderen Grundstückszuschnitt sowie der Lage und des Zuschnitts der benachbarten Grundstücke zueinander oder topographische Besonderheiten des Geländeverlaufs ergeben (vgl. hierzu etwa BayVGH, U.v. 28.7.2009 - 22 BV 08.3427 - juris Rn. 29 m.w.N.), so dass in dem hier zu entscheidenden Fall das Erfordernis der Atypik erfüllt und eine etwaige Einbuße an Belichtung und Lüftung - welche aufgrund der bei der Inaugenscheinnahme erlangten Erkenntnisse der Kammer an sich bereits fraglich ist - zu vernachlässigen ist. Seit wann der Geländeverlauf auf Seiten der Beigeladenen in der heutigen Ausgestaltung vorhanden, kann insoweit dahingestellt sein, da dieser - wie bereits oben ausgeführt - jedenfalls mit Erteilung der Baugenehmigung für das Wohngebäude der Beigeladenen genehmigt wurde und im Übrigen seit mindestens 30 Jahren vorhanden ist.
33
bb) Die nachbarlichen Interessen sind hinreichend gewürdigt. In Anbetracht der beschriebenen besonderen örtlichen Situation sind weitere zu würdigende nachbarliche Interessen nicht betroffen. Über die Sichtbarkeit der Wand hinausgehende und durch die Abweichung berührte Interessen hat der Kläger nicht geltend gemacht. Irgendeine auch nur näherungsweise erdrückende oder bedrückende Wirkung auf das klägerische Wohngrundstück, dessen Gebäude und Terrassenbereich sich im nördlichen Teil des Anwesens befinden, während in dem südlichen Teil des Grundstückes, dem weitläufigen Gartenbereich, in welchem die streitgegenständliche Sichtschutzwand ihre maximale Höhe erreicht, in Grenznähe lediglich das klägerische Nebengebäude (Poolhaus) sowie der dahinterliegenden Schottergarten vorhanden sind, geht von der Sichtschutzwand nicht aus. Auch insoweit kommt es nur auf objektive, nicht auf subjektive Gesichtspunkte an.
34
Zu beachten ist im Übrigen auch, dass die Sichtschutzwand der Beigeladenen in dem südlichen Bereich aufgrund der klägerseits angebrachten circa 1 m hohen Quadersteine, hinter welchen der Sichtschutz errichtet werden soll, für den Kläger faktisch lediglich in einer Höhe von circa 2 m und überdies weitgehend auch lediglich bei einem Aufenthalt im Bereich hinter dem Poolhaus sichtbar ist. Unbeachtlich ist indes, ob und wie der Kläger die bauliche Gestaltung des südlichen Grundstücksbereiches irgendwann zu ändern beabsichtigt. Des Weiteren vermag auch der klägerische Einwand, dass die streitgegenständliche Sichtschutzwand ihren Zweck nicht erfüllen könne, da aufgrund der niedrigen Höhe stellenweise über diese geschaut werden könne, der inmitten stehenden Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Hierdurch sowie durch die Gestaltung seines Grundstückes hat der Kläger vielmehr zu erkennen gegeben, dass es auch ihm um eine möglichst umfassende Unterbrechung der Sichtverbindung zwischen seinem Grundstück und dem der Beigeladenen geht.
35
cc) Die Abweichung ist auch mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Insbesondere sind die allgemeinen Anforderungen an bauliche Anlagen gewahrt, Art. 3 Abs. 1 BayBO.
36
dd) Ferner ist die Abweichung ermessensfehlerfrei zugelassen worden. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 BayBO vor, so ist es regelmäßig ermessensgerecht, die Abweichung zuzulassen, es sei denn, besondere Umstände stünden dem entgegen (BayVGH, U.v. 25.11.2004 - 15 B 03.245 - juris Rn. 18). Solche Umstände sind vorliegend weder vorgetragen noch erkennbar.
37
2. Aus den unter Ziffer 1 c) bb) genannten Gründen verstößt das streitgegenständliche Vorhaben auch nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Daher kann es auch auf sich beruhen, ob die Bebauung im südlichen Bereich des klägerischen Grundstückes selbst Abstandsflächen zu dem Beigeladenengrundstück hin einzuhalten gehabt hätte und gegebenenfalls nicht vollständig einhält.
38
3. Eine Rechtsverletzung des Klägers ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß gegen bauleitplanerische Festsetzungen. Der qualifizierte Bebauungsplan Nr. … „…“ der Gemeinde … aus dem Jahre 1977 enthält lediglich Festsetzungen über die Gestaltung von Einfriedungen, welche zu öffentlichen Verkehrsflächen gerichtet sind.
39
Nach alldem war die Klage abzuweisen.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO. Nachdem die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO), trägt sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst (vgl. hierzu etwa BayVGH, U.v. 4.8.2017 - 15 N 15.1713 - juris Rn. 50).