Inhalt

LG München I, Beschluss v. 01.04.2021 – 37 O 19200/17
Titel:

Geheimnisschutz bei Geschäftsgeheimnisverwertung in Gutachten

Normenketten:
ZPO § 142, §
GWB § 33b, § 89g
Leitsätze:
1. Bei den detaillierten Informationen zu Preisen, Kosten, Gewinnmargen, Kunden, Vertriebswegen und -strategien etc. handelt es sich um Informationen, hinsichtlich derer ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung besteht und die nicht allgemein bekannt oder zugänglich sind. Sie sind zudem Gegenstand von Geheimhaltungsmaßnahmen (vgl. § 2 Nummer 1 GeschGehG). Die Informationen lassen Rückschlüsse auf das Wettbewerbsverhalten der Hersteller zu. Ihre Offenbarung kann daher geeignet sein, das Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer insgesamt zu beeinflussen und damit auch zu beeinträchtigen. Damit liegt die Geheimhaltung zugleich im öffentlichen Interesse an der Integrität des Wettbewerbs.  (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Anordnung der Offenlegung von Informationen berührt die Hersteller in ihrer Berufsfreiheit gemäß Art. GG Artikel 12 GG sowie ihr Eigentumsgrundrecht gemäß Art. GG Artikel 14 GG bzw. die entsprechenden europarechtlich garantierten Grundrechte. Der Eingriff bedarf daher der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die grundsätzlich aus dem Anspruch der Klagepartei auf effektiven Rechtsschutz folgt. Diese Grundrechtspositionen sind durch geeignete Maßnahmen, die einerseits den Schutz der Geschäftsgeheimnisse wahren und andererseits den effektiven Rechtsschutz sichern, in Ausgleich zu bringen.  (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist grundsätzlich als Beweismittel unverwertbar, wenn es auf Geschäftsunterlagen beruht, die eine der Parteien nur dem Sachverständigen, nicht auch dem Gericht und der Gegenpartei zur Verfügung gestellt hat. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit der Anschlusstatsachen eines Gutachtens gemäß § 357 ZPO gilt jedoch nicht. Ein sog. „in camera-Verfahren“ ist im deutschen Prozessrecht zwar nicht etabliert, in einzelnen Zusammenhängen wird die Einschränkung von Einsichtsrechten aber praktiziert.  (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Geheimnisschutz setzt sich an den Inhalten des Gutachtens, schriftsätzlichen Stellungnahmen, gerichtlichen Entscheidungen sowie der Erörterung in der mündlichen Verhandlung oder bei der Anhörung der Sachverständigen fort, wenn und soweit dort Vertrauliche Informationen enthalten sind oder konkret darauf Bezug genommen wird, da die Schutzanordnung ansonsten ins Leere ginge. Dem Anspruch auf Kenntnis der Parteien (Klagepartei und ggf. Streithelfer) kann in erster Linie durch Zusammenfassungen Rechnung getragen werden. Wo dies nicht möglich ist, zum Beispiel, weil die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen Ausführungen beeinträchtigt wäre, können nur Beschränkungen der Einsichtsrechte der Partei durch Schwärzungen und die Wahrung der Vertraulichkeit auch durch Parteivertreter und Privatsachverständige den notwendigen Schutz gewährleisten.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Geschäftsgeheimnis, Gutachtenerstellung, Offenlegung, Geheimnisschutz
Fundstellen:
WuW 2021, 531
BeckRS 2021, 12925
LSK 2021, 12925
NZKart 2021, 419

Tenor

I. Offenlegung von Informationen zum Zwecke der Beweisaufnahme
Die Beklagten 1/2) haben die von den Sachverständigen mit Schreiben vom 25.05.2020 und Anlage (Bl. 1079 d.A.) angeforderten Informationen nach Maßgabe der Verfügbarkeit und des folgenden Schutzkonzeptes für Vertrauliche Informationen offenzulegen.
Vertrauliche Informationen sind die angeforderten Rohdaten der Hersteller sowie daraus abgeleitete Zusammenfassungen, Berechnungen und Tabellen, außerdem Dokumente, Gutachten, Schriftsätze und mündlicher Vortrag, wenn und soweit die Vertraulichen Informationen dort identifizierbar sind.
II. Anonymisierung
Die Auswahl der Informationen erfolgt in Abstimmung mit den Gerichtsachverständigen auf der Grundlage des vorläufigen Konzeptes und seiner Fortschreibung. Zum Schutz der Informationen sind Anonymisierungen zulässig. Die Anonymisierung von Informationen ist mit dem Gericht und den Gerichtssachverständigen abzustimmen. Die Möglichkeit der Plausibilisierung der anonymisierten Informationen und/oder eine stichprobenweise Überprüfbarkeit ist zu gewährleisten. Soweit elektronische Daten in bearbeiteter Form vorgelegt werden, sind die Bearbeitungsschritte zu kennzeichnen und nachvollziehbar zu machen.
III. Gerichtssachverständige
1.Die Übermittlung der durch die Gerichtssachverständigen angeforderten Informationen hat auf Veranlassung der Beklagten unter Beachtung geeigneter Schutzmaßnahmen zu erfolgen. Die Gerichtssachverständigen haben für die Datensicherung und -speicherung ein Schutzkonzept vorgelegt (Schreiben vom 24.03.2021), hierauf wird Bezug genommen. Der Zugriff Dritter auf die dort abgelegten Informationen erfolgt nach Maßgabe dieses Beschlusses.
2.Die Gerichtssachverständigen haben Mitarbeiter, die Zugriff auf die Vertraulichen Informationen haben, namentlich gegenüber dem Gericht zu benennen und zur Vertraulichkeit zu verpflichten.
3.Die Vertraulichen Informationen einschließlich sämtlicher, auch teilweiser Vervielfältigungen, Auszüge, Auswertungen u. ä. sind mit rechtskräftigem Abschluss oder anderweitiger Beendigung des Verfahrens dauerhaft zu löschen bzw. zu vernichten. Soweit die Vertraulichen Informationen zugleich in weiteren Verfahren vor der Kammer für die Begutachtung zur Verfügung gestellt wurden, ist die Vernichtungspflicht bis zum zeitlich letzten rechtskräftigen Abschluss eines dieser Verfahren ausgesetzt. Dies ist, ebenso wie die Vernichtung, zu dokumentieren und auf Verlangen dem Gericht nachzuweisen.
4.Bei Abfassung des Gutachtens ist die Vertraulichkeit zu gewährleisten. In einem „parteiöffentlichen“ Teil sind Ergebnisse und Gang der Untersuchung möglichst ohne Offenlegung der vertraulichen Informationen darzulegen, es sei denn, die Verständlichkeit und die notwendige Begründung der Ergebnisse erfordern dies. In diesem Fall sind die vertraulichen Bestandteile des Gutachtens zu schwärzen, ggf. können vertrauliche Teile in einem gesondert gekennzeichneten Anhang dargestellt werden. In diesem Fall sind eine vertrauliche und eine nicht vertrauliche Fassung mit Schwärzungen vorzulegen. In der vertraulichen Fassung sind die Textbestandteile, die in der nichtvertraulichen Fassung geschwärzt sind, gesondert zu kennzeichnen. In streitigen Fällen entscheidet das Gericht nach Anhörung über den Umfang der Vertraulichkeit.
5.Die Vertraulichen Informationen dürfen nur für die Zwecke der Begutachtung verwendet werden.
IV.Parteien, Prozessvertreter und Privatsachverständige
Die Beklagten können die Herausgabe der Vertraulichen Informationen von dem Abschluss einer inhaltlich angemessenen Vertraulichkeitsvereinbarung mit der Klagepartei abhängig machen. Die Beklagten/Streithelferinnen untereinander haben ein Recht auf Einsicht in die von einer anderen beklagten Partei offen gelegten Vertraulichen Informationen nur bei Abschluss einer inhaltlich angemessenen Vertraulichkeitsvereinbarung. Sofern die Streitverkündeten dem Streit beitreten, erhalten sie Einsicht in die Vertraulichen Informationen nur bei Abschluss einer ebensolchen Vertraulichkeitsvereinbarung. Die Parteien formulieren die Vertraulichkeitsvereinbarung im Verhandlungswege in eigener Verantwortung.
Inhaltlich angemessen ist eine Vereinbarung, die folgende Maßgaben berücksichtigt:
1.Übermittlung, Speicherung und Löschung
a.Die Übermittlung der durch die Gerichtssachverständigen angeforderten Vertraulichen Informationen (Rohdaten) hat auf Veranlassung der Beklagten unter Beachtung geeigneter Schutzmaßnahmen an einen von der Klagepartei benannten und beauftragten Privatsachverständigen und/oder den Prozessvertreter zu erfolgen.
b.Hinsichtlich der Vertraulichen Informationen, auch soweit sie in Stellungnahmen, Gutachten, Schriftsätzen oder Übersichten dargestellt oder verarbeitet sind, gewährleisten die Parteivertreter in angemessener Weise die Vertraulichkeit bei der Eingangsbehandlung.
c.Die vertraulichen Informationen, auch soweit sie in Stellungnahmen, Gutachten, Schriftsätzen oder Übersichten dargestellt oder verarbeitet sind, sind auf einem gesicherten Speicherplatz des Empfängers abzulegen. Die gesicherte Ablage ist zu dokumentieren, die Dokumentation ist auf Verlangen des Gerichts oder der Beklagten vorzulegen.
d.Die vertraulichen Informationen, einschließlich sämtlicher, auch teilweiser Vervielfältigungen, Auszüge, Auswertungen u. ä. sind mit rechtskräftigem Abschluss oder anderweitiger Beendigung des Verfahrens dauerhaft vollständig zu löschen bzw. zu vernichten einschließlich sämtlicher Kopien, Auszüge oder Vervielfältigungen.
Sofern eine längere Aufbewahrungspflicht aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Aufbewahrungspflichten besteht, ist die Verpflichtung zur Löschung für diesen Zeitraum ausgesetzt. Von diesem Umstand ist unter Benennung der gesetzlichen Pflicht und ihrer konkreten Dauer unmittelbar nach Abschluss des Verfahrens dem Gericht und der Beklagten/ Streithelferin Mitteilung zu machen. Die Datensicherheit ist dauerhaft zu gewährleisten.
Die Löschung/Vernichtung ist zu dokumentieren, die Dokumentation ist auf Verlangen der Kammer vorzulegen.
2.Zugang zu den Vertraulichen Informationen
a.Auf die vertraulichen Informationen dürfen nur zuvor namentlich benannte Personen in angemessener Anzahl Zugriff haben, mithin:
-die jeweiligen Prozessvertreter und Mitarbeiter;
-zum Verfahrensgegenstand beauftragte Parteisachverständige und deren Mitarbeiter unter der Voraussetzung, dass sich diese in einer gesonderten Erklärung einer entsprechenden Vertraulichkeitsvereinbarung unterwerfen;
b.  Name und Funktion der Personen sind zu benennen und der Vertraulichkeitsvereinbarung als Anlage beizufügen. Für den Fall der Änderung des Personenkreises ist ein von den Parteien als praktikabel erachtetes Verfahren vorzusehen.
c.Die Klagepartei erhält keinen Einblick in die Vertraulichen Informationen. In dem Gutachten und seinen Grundlagen, Stellungnahmen der Privatsachverständigen und Schriftsätzen können konkrete Bezugnahmen auf die Vertraulichen Informationen geschwärzt werden. Die Schwärzungen sind auf ein Minimum zu begrenzen und auf Verlangen zu begründen, so dass eine gerichtliche Entscheidung gemäß V. 2. herbeigeführt werden kann.
3.Umgang mit Vertraulichen Informationen
a.Die offengelegten Informationen sind von allen zugangsberechtigten Personen vertraulich zu behandeln.
Die Vertraulichen Informationen dürfen nur für die Zwecke der angeordneten Beweisaufnahme im Verfahren, insbesondere zur Prüfung der Datengrundlage des Gerichtsgutachtens sowie des Gerichtsgutachtens selbst verwendet werden.
Die Vertraulichen Informationen dürfen für außerhalb dieses Verfahrens liegende Zwecke nicht genutzt oder offengelegt werden, es sei denn, dass die jeweilige Partei davon außerhalb des Verfahrens Kenntnis erlangt hat oder erlangt oder es sich um eigene Vertraulichen Informationen handelt. Auf eine Kenntnis aus Verfahren, die auf der Offenlegung in anderen Verfahren im Rahmen der Begutachtung durch die Gerichtssachverständigen beruht, können sich die Beteiligten dabei nicht berufen.
Diese Verpflichtung gilt vorbehaltlich einer anderweitigen gerichtlichen Entscheidung durch Beschluss oder Urteil nach Abschluss des Verfahrens fort, soweit nicht anderweitig Offenkundigkeit eingetreten ist.
b.Die Parteien sind berechtigt, einzelne Teile, Auswertungen oder Darstellungen der Vertraulichen Informationen in Schriftsätzen, Stellungnahmen und Gutachten im Rahmen des streitgegenständlichen Verfahrens wiederzugeben. Zum Schutz der Vertraulichkeit sind die Anordnungen gemäß Ziffer V. 2. zu wahren.
4.Die Vereinbarung ist mit einer Vertragstrafeklausel zu versehen, die die Haftung der jeweiligen Partei für schuldhafte Verstöße der Mitarbeiter oder der Sachverständigen umfasst. Die Festsetzung der Höhe der Vertragsstrafe ist in das Ermessen des Gerichts zu stellen.
V.Gericht
1.Soweit in Schriftsätzen oder Gutachten der konkrete Inhalt der Vertraulichen Informationen referiert wird oder der Inhalt sonst in einer die Vertraulichkeit gefährdenden Art und Weise dargestellt wird, sind die entsprechenden Bestandteile des Schriftsatzes, der Stellungnahme oder des Gutachtens gesondert zu kennzeichnen.
Eine Fassung ohne die der Vertraulichkeit unterliegenden Bestandteile (bzw. mit Schwärzungen) ist zu erstellen und jeweils - möglichst zeitgleich - beizufügen. Schriftsätze und Dokumente, die vertrauliche Bestandteile enthalten, sind auf dem Dokument und bei elektronischer Übermittlung in der Dateibezeichnung auffällig zu kennzeichnen. Es wird anheimgestellt, vertrauliche Dokumente nicht im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) zur Ablage im Fachverfahren zu übermitteln, sondern auf Datenträger zur Ablage auf einem der Kammer zugewiesenen und nur von einem beschränkten Personenkreis einsehbaren Speicherplatz oder in Papierform. Nach verpflichtender Einführung des ERV kann dies auf Antrag gestattet werden. Die Kammer wird Aktenbestandteile als vertraulich kennzeichnen. Akteneinsicht in vertrauliche Aktenbestandteile wird nicht oder nur nach Maßgabe der Schutzanordnung (z.B. nachträglich beitretende Streithelfervertreter, neue Prozessbevollmächtigte) nach Anhörung gewährt.
2.Schwärzungen sind unter Würdigung des Geheimhaltungsinteresses auf das unbedingt notwendige Maß zu begrenzen. Schriftsätze, Gutachten und Gerichtsentscheidungen müssen aus sich heraus verständlich bleiben. Auf Verlangen ist die Schwärzung zu begründen. Nach Anhörung entscheidet das Gericht unter Abwägung des Schutzinteresses mit den Verfahrensgrundrechten der Klagepartei.
3.Im Rahmen der mündlichen Verhandlung und bei Anhörung der Sachverständigen ist ebenfalls die Vertraulichkeit zu gewährleisten. Der Ausschluss der Öffentlichkeit für Teile der mündlichen Verhandlung/Anhörung nach Maßgabe des GVG bleibt vorbehalten. Die Sachverständigen werden angehalten, das Gericht bei der Entscheidung hierüber zu beraten.
VI.Weitere Schutzmaßnahmen
Die Anordnung weiterer Schutzmaßnahmen bleibt vorbehalten, ebenso wie eine Abänderung oder Ergänzung der Schutzanordnungen, wenn und soweit hierfür Anlass besteht.  

Gründe

I.
1
Auf der Grundlage des Beweisbeschlusses vom 22.11.2019 (Bl. 969/1002 d.A.) haben die beauftragten Sachverständigen und mit Schreiben vom 25.05.2020 (Bl. 603 ff. d.A.) ihre vorläufige Methodik erläutert und die benötigten Daten bezeichnet. Den Parteien wurde mit Verfügung vom 09.06.2020 (Bl. 1080 d.A.) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Entwurf einer Schutzanordnung mit der Aufforderung, über eine Vertraulichkeitsvereinbarung zu verhandeln, wurde ebenfalls zur Stellungnahme gegeben. Desweiteren wird auf den Vermerk vom 05.08.2020 (Bl. 639 d.A.) und die Stellungnahme der Sachverständigen vom 10.09.2020 (Bl. 641 d.A.) Bezug genommen. Die Beklagten haben dem Gericht davon Kenntnis gegeben, dass zunächst eine Abstimmung der Vertraulichkeitsvereinbarung auch mit den - hier nicht beigetretenen - Streitverkündeten erfolgt ist. Mit Schriftsatz vom 13.11.2021 (Bl. 1144/1153 d.A.) hat die beklagte Partei nunmehr das Angebot einer Vertraulichkeitsvereinbarung vorgelegt. Die Klagepartei hatte Gelegenheit zur Stellungnahme (Schriftsatz vom 10.12.2020 Bl. 1156/1162 d.A.). Desweiteren wird auf den Telefonvermerk vom 08.03.2021 Bezug genommen.
II.
2
Die Anordnung beruht auf §§ 142 ZPO sowie einer entsprechenden Anwendung von §§ 89 b Abs. 6, 7, 33 g Abs. 3 GWB (2017). Die begleitenden Schutzanordnungen sind geeignet, erforderlich und angemessen, um die verfassungsrechtlichen Positionen der Beteiligten aus Art. 12 und 14 GG einerseits und den Anspruch auf Justizgewährung und rechtliches Gehör andererseits in Ausgleich zu bringen.
3
1. Die vorzulegenden Vertraulichen Informationen sind erheblich für die Beweisaufnahme und die Feststellung, ob und ggf. in welcher Höhe Preisüberhöhungsschäden gegeben sind.
4
Wie im Beweisbeschluss festgestellt, trägt die Klagepartei die Darlegungs- und Beweislast für den behaupteten Schaden, insbesondere für die Preisüberhöhung. Die Kammer hat auf eine sekundäre Darlegungs- und Beweislast der Beklagten hinsichtlich der für die Begutachtung maßgeblichen Informationen aus der Sphäre der Hersteller hingewiesen. Die Beklagten haben die grundsätzliche Bereitschaft erklärt, zur Erfüllung ihrer sekundären Darlegungslast Informationen herauszugeben. Im Verfahren wurden alternative Datengrundlagen, insbesondere die Begutachtung allein aufgrund der von der Klagepartei zur Verfügung gestellten Daten aus den streitgegenständlichen Erwerbsvorgängen erörtert. Auch ein großer Datenpool (in einem Verfahren über 100.000 Erwerbsvorgänge) stellt jedoch einen nicht repräsentativen und letztlich geringen Teil des Marktes dar. Auf die Gründe des Beweisbeschlusses sowie die Stellungnahmen der Sachverständigen hinsichtlich Datengrundlage und Methodik wird Bezug genommen.
5
2. An den angeforderten Informationen besteht ein Geheimhaltungsinteresse der Beklagten bzw. der Hersteller.
6
Als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse werden alle auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat (BVerfG, Beschluss vom 14.03.2006, 1 BvR 2087/03, juris, Rn. 87; BGH, Beschluss vom 16.11.2009, X ZB 37/08 - Lichtbodenschnürung, juris, Rn. 17; BGH, Urteil vom 09.12.2015, IV ZR 272/15, juris, Rn. 14). Bei den detaillierten Informationen zu Preisen, Kosten, Gewinnmargen, Kunden, Vertriebswegen und -strategien etc. handelt es sich um Informationen, hinsichtlich derer ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung besteht und die nicht allgemein bekannt oder zugänglich sind. Sie sind zudem Gegenstand von Geheimhaltungsmaßnahmen (vgl. § 2 Nr. 1 GeschGehG). Die Informationen lassen Rückschlüsse auf das Wettbewerbsverhalten der Hersteller zu. Ihre Offenbarung kann daher geeignet sein, das Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer insgesamt zu beeinflussen und damit auch zu beeinträchtigen. Damit liegt die Geheimhaltung zugleich im öffentlichen Interesse an der Integrität des Wettbewerbs.
7
Eine Differenzierung nach dem Alter der Informationen hat hierbei nicht zu erfolgen. Zwar kann das Geheimhaltungsinteresse mit zunehmendem Zeitablauf abnehmen. Angesichts des Umstandes, dass eine gravierende Zäsur in der Kostenstruktur, in der Preissetzung oder der Vertriebspolitik hier nicht offensichtlich ist, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass ältere Informationen den Rückschluss auf aktuelle Geschäftsgeheimnisse zulassen. Ihr Schutz ist daher unvermindert zu gewährleisten. Auf das Schreiben der Sachverständigen, Ziffer 2., vom 24.03.2021 wird Bezug genommen.
8
Der Geheimnisschutz umfasst auch die Darstellung vertraulicher Informationen in Gutachten einschließlich Anlagen, Zusammenfassungen, Stellungnahmen, Schriftsätzen und gerichtlichen Entscheidungen sowie in der Erörterung und Anhörung der Gerichtssachverständigen in der mündlichen Verhandlung, wenn und soweit diese geeignet ist, das Geheimnis zu gefährden. Daher sind vertrauliche und nichtvertrauliche Fassungen für die Parteiöffentlichkeit vorzulegen.
9
3. Die Offenlegung der Vertraulichen Informationen zum Zwecke der Begutachtung ist zumutbar im Sinne des Rechtsgedankens des § 89 b Abs. 2 GWB (2017). Die Verhältnismäßigkeit wird durch die begleitenden Schutzmaßnahmen, wie sie etwa §§ 33 g Abs. 3 Nr. 6 und 89 b Abs. 7 GWB (2017) vorsehen, gewährleistet.
10
a. Die Anordnung der Offenlegung von Informationen berührt die Hersteller in ihrer Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG sowie ihr Eigentumsgrundrecht gemäß Art. 14 GG bzw. die entsprechenden europarechtlich garantierten Grundrechte (BVerfG, Beschluss vom 14.03.2006, 1 BvR 2087/03, juris, Rn. 94). Der Eingriff bedarf daher der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die grundsätzlich aus dem Anspruch der Klagepartei auf effektiven Rechtsschutz folgt. Diese Grundrechtspositionen sind durch geeignete Maßnahmen, die einerseits den Schutz der Geschäftsgeheimnisse wahren und andererseits den effektiven Rechtsschutz sichern, in Ausgleich zu bringen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 13.07.2006 - Rs. C-438/04 - Mobistar, juris, Rn. 40).
11
b. Die Schutzanordnungen sind geeignet zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes. Die Anordnungen regeln den Zugang und Umgang mit den Vertraulichen Informationen bei den Parteien, Sachverständigen, den Parteivertretern und Privatsachverständigen und bei Gericht. Erfasst werden mit den Regelungen zu Übermittlung, Speicherung und Löschung, dem Kreis der Zugangsberechtigten, dem Verwendungszweck und der Darstellung in Gutachten, Schriftsätzen, mündlicher Verhandlung und Urteil alle Stadien der Beweisaufnahme und des Verfahrens. Damit kann ein umfassender Schutz erzielt werden.
12
c. Die Anordnungen sind auch erforderlich. Unter Würdigung der Art der Vertraulichen Informationen ist ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten. Damit sind die Beschränkung des Personenkreises sowie Anordnungen zur Datensicherheit unverzichtbar.
13
d. Ergänzend zu den gerichtlichen Schutzanordnungen ist eine Vertraulichkeitsvereinbarung zwischen den Parteien erforderlich. Nur im Wege einer solchen Vereinbarung kann eine Verletzung der Vertraulichkeit mit Sanktionen belegt werden. Weder bietet die Strafandrohung aus § 203 StGB einen ausreichenden Schutz, noch kommen Ordnungsmittel in Betracht. Da § 17 GeschGehG strafähnlichen Charakter hat, ist eine analoge Anwendung nicht möglich.
14
4. Die Rechte der Klagepartei werden durch die mit der Schutzanordnung verbundenen Beschränkungen der Einsichts- und Verwendungsberechtigung nicht verletzt.
15
a. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist grundsätzlich als Beweismittel unverwertbar, wenn es auf Geschäftsunterlagen beruht, die eine der Parteien nur dem Sachverständigen, nicht auch dem Gericht und der Gegenpartei zur Verfügung gestellt hat (BGH, Urteil vom 09.12.2015, IV ZR 272/15, juris, Rn. 18; MüKo/Kukis, AktG, 5. Auflage 2020, § 7 SpruchG Rn. 20; Emmerich/Habersack/Emmerich, AktienGmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 7 SpruchG, Rn. 13). Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit der Anschlusstatsachen eines Gutachtens gemäß § 357 ZPO gilt jedoch nicht schrankenlos (Zöller/Greger, ZPO, 33. Auf. 2020, § 404a Rn. 6; BGH, Beschluss vom 16.11.2009, X ZB 37/08 - Lichtbodenschnürung, juris, Rn. 23). Ein sog. „in camera-Verfahren“ ist im deutschen Prozessrecht zwar nicht etabliert, in einzelnen Zusammenhängen wird die Einschränkung von Einsichtsrechten aber praktiziert (vgl. Kühnen, GRUR 2005, 185, 190 für das Beweissicherungsverfahren im Patentverletzungsstreit; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.01.2017 - I-2 U 31/16, BeckRS 2017, 156523; BVerwG, Beschluss vom 09.01.2007 - 20 F 1/06, BeckRS 2009, 26921 zu § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
16
b. Ein persönliches Einsichtsrecht der Partei in die Rohdaten ginge über die zwingenden prozessualen Anforderungen hinaus. Auf Anordnung gemäß § 142 ZPO sind Beweismittel im Regelfall im Termin vorzulegen; wo dies angesichts Art oder Umfang der Beweismittel zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht angemessen ist, kann Einsichtnahme auf der Geschäftsstelle gewährt werden. Die Dokumente werden auf der Geschäftsstelle hinterlegt und sind nicht Bestandteil der Akten, so dass das Recht auf Akteneinsicht gemäß § 299 ZPO nicht einschlägig ist (Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, Rn. 16). Die Gelegenheit, durch eigene Privatsachverständige, die vollständigem Zugriff auf die Rohdaten erhalten, die Ergebnisse des Gutachtens zu reproduzieren und Analysen zu erstellen, geht über eine bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme der Rohdaten hinaus. Diese Erweiterung der Parteirechte gleicht in gewissem Umfang die Beschränkungen hinsichtlich der Einsichtnahme durch die Partei persönlich aus. Einer solchen Einsichtnahme steht der wettbewerblich relevante Charakter der vertraulichen Informationen, deren Kenntnis sich sowohl auf künftige Preisverhandlungen beim Kauf von Lkws als auch auf das Verhältnis zu Mitbewerbern auf dem Markt, auf dem die Klagepartei tätig ist, auswirken kann, entgegen.
17
c. Der Geheimnisschutz setzt sich an den Inhalten des Gutachtens, schriftsätzlichen Stellungnahmen, gerichtlichen Entscheidungen sowie der Erörterung in der mündlichen Verhandlung oder bei der Anhörung der Sachverständigen fort, wenn und soweit dort Vertrauliche Informationen enthalten sind oder konkret darauf Bezug genommen wird, da die Schutzanordnung ansonsten ins Leere ginge. Dem Anspruch auf Kenntnis der Parteien (Klagepartei und ggf. Streithelfer) kann in erster Linie durch Zusammenfassungen Rechnung getragen werden. Wo dies nicht möglich ist, zum Beispiel, weil die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen Ausführungen beeinträchtigt wäre, können nur Beschränkungen der Einsichtsrechte der Partei durch Schwärzungen und die Wahrung der Vertraulichkeit auch durch Parteivertreter und Privatsachverständige den notwendigen Schutz gewährleisten. Die Schutzanordnung schränkt das Maß solcher Schwärzungen durch das Erfordernis der Verständlichkeit und Angemessenheit sowie die Entscheidungsbefugnis durch das Gericht auf das im Einzelfall zur Sicherung der Vertraulichen Informationen Erforderliche ein. Die Verfahrensrechte können im Übrigen durch die Prozessbevollmächtigten und ggf. durch eigene Sachverständige der jeweiligen Partei angemessen wahrgenommen werden.
18
d. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich, insbesondere kommt die Benennung einer von der Geschäftsleitung verschiedenen, ihrerseits zur Vertraulichkeit verpflichteten Person hier nicht in Betracht. Bei der Klägerin handelt es sich um ein Logistikunternehmen der Firmengruppe mit eigenem Fuhrpark in der Rechtsform einer GmbH und Co KG. Bei dieser Größe und Struktur kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch die Zugangsberechtigung mit Vertraulichkeitsvereinbarung für eine verantwortliche Person der Klägerseite, die von der Geschäftsleitung verschieden und nicht mit Beschaffungsvorgängen befasst ist, eine zuverlässige Abschirmung erfolgen könnte.
19
e. Schließlich sind die angeordneten Schutzmaßnahmen auch aufgrund gemeinschaftskonformer Auslegung von § 89 b Abs. 7, § 33 g Abs. 3 GWB (2017) in Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 Schadensersatz-Richtlinie (RL 2014/104/EU) geboten, wonach die Offenlegung von Vertraulichen Informationen zu gewährleisten ist bei gleichzeitigem wirksamen Schutz der Informationen. Eine Entscheidung, wonach entweder volle Parteiöffentlichkeit gegeben sein muss oder die Offenlegung zu versagen ist, wäre mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren.
20
Die Anordnung einschließlich der Vertraulichkeitsanordnung gegenüber der Partei selbst bringt die Geheimnisschutzinteressen und die Verfahrensgrundrechte in einen angemessenen Ausgleich und ist daher verhältnismäßig im engeren Sinne. Vorliegend ist die Schutzanordnung auch aus dem Umstand gerechtfertigt, dass grundsätzlich die Klagepartei die Darlegungs- und Beweislast trägt, ihr die Offenlegungsanordnung also in erster Linie eine erweiterte Rechtsschutzmöglichkeit bietet. Die Rechtsfolge des Gebotes einer unbeschränkten Parteiöffentlichkeit wäre angesichts des gebotenen Geheimnisschutzes also die Versagung der Offenlegung; dies ginge folglich in erster Linie zu Lasten der Klagepartei (vgl. BVerfG, abw. Meinung Gaier, Beschluss vom 14.03.2006, 1 BvR 2111/03, juris, Rn. 150).
21
5. Die Beklagten 1/2) können in der Vertraulichkeitsvereinbarung nicht verlangen, dass die Klagepartei auf die Rüge der Verletzung von Verfahrensrechten in dieser Instanz oder im Instanzenzug verzichtet. Zwar mag einer solchen Rüge im Einzelfall die Einrede widersprüchlichen Verhaltens entgegenstehen, soweit die Vertraulichkeitsvereinbarung als solche in Rede steht. Es muss der Klagepartei jedoch unbenommen bleiben, die konkrete Umsetzung durch die Beklagten im weiteren Verfahren zu beanstanden und eine gerichtliche Entscheidung dazu anzustreben.
22
Die Kammer hat die Anordnungen in der abschließenden Gesamtabwägung der grundrechtlichen Positionen, der wechselseitigen Interessen, von Art und Umfang der Vertraulichen Informationen, praktischer Erwägungen unter Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes, dem Gang der Begutachtung und der Bedeutung der Informationen für die Beweisaufnahmen abschließend gewürdigt.