Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.04.2020 – 20 NE 20.849
Titel:

Kontaktreduzierung über ein Wohnungsverlassungsverbot

Normenketten:
GG Art. 11, Art. 20 Abs. 3, Art. 80 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 2
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 32 S. 1, § 73 Abs. 1a Nr. 24
Leitsätze:
1. Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, die eigene Wohnung nur aus "triftigen Gründen" zu verlassen (§ 5 2. BayIfSMV), ist dahin auszulegen, dass jeder sachliche, nicht von vornherein unzulässige Grund geeignet ist, das Verlassen der Wohnung zu rechtfertigen.  (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
2. In dieser weiten Auslegung ist diese Regelung hinreichend bestimmt und verhältnismäßig.  (Rn. 34 und 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Ausgangsbeschränkung, Bestimmtheitsgrundsatz, Verhältnismäßigkeit, verfassungskonforme Auslegung, Corona-Verordnung
Vorinstanz:
VGH München, Beschluss vom 30.03.2020 – 20 NE 20.632
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 01.05.2020 – 1 BvR 996/20
Fundstellen:
BayVBl 2020, 516
BeckRS 2020, 7227
GewA 2020, 231
LSK 2020, 7227

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgen die Antragsteller das Ziel, den Vollzug mehrerer Bestimmungen der „Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 16. April 2020 (2126-1-5-G, GVBl. 2020 Nr. 11 v. 18.4.2020, S. 214, im Folgenden: 2. BayIfSMV) einstweilen auszusetzen.
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1. Der Antragsgegner hat am 16. April 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Verordnung erlassen. Die von den Antragstellern angegriffenen Bestimmungen haben folgenden Wortlaut:
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„§ 5 Allgemeine Ausgangsbeschränkungen
(1) (…)
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(2) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
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(3) Triftige Gründe im Sinne des Abs. 2 sind insbesondere:
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1. die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
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2. die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen, der Besuch bei Angehörigen therapeutischer Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist, sowie Blutspenden,
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3. Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs und Einkauf in den nach § 2 zulässigerweise geöffneten Ladengeschäften; nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
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4. der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts im jeweiligen privaten Bereich,
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5. die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
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6. die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
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7. Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine, mit einer weiteren nicht im selben Hausstand lebenden Person oder mit Angehörigen des eigenen Hausstands und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
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8. Handlungen zur Versorgung von Tieren.“
(…)
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§ 7 Ordnungswidrigkeiten
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Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig (…)
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9. entgegen § 5 Abs. 2 die Wohnung ohne triftigen Grund verlässt.“
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Die genannten Bestimmungen sind am 20. April 2020 in Kraft getreten (§ 10 Satz 1 BayIfSMV).
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2. Die Antragsteller, die in Bayern wohnen, haben mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 20. April 2020, beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen am selben Tag, einstweiligen Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO beantragt. Sie beantragen die einstweilige Außervollzugsetzung des § 5 Abs. 2 und Abs. 3 und § 7 Nr. 9 BayIfSMV, hilfsweise die Außervollzugsetzung zum Ablauf des übernächsten auf die Entscheidung folgenden Kalendertags, dazu hilfsweise die Außervollzugsetzung, soweit auch der Besuch bei Eltern und eigenen Kindern außerhalb von Einrichtungen sowie der Besuch der Beerdigung einer/eines Lebensgefährtin/en und einer/eines engen Freundin/es untersagt ist.
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Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor: Das vom Antragsgegner gewählte Regelungsmodell, eine Kontaktreduzierung über ein Wohnungsverlassungsverbot zu erreichen, sei nicht von einer hinreichenden Rechtsgrundlage gedeckt und zudem jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr verhältnismäßig. Insbesondere habe der Bundesgesetzgeber durch die Änderung des § 28 IfSG zum 28. März 2020 gezeigt, dass ein Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen, gerade nicht seinem Willen entspreche. Abgesehen davon entspreche § 28 IfSG weder den Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 GG noch dem Wesentlichkeitsvorbehalt. Die als Bußgeldtatbestand ausgestalteten angegriffenen Normen verstießen zudem gegen den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG, da nicht hinreichend deutlich werde, unter welchen Voraussetzungen ein „triftiger Grund“ zum Verlassen der Wohnung bestehe. Die angegriffene Ausgangsbeschränkung sei auch unverhältnismäßig. Zum einen sei das ursprünglich angegebene Ziel einer Eindämmung des Infektionsgeschehens mittlerweile erreicht worden. Zum anderen sei die Ausgangsbeschränkung jedenfalls nicht mehr erforderlich, da die Entwicklung der Infektionszahlen gezeigt habe, dass auch mildere kontaktreduzierende Regelungen - wie etwa nach § 3 der Baden-Württembergischen Corona-Verordnung - ausreichend seien. Insgesamt fehle es an einem schlüssigen Konzept der Verhaltenssteuerung; so dürften etwa Einzelhandelsgeschäfte besucht werden, nicht jedoch Beerdigungen von engen Freunden oder Lebenspartnern. Der Antragsgegner nehme Infektionsrisiken in Ladengeschäften somit in Kauf und gewichte kommerzielle Interessen damit höher als familiäre Belange.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 23. April 2020 haben die Antragsteller ihr Vorbringen vertieft. Insbesondere verweisen sie darauf, dass der Antragsgegner die Dimension der Grundrechtseingriffe verkenne. Der Regelungszweck, der offenbar darin bestehe, die Zahl der Infektionen möglichst niedrig zu halten, könne - wie in fast allen anderen Bundesländern - auch in zulässiger Weise, insbesondere ohne Motivforschung hinsichtlich des Zwecks des Verlassens der Wohnung, verfolgt werden.
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3. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen und trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, die Antragsteller hätten keine Nachteile oder Belange von solcher Tragweite aufgezeigt, dass eine einstweilige Anordnung dringend geboten erschiene. Das Corona-Virus stelle weiterhin eine ernste Bedrohung für eine Vielzahl von Menschen sowie für das weitere Funktionieren der Gesundheitsversorgung dar. So sehe das Robert-Koch-Institut trotz gesunkener Neuinfektionszahlen keinen Anlass für weitgehende Lockerungen der Kontakteinschränkungen und empfehle weiterhin die Reduzierung von sozialen Kontakten mit dem Ziel der Vermeidung von Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich. Die angegriffenen Regelungen seien in Anbetracht der derzeitigen Situation auch verhältnismäßig, zumal aufgrund der leicht positiven Entwicklungstendenzen bereits eine Lockerung gegenüber der vorherigen Verordnungslage erfolgt sei.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte verwiesen.
II.
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1. Der Eilantrag ist unzulässig, soweit er darauf gerichtet ist, die rein ordnungswidrigkeitsrechtliche Bestimmung des § 7 Nr. 9 2. BayIfSMV außer Vollzug zu setzen. Da der Verwaltungsgerichtshof nach § 47 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“ über die Gültigkeit von Normen entscheidet, unterliegen seiner Prüfung nur solche Bestimmungen, aus deren Anwendung sich Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist (vgl. Panzer in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand 7/2019, § 47 Rn. 32; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 27). Auf reine Bußgeldbestimmungen - wie hier § 7 Nr. 9 2. BayIfSMV - erstreckt sich die Prüfungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht, weil gegen die auf solche Normen gestützten Bußgeldbescheide nach § 68 OWiG allein die ordentlichen Gerichte angerufen werden können (vgl. BVerwG, U.v. 17.2.2005 - 7 CN 6/04 - juris Rn. 14; BVerwG, B.v. 27.7.1995 - 7 NB 1/95 - juris Rn. 21, OVG LSA, U.v. 17.3.2010 - 3 K 319/09 - juris Rn. 57).
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2. Im Übrigen ist der Eilantrag zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nach Auffassung des Senats im Ergebnis nicht vor.
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
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b) Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens davon aus, dass der Normenkontrollantrag - soweit er zulässig ist - voraussichtlich überwiegend unbegründet sein wird. Eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen erscheint daher nicht dringend geboten.
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aa) Die in der Hauptsache angegriffenen Bestimmungen finden in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine hinreichende gesetzliche Grundlage (1) und stehen bei verfassungskonformer Auslegung auch mit höherrangigem Recht im Einklang (2).
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(1) Weder in formeller noch in materieller Hinsicht bestehen gegen die angegriffenen Bestimmungen der 2. BayIfSMV bei summarischer Prüfung durchgreifende Bedenken, die eine vorläufige Außervollzugsetzung des § 5 Abs. 2 und Abs. 3 2. BayIfSMV geboten erscheinen ließe.
31
(a) Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verordnung sind weder von den Antragstellern geltend gemacht worden noch erkennbar.
32
(b) Bei dem in § 5 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 BayIfSMV geregelten präventiven Ausgangsverbot mit Erlaubnisvorbehalt handelt es sich um eine grundsätzlich von der - nach vorläufiger Beurteilung ihrerseits mit höherrangigem Recht vereinbare - Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 IfSG gedeckte Verpflichtung, einen Ort nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen (vgl. dazu bereits BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 52 ff.). Warum - wie die Antragsteller vortragen - die jeweilige Wohnung der Normadressaten von vornherein kein geeigneter „Ort“ i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 IfSG sein soll, erschließt sich nicht. Dass die Norm „nur ein situatives Moment, und nicht einen Zustand, wie den des Wohnens“ regele, ergibt sich nach Auffassung des Senats weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik des Gesetzes.
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(c) Weiterhin steht außer Frage, dass die Tatbestandsvoraussetzung der Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG - d.h. die Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern - nach der weiterhin aktuellen Risikobewertung des vom Gesetzgeber durch § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu vorrangig berufenen Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html) und der aktuellen Situationsberichte (vgl. zuletzt den Bericht v. 26.4.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neu-artiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-26-de.pdf? blob=publicationFile) derzeit im ganzen Bundesgebiet und damit auch im Freistaat Bayern erfüllt sind.
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(2) Das in den angegriffenen Bestimmungen geregelte präventive Ausgangsverbot mit Erlaubnisvorbehalt verstößt - jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.2020 - 1 BvR 829/20 - juris Rn. 12 a.E.) - auch nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Normbestimmtheit.
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(a) Das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende Gebot der hinreichenden Bestimmtheit und Klarheit der Norm fordert vom Normgeber, seine Regelungen grundsätzlich so genau zu fassen, dass der Betroffene die Rechtslage, d.h. Inhalt und Grenzen von Gebots- oder Verbotsnormen, in zumutbarer Weise erkennen und sein Verhalten danach ausrichten kann. Der Normgeber darf dabei grundsätzlich auch auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen, wenn die Kennzeichnung der Normtatbestände mit beschreibenden Merkmalen nicht möglich ist. Die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm steht ihrer Bestimmtheit grundsätzlich nicht entgegen; allerdings müssen sich aus Wortlaut, Zweck und Zusammenhang der Regelung objektive Kriterien gewinnen lassen, die einen verlässlichen, an begrenzende Handlungsmaßstäbe gebundenen Vollzug der Norm gewährleisten (vgl. BVerfG, U.v. 27.7.2005 - 1 BvR 668/04 - juris Rn. 118 ff.). Wenn - wie hier - eine bußgeldbewehrte Verbotsvorschrift im Streit steht, muss sich diese zudem an den strengeren Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen (vgl. OVG LSA, U.v. 17.3.2010 - 3 K 319/09 - juris Rn. 29). Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein besonderes Bestimmtheitsgebot. Der Gesetzgeber ist danach verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass der Gesetzgeber über die Strafbarkeit oder die Bußgeldvoraussetzungen selbst entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung oder einer Verhängung von Geldbußen festzulegen (vgl. BVerfG, B.v. 17.11.2009 - 1 BvR 2717/08 - juris Rn. 16). Auch das schließt allerdings eine Verwendung von auslegungsbedürftigen Begriffen nicht aus. Auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stehen die Gesetz- und Verordnungsgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Außerdem ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Straf- und Bußgeldnormen unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muss der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar oder bußgeldbewehrt ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Ahndung erkennbar (OVG LSA, U.v. 17.3.2010 - 3 K 319/09 - juris Rn. 29).
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(b) Diesem Maßstab wird die in § 5 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 2. BayIfSMV geregelte Ausgangsbeschränkung jedenfalls bei der im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens möglichen Prüfungsdichte noch gerecht. Auch wenn bei der Abgrenzung zwischen verbotenem und zulässigem Verlassen der eigenen Wohnung einzelne Zweifelsfälle auftreten können, ist die Reichweite des Rechtfertigungstatbestands „triftiger Gründe“ jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung hinreichend zu ermitteln.
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Durch § 5 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 2. BayIfSMV hat der Verordnungsgeber das Verlassen der eigenen Wohnung unter ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gestellt, wobei der Erlaubnisvorbehalt lediglich „triftige Gründe“ voraussetzt, von denen einige in Abs. 3 beispielhaft - d.h. nicht abschließend - aufgeführt werden.
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Aus dem Wortlaut der Norm und dem systematischen Zusammenhang von § 5 Abs. 2 und Abs. 3 ist zwar nur bedingt erkennbar, unter welchen Voraussetzungen ein triftiger Grund zum Verlassen der eigenen Wohnung vorliegt. Aus einer Gesamtschau der in § 5 Abs. 3 enthaltenen Regelbeispiele ergibt sich bei verfassungskonformer Auslegung aber in hinreichender Weise, dass im Grundsatz jeder sachliche und einer konkreten, nicht von vornherein unzulässigen Bedürfnisbefriedigung dienende Anlass als „triftiger Grund“ i.S.v. § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV geeignet ist, das Verlassen der eigenen Wohnung zu rechtfertigen (aa). Insofern ist für die Normadressaten für den Zeitraum bis zur endgültigen Klärung zumindest absehbar, in welchen Fällen sie das Risiko eines verbotswidrigen Verhaltens eingehen (bb).
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(aa) Nach dem Wortlaut und der Systematik der angegriffenen Normen ist der Regelungsgehalt des § 5 Abs. 2 und Abs. 3 ambivalent.
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Ausgehend vom Wortlaut des § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV ist das Verlassen der eigenen Wohnung im Regelfall untersagt. Erlaubt ist das Verlassen der Wohnung nur unter der Voraussetzung, dass „triftige“ Gründe dies rechtfertigen, wobei nach dem Normzweck zunächst fraglos sein dürfte, dass auch ein einziger Rechtfertigungsgrund ausreichen würde. Die Wortbedeutung legt nahe, dass als „triftig“ („sehr überzeugend, einleuchtend, schwerwiegend; zwingend, stichhaltig“, vgl. https://www. duden.de/rechtschreibung/triftig_stichhaltig_ueberzeugend) nur solche Gründe anzusehen sind, denen - auch bezogen auf den vom Verordnungsgeber mutmaßlich verfolgten Zweck einer Eindämmung des Infektionsgeschehens - ein erhebliches Gewicht zukommt. Andererseits lässt die Wortbedeutung aber auch Raum für eine Konkretisierung durch den Normgeber, da sich erst aus dem Regelungsgegenstand und -kontext ergibt, welcher Grund zur Rechtfertigung einer Verbotsausnahme als „überzeugend“ bzw. „stichhaltig“ anzusehen ist. Insofern kommt den in § 5 Abs. 3 2. BayIfSMV normierten Regelbeispielen, die den Ausnahmetatbestand der „triftigen Gründe“ nach Abs. 2 der Norm beispielhaft - aber nicht abschließend - konkretisieren, eine maßgebliche Rolle bei der Ermittlung des Regelungsgehalts zu.
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Dabei verliert die Beschränkung der Ausnahmen auf „triftige“ Gründe weitgehend an Kontur.
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Während sich den überwiegend wortgleichen Vorgängerbestimmungen des § 5 Abs. 2 und Abs. 3 2. BayIfSMV - namentlich dem § 1 Abs. 4 und Abs. 5 der Bayerischen Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie vom 24. März 2020 (BayMBl 2020 Nr. 130) und dem § 4 Abs. 2 und Abs. 3 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 in der Fassung 31. März 2020 (GVBl 2020 S. 194) - noch entnehmen ließ, dass „triftige“ Gründe unaufschiebbare gesundheitliche, private oder berufliche Belange von erheblichem Gewicht voraussetzten (vgl. dazu den Senatsbeschluss v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 62), kommt eine solche Auslegung aufgrund der im Zuge des Erlasses der 2. BayIfSMV erfolgten Neuregelung der allgemeinen Ausgangsbeschränkung mittlerweile nicht mehr in Betracht.
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Gegenüber den Vorgängerregelungen geändert wurde die Aufzählung von Regelbeispielen in zwei Punkten: Zum einen hat der Verordnungsgeber in § 5 Abs. 3 Nr. 3 BayIfSMV die „Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs“ um den „Einkauf in den nach § 2 zulässigerweise geöffneten Ladengeschäften“ ergänzt. Zulässigerweise geöffnet sind nach § 2 Abs. 4 2. BayIfSMV neben den schon nach vorheriger Verordnungslage geöffneten Ladengeschäften bereits seit dem 20. April 2020 auch Bau- und Gartenmärkte, Gärtnereien und Baumschulen (§ 2 Abs. 4 Satz 2 2. BayIfSMV); hinzu kommt die Möglichkeit einer Öffnung aufgrund einer Ausnahmegenehmigung „für andere, für die Versorgung der Bevölkerung notwendige Geschäfte“ (§ 2 Abs. 4 Satz 3 2. BayIfSMV). Mit Wirkung vom 27. April 2020 hat der Verordnungsgeber zudem die Öffnung von Buchhandlungen sowie von Auto- und Fahrradläden (§ 2 Abs. 4 Satz 4 2. BayIfSMV) und schließlich auch von allen sonstigen Ladengeschäften für zulässig erklärt, deren Verkaufsräume eine Fläche von 800 qm nicht überschreiten und bei denen der Betreiber sicherstellt, dass die Zahl der gleichzeitig im Laden anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 qm Verkaufsfläche (§ 2 Abs. 5 2. BayIfSMV). In den Anwendungsbereich dieser Vorschrift sollen rund 80% aller bestehenden Einzelhandelsgeschäfte fallen. Damit ist spätestens seit dem 27. April 2020 das Verlassen der Wohnung zum Einkaufen im Wesentlichen gestattet. Eine Beschränkung auf den Einkauf bestimmter Waren von herausgehobener und dringlicher Bedeutung (insbesondere Güter des täglichen oder eines besonderen medizinischen Bedarfs) existiert insoweit nicht mehr.
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Zum anderen hat der Antragsgegner die Aufzählung von Regelbeispielen in § 5 Abs. 3 Nr. 7 insoweit geändert, als Sport und Bewegung an der frischen Luft seit dem 20. April 2020 auch „mit einer weiteren nicht im selben Hausstand lebenden Person“ zulässig sind.
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Aus diesen Änderungen des Regelbeispielkatalogs geht hervor, dass das Verlassen der eigenen Wohnung - anders als nach vorheriger Verordnungslage - auch durch Anlässe von vergleichsweise geringem Gewicht gerechtfertigt werden kann, nämlich schon durch jedwede, d.h. auch nicht (lebens-)notwendige Konsuminteressen und durch physische Begegnungen mit anderen Personen, die nicht im eigenen Hausstand leben - zumindest, soweit die Begegnungen an der frischen Luft und im Rahmen von „Sport und Bewegung“ stattfinden. Dadurch vermittelt die Aufzählung von rechtfertigenden Regelbeispielen in § 5 Abs. 3 2. BayIfSMV den Gesamteindruck, dass ein Verlassen der Wohnung ein unabweisbares Bedürfnis gerade nicht voraussetzen muss.
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Damit hat der Verordnungsgeber das Spektrum triftiger Gründe i.S.v. § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV gegenüber der vorherigen Rechtslage dergestalt erweitert, dass eine enge Auslegung des Ausnahmetatbestands ausgeschlossen ist. Vielmehr lässt sich aus der Sicht des Senats das Merkmal eines „triftigen Grundes“ abstrakt nur insoweit fassen, als im Grundsatz jeder sachliche und einer konkreten, nicht von vornherein unzulässigen Bedürfnisbefriedigung dienende Anlass als „triftiger Grund“ i.S.v. § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV geeignet sein kann, das Verlassen der eigenen Wohnung zu rechtfertigen. Dieses Auslegungsergebnis erscheint auch vor dem Hintergrund des mit der Ausgangsbeschränkung verbundenen Eingriffs in die Rechte der Normadressaten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 11 GG geboten: Wenn sich der Normgeber dafür entscheidet, dass bereits jedes subjektive Einkaufsbedürfnis das Verlassen der Wohnung rechtfertigt, kommt dieser Einschätzung im Lichte der eingeschränkten Freiheitsgrundrechte maßgebende Bedeutung zu, auch wenn das im Regelungsmodell eines präventiven Ausgangsverbots mit Erlaubnisvorbehalt angelegte Regel-/Ausnahmeverhältnis damit im Ergebnis (wohl) nicht mehr gewahrt wird.
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(bb) Bei diesem Auslegungsergebnis der Norm wird das verfassungsrechtliche Bestimmtheitserfordernis noch gewahrt. Die einzelnen Regelbeispiele stehen dem nicht entgegen, da der Norm in der Gesamtbetrachtung hinreichend zu entnehmen ist, dass im Grundsatz jeder sachliche, nicht von vornherein unzulässige Grund geeignet ist, das Verlassen der Wohnung zu rechtfertigen. Soweit sich dem Regelbeispielkatalog entnehmen lässt, dass einzelne sachliche Gründe - wie etwa der Besuch eines Friseurbetriebs (§ 5 Abs. 3 Nr. 3 2. Halbs. 2. BayIfSMV) - das Verlassen der Wohnung nicht rechtfertigen können, wird die Bestimmtheit dadurch nicht in Frage gestellt.
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Im Hinblick auf das Bestimmtheitserfordernis ergibt sich jedenfalls, dass die Normadressaten durch Auslegung der angegriffenen Normen hinreichend abschätzen können, ob ein Verhalten erlaubt oder verboten ist. Dass in einzelnen Detailfragen Zweifel bleiben - etwa, was unter dem Begriff der „Alten“ i.S.v. § 5 Abs. 3 Nr. 4 2. BayIfSMV zu verstehen ist - wäre im Einzelfall von den hiermit befassten Behörden und Gerichten entsprechend zu berücksichtigen und ist, insbesondere vor dem Hintergrund des auf zwei Wochen befristeten Geltungszeitraums der angegriffenen Verordnung, vorübergehend hinzunehmen, da für die im Regelbeispielkatalog genannten Tätigkeiten zumindest das Risiko einer Ahndung erkennbar ist.
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(3) Die angegriffenen Normen erweisen sich bei verfassungskonformer Auslegung auch als verhältnismäßig. Soweit die Antragsteller schon die Eignung der angegriffenen Ausgangsbeschränkung in Frage stellen, kann auf die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 30.3.2020 (20 NE 20.632 - juris Rn. 59) verwiesen werden. Der im Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zum Ausdruck kommende und im verfassungsrechtlichen Übermaßverbot verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird durch den - wie oben gezeigt - weit auszulegenden Ausnahmetatbestand „triftiger Gründe“ hinreichend gewahrt. Soweit sich vor dem Hintergrund der o.g. Auslegung der angegriffenen Bestimmungen überhaupt noch Härten ergeben können, erscheinen diese angesichts der weiterhin bestehenden infektiologischen Gefährdungslage, der eng befristeten Geltungsdauer der Verordnung und der fortdauernden Evaluationspflicht des Antragsgegners (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 63) jedenfalls derzeit als hinnehmbar. Ob ungeachtet der deutlichen Ausweitung des Ausnahmetatbestands ein regelhaftes Ausgangsverbot mit Erlaubnisvorbehalt auch weiterhin geboten ist, wird der Verordnungsgeber zu entscheiden haben.
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3. Die von den Antragstellern formulierten Hilfsanträge stellen keine eigenständigen Streitgegenstände dar, da sie letztlich nur Anregungen für den Prüfungsumfang und Entscheidungsausspruch enthalten (vgl. dazu Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand 7/2019, § 47 Rn. 34) und insofern nicht gesondert zu bescheiden sind.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von den Antragstellern teilweise angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 3. Mai 2020 außer Kraft tritt (§ 10 Satz 1 2. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).