Inhalt

VG München, Beschluss v. 07.04.2020 – M 18 E 20.1277
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Krankenhilfe wegen örtlicher Unzuständigkeit

Normenketten:
SGB I § 30, § 43
VwGO § 123
SGB VIII § 10, § 27, § 40, § 86, § 86d
BayStVollzG § 86
Leitsätze:
1. Die Unterbringung und Betreuung der Antragstellerin und deren Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung einer Justizvollzugsanstalt während der Untersuchungshaft ist als Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII einzuordnen, da die Erziehung eines Kindes unter den besonderen Verhältnissen einer JVA nicht mit einer Erziehung in einer häuslichen Umgebung zu vergleichen ist und schon deshalb zu einem erzieherischen Bedarf des Kindes führt. (Rn. 38 und 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen nach § 27 Abs. 1 SGB VIII umfasst neben den Betreuungsleistungen in der Mutter-Kind-Abteilung vorliegend als Annexleistung auch die Leistung von Krankenhilfe gemäß § 40 SGB VIII. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3. Haben weder die allein sorgeberechtigte Antragstellerin noch deren Tochter während der Untersuchungshaft einen gewöhnlichen Aufenthalt, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 4 S. 2 SGB VIII, womit der tatsächliche Aufenthaltsort des Kindes vor Beginn der Leistung maßgeblich ist. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Mutter-Kind-Abteilung in der JVA, Hilfe zur Erziehung, Krankenhilfe, Gewöhnlicher Aufenthalt, Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, Justizvollzugsanstalt, Mutter-Kind-Abteilung, Untersuchungshaft, erzieherischer Bedarf, Aufenthaltsort, örtliche Zuständigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2020, 6768

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Leistungen der Krankenhilfe für ihr Kind.
2
Die Antragstellerin befindet sich seit dem 24. Januar 2019 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (im Folgenden: JVA) A. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung war sie bereits schwanger; als voraussichtliche Entbindungstermin war Ende August 2019 berechnet. Der Lebensgefährte der Antragstellerin befindet sich ebenfalls seit 24. Januar 2019 in Untersuchungshaft in der JVA Augsburg-Gablingen.
3
Vor der Inhaftierung war die Antragstellerin bis zum 1. April 2018 bei ihren Eltern in der Te. Str. im Stadtgebiet M. der Antragsgegnerin gemeldet. Danach lebte die Antragstellerin nach eigenen Angaben bis Mai 2018 bei Freunden, in Hotels oder AirBnB-Wohnungen. Zuletzt wohnte die Antragstellerin zusammen mit ihrem Lebensgefährten in einer Wohnung in der Ta. Str., ebenfalls im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Die Wohnung war von der Antragstellerin im Rahmen eines Untermietverhältnisses mit einer dritten Person von 1. November 2018 bis zum 28. Februar 2019 befristet gemietet; zu der Möglichkeit einer Verlängerung des Untermietverhältnisses verhielt sich der Vertrag nicht.
4
In den vorgelegten Behördenakten befindet sich ein von der Antragstellerin ausgefülltes Formular, datierend vom 18. April 2019 und adressiert “An das Jugendamt/Sozialamt”, mit welchem die Antragstellerin in Hinblick auf die bevorstehende Geburt ihres Kindes die Übernahme der Kosten für die Unterbringung in der Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. beantragte. Auf dem Antragsformular war u.a. auch die Frage abgedruckt, wo die jeweilige Leistungsempfängerin nach ihrer Inhaftierung zu leben beabsichtige. Die Antragstellerin füllte das Antwortfeld aus mit “Bei meinen Eltern oder vllt auch eigene Wohnung.“
5
Nach einer von der JVA A. dem Gericht zur Verfügung gestellten Broschüre handelt es sich bei der anstaltsinternen Mutter-Kind-Abteilung um ein separates Gebäude auf dem Gelände der JVA. Dort befinden sich im Obergeschoss kleine „Appartements“/Einzelhafträume für die Mütter und ihre Kinder sowie im Erdgeschoss u.a. Aufenthalts- und Lagerräume und eine „Kinderkrippe“, in der die Kinder bei Abwesenheit ihrer Mütter betreut werden. Im Freien steht ein Garten mit Grünfläche, Sandkasten und Spielgeräten zur Verfügung. In der Früh erhalten die Mütter die Gelegenheit, ihre Kinder in die “Krippe” zu bringen, während sie selbst ggf. ihrer Arbeitspflicht nachgehen. Am Nachmittag besteht die Möglichkeit, die Zeit gemeinsam mit den Kindern in den Räumlichkeiten der Abteilung oder im Freien zu verbringen. Abends erfolgt der Einschluss in die Einzelhafträume. Ein Verbleib in der Abteilung ist bis zur Vollendung des 4. Lebensjahres des Kindes möglich.
6
Das Antragsformular wurde sodann von der JVA A. an einem dem Gericht nicht bekannten Datum der Antragsgegnerin, Sozialbürgerhaus N., zugesendet.
7
Mit Schreiben vom 15. Mai 2019 leitete diese den Antrag unter Berufung auf ihre mangelnde Zuständigkeit an den Beigeladenen weiter. Nach ihrer Ansicht sei der Beigeladene für den Antrag zuständig, da sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nach dem tatsächlichen Aufenthaltsort des Kindes richte. Da das Kind voraussichtlich im Kreisgebiet des Beigeladenen geboren werde, läge bei diesem auch die Zuständigkeit.
8
Mit Schreiben vom 25. Juli 2019 sandte der Beigeladene den Antrag an die Antragsgegnerin, als nach Auffassung des Beigeladenen zuständigen Jugendhilfeträger, zurück. Da sich die Antragstellerin in Untersuchungshaft befände, bestehe weiterhin der im Gebiet der Antragsgegnerin begründete gewöhnliche Aufenthalt der Antragstellerin. Das Kind teile diesen gewöhnlichen Aufenthalt mit der Mutter.
9
Die Antragsgegnerin leitete den Antrag mit Schreiben vom 29. Juli 2019 ein weiteres Mal an den Beigeladenen zurück. Die Antragstellerin sei seit dem 1. April 2018 aus dem Stadtgebiet der Antragsgegnerin abgemeldet; sie könne daher innerhalb der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung für das noch ungeborene Kind keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet begründen. Da diese auch in der Untersuchungshaft keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen könne, habe sie aktuell keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Nach § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII sei daher der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes relevant. Da das ungeborene Kind noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen könne, komme es auf den tatsächlichen Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung an, § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, der im Klinikum der Entbindung sein werde.
10
Der Beigeladene leitete den Antrag wiederum am 30. Juli 2019 an die Antragsgegnerin zurück. Er führte aus, dass die Tatsache, dass die Antragstellerin nicht mehr in M. gemeldet sei, für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes nicht ausschlaggebend sei, da das Melderecht nur zweitrangig sei. Die Antragstellerin habe bis zum 1. Dezember 2018 bei ihren Eltern in der Te Straße gewohnt. Ab dem 1. Dezember 2018 habe sie einen Mietvertrag für die Ta Straße abgeschlossen, wo sie sich seit diesem Zeitpunkt auch aufgehalten habe. Die Antragstellerin habe daher ununterbrochen ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gehabt.
11
Die Antragsgegnerin sandte den Antrag am 31. Juli 2019 erneut an den Beigeladenen zurück. Da das Mietverhältnis für die Wohnung in der Ta Straße zum 28. Februar 2019 entsprechend dem Untermietvertrag geendet habe und wegen der Inhaftierung der Antragstellerin auch nicht fortgeführt habe werden können, habe die Antragstellerin aktuell keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr in M.
12
Daraufhin teilte der Beigeladene der Antragsgegnerin am selben Tage mit, dass dieser die Hilfe nach § 86d SGB VIII vorläufig gewähren werde, falls das Kind im Kreisgebiet geboren werden sollte.
13
Mit Schreiben vom 12. Juli 2019 reichte die für die Antragstellerin zuständige Sozialpädagogin E. der JVA A. bei der Antragsgegnerin, Sozialbürgerhaus N., einen von der Antragstellerin am 10. Juli 2019 unterschriebenen Formularvordruck des Beigeladenen (Abteilung Soziale Leistungen) betitelt mit „Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe“ mit dem handschriftlichen Zusatz „Krankenhilfe für das Kind ab Geburt“ ein.
14
Mit Schreiben vom 26. August 2019 leitete die Antragsgegnerin den Antrag auf Übernahme der Krankenhilfe an das Jugendamt des Beigeladenen weiter. Da das Jugendamt des Beigeladenen bereits Leistungen gem. § 22 SGB VIII für das Kind zugesichert habe, sehe man die Zuständigkeit für den streitgegenständlichen Antrag auch bei diesem.
15
Am 28. August 2019 wurde die Tochter der Antragstellerin geboren. Vater des Kindes ist ausweislich der dem Gericht von der JVA A. vorgelegten Geburtsurkunde der ebenfalls inhaftierte Lebensgefährte der Antragstellerin. Am 31. August 2019 wurde die Antragstellerin mit ihrer Tochter in die Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. aufgenommen.
16
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2019 leitete der Beigeladene den Antrag auf Krankenhilfe wiederum an die Antragsgegnerin zurück. Nach dessen Auffassung sei die Antragsgegnerin für den Antrag zuständig. Es handle sich um einen Antrag nach §§ 47 ff. SGB XII auf Sozialhilfe. Die Zuständigkeit für diesen ergebe sich aus § 98 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 SGB XII und richte sich daher nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin vor der Inhaftierung, welcher im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gelegen habe. Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII komme nicht in Betracht, da es sich bei der Unterbringung in der Mutter-Kind-Einrichtung in der JVA A. um eine Förderung nach §§ 22 ff. SGB VIII handle und nicht um eine Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII. Des Weiteren sei die Antragsgegnerin als erstangegangener Träger nach § 43 SGB I leistungspflichtig, da der Antrag auf Krankenhilfe von der JVA A. zuerst bei dieser gestellt worden sei.
17
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2019 bewilligte der Beigeladene die Übernahme der Kosten in Höhe von 31,66 EUR täglich für die Unterbringung der Tochter der Antragstellerin in der Mutter-Kind-Einrichtung. Die Übernahme erfolge “vorläufig gem. § 86d SGB VIII”, da mit der Antragsgegnerin keine Einigung bezüglich der örtlichen Zuständigkeit habe erreicht werden können.
18
In der vorgelegten Jugendhilfeakte des Beigeladenen findet sich des Weiteren ein von der Antragstellerin ausgefülltes und unterschriebenes Formular, datierend vom 27. November 2019. In diesem hatte die Antragstellerin auf die Frage nach konkreten Zukunftsplänen nach der Haft handschriftlich vermerkt: “Wenn ich nichts finde nach meiner Entlassung in M. und Umgebung (u.a. Au., A., etc.) werde ich zu meinen Eltern ziehen, Te. Str., M.“
19
Mit Schreiben vom 14. Januar 2020 beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht Augsburg im Wege einer einstweiligen Anordnung sinngemäß
20
die Antragsgegnerin zu verpflichten, für die am 28. August 2019 geborene Tochter A. der Antragstellerin Krankenhilfe zu leisten.
21
Zur Begründung führte sie aus, dass hinsichtlich ihres bei der Antragsgegnerin gestellten Antrags noch keine Entscheidung ergangen sei. Weder die Antragsgegnerin noch der Beigeladene fühlten sich zuständig. Die ersten Vorsorgeuntersuchungen ihres Kindes seien aus Kulanz auf Rechnung gemacht worden, in der Hoffnung, dass sich die Zuständigkeit bald klären werde. Bei weiterhin ungeklärter Zuständigkeit werde der behandelnde Kinderarzt jedoch keine weiteren Behandlungen, wie z.B. Schutzimpfungen, mehr durchführen. Aus diesem Grund sehe die Antragstellerin die Gesundheit ihres Kindes als gefährdet. Eine Versicherung des Kindes über eine Familienversicherung scheide aus, da sowohl die Antragstellerin als auch der Vater des Kindes inhaftiert seien und über die freie Heilfürsorge versichert seien.
22
Mit Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 20. Januar 2020 wurde der Landkreis A.-F. zum Verfahren beigeladen.
23
Dieser nahm mit Schreiben vom 22. Januar 2020 unter Wiederholung der bisherigen Argumentation Stellung.
24
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 31. Januar 2020,
25
den Antrag abzulehnen.
26
Die Antragsgegnerin führte aus, dass es wohl als unstreitig anzusehen sei, dass die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor der Inhaftierung im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin gehabt habe. Des Weiteren habe die Antragstellerin geäußert, dass sie beabsichtige, nach dem Ende der Haft zurück zu ihren Eltern ziehen zu wollen, die ebenfalls in M. wohnen würden. Allerdings habe sie diese Äußerung im Antrag vom 18. April 2019 unter dem Vorbehalt gemacht, dass sie vielleicht auch in eine eigene Wohnung ziehen werde, ohne anzugeben, ob diese auch in M. liegen würde.
27
Des Weiteren sei fraglich, bei welchem Träger der Antrag auf Krankenhilfe zuerst gestellt worden sei. Da auch der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Mutter-Kind-Unterbringung bei dem Beigeladenen gestellt worden sei, sei aus Sicht der Antragsgegnerin zu vermuten, dass sich auch der Krankenhilfeantrag zunächst an diesen gerichtet habe, bevor er von der JVA A. am 12. Juli 2019 an die Antragsgegnerin übersandt worden sei. Nach Auffassung der Antragsgegnerin sei der Beigeladene aber auch bereits durch die Stellung des Antrags vom 18. April 2019 i.S.d. § 43 SGB I erstangegangen. Die Tatsache, dass im diesbezüglichen Formular Krankenhilfe nicht auch mitbeantragt worden sei, ändere angesichts der Absehbarkeit des Bedarfs an Krankenhilfe wegen fehlender Krankenversicherung nichts daran, dass der Beigeladene “mit der Sache” erstbefasst gewesen sei.
28
Die Antragsgegnerin führte weiterhin aus, dass ihrer Rechtsauffassung nach die Übernahme der Kosten für die Mutter-Kind-Einrichtung in der JVA A. auf Grundlage der §§ 27 ff. SGB VIII erfolge und die Krankenhilfe daher als Annexleistung gem. § 40 SGB VIII zu übernehmen sei.
29
Mit Schriftsatz vom 18. Februar 2020 führte der Beigeladene ergänzend aus, dass Voraussetzung für die jugendhilferechtliche Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII die Gewährung von Hilfen zur Erziehung gem. §§ 33-35 SGB VIII oder von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 2 Nr. 3 oder 4 SGB VIII sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall; für eine Gewährung von Leistungen nach § 27 Abs. 2 SGB VIII sei momentan kein pädagogischer Bedarf gegeben. Vielmehr werde die Hilfe nach den Vorschriften der §§ 22, 24 SGB VIII geleistet; aufgrund der Förderung in einer Kindertagesstätte bestehe aber kein jugendhilferechtlicher Anspruch auf Krankenhilfe. Selbst wenn man die Unterbringung in der Mutter-Kind-Abteilung unter § 27 Abs. 2 SGB VIII subsumieren würde, bedeute dies jedoch nicht, dass zugleich Krankenhilfe zu leisten sei. Krankenhilfe als Annexleistung sei nur in Hinblick auf die in § 40 SGB VIII genannten Hilfeformen zu erbringen, welche hier jedoch nicht vorlägen. Auch seien die §§ 13, 19 und 21 SGB VIII, die auf § 40 SGB VIII verwiesen, nicht einschlägig.
30
Mit Beschluss vom 21. Februar 2020 wurde das Verfahren vom Sozialgericht Augsburg an das Verwaltungsgericht Augsburg verwiesen. Dieses verwies den Rechtsstreit wiederum mit Beschluss vom 17. März 2020 an das Verwaltungsgericht München.
31
Die JVA A. teilte dem Gericht auf Nachfrage am 6. April 2020 mit, dass die Antragstellerin das alleinige Sorgerecht für ihr Kind innehat.
32
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
33
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt ohne Erfolg.
34
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gefahr zu verhindern oder aus Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
35
Der Antragstellerin steht zwar vorliegend ein Anspruch gem. § 40 i.V.m. § 27 SGB VIII auf Übernahme von Krankenhilfe gegen den zuständigen Jugendhilfeträger zu. Nicht die Antragsgegnerin ist jedoch der örtlich zuständige Jugendhilfeträger, sondern der Beigeladene.
36
Nach § 40 SGB VIII ist zugleich auch Krankenhilfe zu leisten, wenn Hilfe nach den §§ 33 bis 35 SGB VIII oder nach § 35a Abs. 2 Nr. 3 oder 4 SGB VIII gewährt wird; für den Umfang der Krankenhilfe gelten die §§ 47 bis 52 SGB XII entsprechend. Gegenüber der Sozialhilfe ist die jugendhilferechtliche Krankenhilfe vorrangig, vgl. § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII. Die Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII ist jedoch kein selbstständiger Leistungstatbestand, sondern eine Annexleistung zu den in der Vorschrift genannten Formen der Hilfe zur Erziehung bzw. Eingliederungshilfe (vgl. Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 40 Rn. 2). Voraussetzung für einen Anspruch auf Krankenhilfe ist demnach zunächst die Gewährung einer der in § 40 SGB VIII genannten Hilfen.
37
Vorliegend gewährt der Beigeladene der Antragstellerin seit dem 31. August 2019 ab Aufnahme in die Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. Hilfe zur Erziehung gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII. Dass der Beigeladene selbst die erbrachte Leistung unter “§§ 22, 24 SGB VIII” als Förderung in einer Kindertageseinrichtung subsumiert, steht dem nicht entgegen; nicht die Etikettierung der geleisteten Hilfe ist entscheidend, sondern deren tatsächlicher Inhalt.
38
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.2002 - 5 C 48/01 - juris) ist die Unterbringung und Betreuung der Antragstellerin und deren Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung der JVA A. vorliegend als Hilfe zur Erziehung gem. § 27 SGB VIII einzuordnen. Zwar bezieht sich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts originär auf die Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung während der Strafhaft gem. §§ 80, 142 StVollzG, jedoch sind die dort aufgestellten Grundsätze auch auf die Untersuchungshaft anzuwenden. Gem. Art. 208 BayStVollzG ersetzen die landesrechtlichen Vorschriften zum Teil die bundesgesetzlichen Regelungen des StVollzG, darunter auch den § 80 StVollzG. Seine wortgleiche Entsprechung findet dieser in Art. 86 Abs. 1 und 2 BayStVollzG, welcher gem. Art. 37 Satz 1 BayUVollzG auch für die Untersuchungshaft gilt.
39
Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Zwar ist die Unterbringung und Betreuung eines Kindes in einer Mutter-Kind-Einrichtung im Strafvollzug als Form der Hilfe zur Erziehung in den §§ 27 ff. SGB VIII nicht genannt, jedoch enthält das Gesetz keine abschließende Aufzählung möglicher Hilfeformen. Vielmehr lässt der Wortlaut des § 27 Abs. 2 SGB VIII, wonach Hilfe zur Erziehung „insbesondere“ nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt wird und sich Art und Umfang der Hilfe nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richten, Raum für die Berücksichtigung neuer atypischer Hilfeformen, auf die bei entsprechendem erzieherischen Bedarf ein Anspruch besteht (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.2002 - 5 C 48/01 - juris Rn. 29 f; Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 27 Rn. 29). Wenn also die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII vorliegen, ist von dem Jugendhilfeträger grundsätzlich für ein bedarfsgerechtes, im Einzelfall auch maßgeschneidertes Hilfsangebot Sorge zu tragen.
40
Das Vorliegen eines erzieherischen Bedarfs als Grundvoraussetzung der Hilfe zur Erziehung ist hier zu bejahen. Ein erzieherischer Bedarf setzt das Vorliegen einer erzieherischen Mangellage im Hinblick auf das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen voraus. Ob eine solche Mangellage vorliegt, bemisst sich daran, ob die Erziehung durch die Eltern dem Kindeswohl entspricht (vgl. Nellissen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 20.03.2020, § 27 Rn. 42). Unter den besonderen Bedingungen des Strafvollzugs ist für die Antragstellerin das Vorliegen einer Mangelsituation anzunehmen. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Erziehung eines Kindes unter den besonderen Verhältnisse einer Justizvollzugsanstalt nicht mit einer Erziehung in einer häuslichen Umgebung zu vergleichen und führt schon deshalb zu einem erzieherischen Bedarf des Kindes, da eine inhaftierte Mutter bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Sorge durch das Leben in der Vollzugsanstalt wesentlich eingeschränkt ist und die Vollzugsbedingungen in der Regel nicht ohne Einfluss auf die Erziehungsbedingungen bleiben können. Der Betreuung der Kinder durch geschulte Mitarbeiter der Mutter-Kind-Einrichtung kommt daher ein besonderer Stellenwert zu (BVerwG, U.v. 12.12.2002 - 5 C 48/01 - juris Rn. 31). Dies gilt auch für die Untersuchungshaft, wenngleich beispielsweise eine Arbeitspflicht, wie sie § 41 StVollzG bzw. Art. 43 BayVollzG grundsätzlich auch für Mütter in der Strafhaft vorsehen, gem. Art. 12 Abs. 1 BayUVollzG nicht besteht. Vergleichbar mit der Strafhaft sind die Untersuchungsgefangenen jedoch einer Vielzahl von Restriktionen unterworfen und die Lebensführung und die erzieherischen Möglichkeiten daher mit der in einer häuslichen Umgebung nicht zu vergleichen.
41
Sofern der Beigeladene vorträgt, dass mit der Unterbringung in der Mutter-Kind-Einrichtung lediglich eine Leistung nach den §§ 22 ff. SGB VIII erbracht werde und für eine Gewährung von Leistungen nach § 27 SGB VIII kein pädagogischer Bedarf bestehe, ist dem somit nicht zu folgen. Die erzieherische Mangellage ergibt sich bereits aus der Sondersituation des Strafvollzuges. Ein darüberhinausgehendes Erziehungsdefizit ist nicht erforderlich. Entscheidend ist allein, dass die Antragstellerin in ihrer Rolle als erziehende Mutter - den Umständen der Haft geschuldet - ausfällt. Dass die tatsächlich erbrachte Leistung einer Förderung in einer gewöhnlichen Kindertageseinrichtung zumindest teilweise nahekommt und für die Mutter-Kind-Einrichtung dementsprechend auch eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII erteilt wurde, vermag nichts daran zu ändern, dass diese Leistung, anders als bei einem Anspruch nach § 24 Abs. 1 SGB VIII, an eine erzieherische Mangelsituation anknüpft und damit dem Leistungsspektrum des § 27 SGB VIII unterfällt. Die frühkindliche Förderung, die § 24 SGB VIII anstrebt, ist zwar ohne Zweifel ein positiver Begleiteffekt der hier gewährten Jugendhilfeleistung, jedoch liegt der Fokus nicht auf dem hierauf bezogenen Anspruch des Kindes, sondern primär auf dem Anspruch der Antragstellerin auf unterstützende erzieherische Maßnahmen, solange sich diese in Untersuchungshaft und danach möglicherweise in Strafhaft befindet.
42
Die Notwendigkeit und Geeignetheit der Unterbringung der Antragstellerin gemeinsam mit ihrer Tochter in der Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. liegen des Weiteren offensichtlich vor und werden von den Verfahrensbeteiligten auch nicht infrage gestellt. Aufgrund des Alters des Kindes und der besonderen Bedeutung einer engen Bezugsperson für die frühkindliche Entwicklung erscheint eine Trennung der Antragstellerin von ihrer Tochter in Hinblick auf das Kindeswohl und deren Persönlichkeitsentwicklung nicht zumutbar (vgl. auch die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und überörtlichen Erziehungsbehörden in der 60. Arbeitstagung vom 16.-18. April 1986 beschlossenen „Grundsätze über die Unterbringung von Kindern in Mutter-Kind-Abteilungen in Justizvollzugsanstalten“).
43
Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen nach § 27 Abs. 1 SGB VIII umfasst neben den Betreuungsleistungen in der Mutter-Kind-Abteilung vorliegend als Annexleistung auch die Leistung von Krankenhilfe gem. § 40 SGB VIII.
44
Die Krankenhilfe gem. § 40 SGB VIII knüpft dem Wortlaut nach zwar nur an Hilfen gem. §§ 33 bis 35 SGB VIII sowie § 35a Abs. 2 Nr. 3 und 4 SGB VIII an (und findet entsprechend Anwendung für Hilfemaßnahmen nach §§ 13 Abs. 3, 19 Abs. 3 und 21 Satz 2 SGB VIII), während Mutter-Kind-Einrichtungen des Strafvollzuges nicht explizit genannt werden. Jedoch ist eine entsprechende Anwendung auch bei dieser Sonderform der Hilfegewährung anzunehmen. Die von § 40 SGB VIII genannten Hilfen zur Erziehung beziehen sich allesamt auf Hilfen für Minderjährige außerhalb des Elternhauses. Sinn und Zweck dieses Zusammenspiels von § 40 SGB VIII und diesen meist vollstationären Hilfeleistungen ist die Gewährung der Hilfe aus einer Hand. Der Leistungsberechtigte soll hinsichtlich der Krankenhilfe nicht zusätzlich noch eine weitere Behörde um Hilfe ersuchen müssen, sondern sich an einen gesamtzuständigen Leistungsverpflichteten wenden können (vgl. von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 15.07.2018, § 40 SGB VIII Rn. 6, Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 40 Rn. 2). Dieser Gedanke ist ebenso auf die Mutter-Kind-Einrichtungen des Strafvollzuges anzuwenden, welche - insbesondere in Hinblick auf die ebenfalls von der Annexleistung umfassten gemeinsamen Wohnformen für Mütter/Väter und Kindern gem. § 19 SGB VIII - eine vergleichbare Form voll- oder teilstationärer Hilfe darstellen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, da die Aufzählung der Hilfeformen in den §§ 28 bis 35 SGB VIII nicht abschließend ist und auch neue Hilfeformen derselben Zielrichtung zulässt (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.2002 - 5 C 48/01 - juris Rn. 35). Eine Erbringung der Krankenhilfe über Vorschriften der §§ 47 ff. SGB XII, wie es der Beigeladene vorschlägt, entspricht indes nicht dem Vorrang der Jugendhilfe vor konkurrierenden sozialhilferechtlichen Leistungen gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (vgl. BayVGH, B.v. 24.4.2001 - 12 CE 00.1337 - juris Rn. 28).
45
Des Weiteren kommt Krankenhilfe gem. § 40 SGB VIII nur bei Fehlen von Versicherungsschutz in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung zum Tragen. Denn gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist die Jugendhilfe im Verhältnis zu Leistungen der Krankenversicherung nachrangig (vgl. Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 40 Rn. 4, 6). Die Antragstellerin hat vorliegend glaubhaft gemacht, dass eine Familienversicherung gem. § 10 SGB V für ihre Tochter nicht besteht; eine Versicherungspflicht des Kindes gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V besteht ebenfalls nicht, da der Anspruch auf Krankenhilfe gem. § 40 SGB VIII eine „anderweitige Absicherung im Krankheitsfall“ i.S.d. Vorschrift darstellt und insoweit vorrangig ist (vgl. BSG, U.v. 27.1.2010 - B 12 KR 2/09 R - juris). Dass ein anderweitiger Versicherungsschutz für das Kind bestünde, ist nicht vorgetragen und dem Gericht auch nicht ersichtlich.
46
Die Antragsgegnerin ist jedoch für die Gewährung der Leistungen für die Antragstellerin nach § 40 i.V.m. § 27 SGB VIII örtlich unzuständig.
47
Eine Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin ergibt sich nicht wie vom Beigeladenen vorgetragen aus § 43 SGB I. Unabhängig davon, ob es sich bei der Antragsgegnerin tatsächlich um den zuerst angegangenen Leistungsträger handelt, scheidet eine Leistungsverpflichtung nach § 43 SGB I aus, da diese Regelung bei der hier vorliegenden Situation, in der ausschließlich die örtliche Zuständigkeit zwischen verschiedenen Jugendhilfeträgern streitig ist, von der für die Jugendhilfe spezielleren (vgl. insoweit § 37 SGB I) Regelung in § 86d SGB VIII verdrängt wird (vgl. BayVGH B.v. 8.8.2007 - 12 CE 07.1443 - juris Rn. 19; Lange in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 22.07.2019, § 86d Rn. 5).
48
Auch aus § 86d SGB VIII lässt sich keine Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin ableiten, so dass auch die Frage, ob auf § 86d SGB VIII überhaupt ein Anordnungsanspruch gemäß § 123 VwGO gestützt werden kann (vgl. bejahend BayVGH, B.v. 24.4.2001 - 12 CE 00.1337; OVG NW, B.v. 27.9.2005 - 12 B 1563/05 - jeweils juris, wohl verneinend Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 86d Rn. 10) nicht geklärt werden muss.
49
Bei § 86d SGB VIII handelt es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung im engeren Sinne, sondern um eine Leistungspflicht zum vorläufigen Tätigwerden (vgl. OVG NW, B. v. 16.7.2014 - 12 A 717/14 - juris Rn. 9). Hiernach ist, wenn die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird, der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 SGB VIII der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält.
50
Zwar ist auf Grund des hier vorliegenden Zuständigkeitsstreits zwischen der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen, infolge dessen beide infrage kommenden örtlichen Jugendhilfeträger ihre Zuständigkeit für die streitgegenständliche Leistung verneint haben, § 86d Var. 1 SGB VIII einschlägig, wonach die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht (vgl. zu diesem Tatbestandsmerkmal Lange in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 22.07.2019, § 86d Rn. 22). Jedoch trifft die vorläufige Leistungspflicht nicht die Antragsgegnerin. Denn maßgeblich für die vorläufige Leistungspflicht ist der Ort, an dem sich das Kind, welchem die Jugendhilfemaßnahme zugutekommen soll, vor Beginn der Leistung tatsächlich aufgehalten hat. Der tatsächliche Aufenthalt der neugeborenen Tochter der Antragstellerin im Sinne einer physischen Anwesenheit vor Aufnahme in die Mutter-Kind-Einrichtung lag hier im Kreisgebiet des Beigeladenen, wo diese geboren wurde (zum Begriff “Beginn der Leistung” vgl. grundlegend BVerwG, U. v. 19.10.2011 - 5 C 25/10 - juris Rn. 18 ff.). Demnach ist nicht die Antragsgegnerin, sondern der Beigeladene, der bereits in Hinblick auf die Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII vorläufig tätig geworden ist, auch hinsichtlich der Erbringung von Krankenhilfe leistungsverpflichtet.
51
Der Anspruch der Antragstellerin auf Krankenhilfe gegen die Antragsgegnerin ergibt sich des Weiteren auch nicht aus den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen des § 86 SGB VIII, welcher die originäre Zuständigkeit für Jugendhilfemaßnahmen nach § 27 Abs. 1 SGB VIII regelt.
52
Weder die allein sorgeberechtigte Antragstellerin noch deren Tochter haben derzeit einen gewöhnlichen Aufenthalt, so dass sich die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII richtet und somit der tatsächliche Aufenthaltsort des Kindes vor Beginn der Leistung maßgeblich ist.
53
Nach der von der Rechtsprechung als allgemeine Legaldefinition auch in der Jugendhilfe herangezogenen Begriffsbestimmung des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt vielmehr, dass der Betreffende an dem Ort oder in dem Gebiet tatsächlich seinen Aufenthalt genommen hat, sich dort „bis auf Weiteres“ im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (st. Rspr, vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2010 - 5 C 21/09 - juris Rn. 14, 21 f. m.w.N.).
54
Aus diesen Maßstäben folgt zugleich, dass jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt aufgibt bzw. verliert, wenn er seinen Aufenthaltsort tatsächlich wechselt und die konkreten Umstände erkennen lassen, dass er am bisherigen Aufenthaltsort nicht mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben wird (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 22).
55
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze hat die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet M. der Antragsgegnerin jedenfalls zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. aufgegeben. Zwar ist die Antragstellerin in M. aufgewachsen und unterhält nach wie vor den Kontakt zu ihren dort wohnhaften Eltern, jedoch ist hinsichtlich ihrer übrigen Lebensverhältnisse ein für die Beibehaltung ihres gewöhnlichen Aufenthalts ausreichender Bezug nicht mehr gegeben. Eine eigene Wohnung, in welche die Antragstellerin nach Ende der Untersuchungs- oder einer sich möglicherweis anschließenden Strafhaft zurückkehren könnte, besteht nicht mehr; der Mietvertrag für die mit ihrem Lebensgefährten bewohnte Wohnung in M. endete am 28. Februar 2019. Auch eine klare Rückkehrperspektive der Antragstellerin, soweit eine solche überhaupt für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts beachtlich ist (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 23), fehlt. So gab diese zuletzt am 27. November 2019 auf einem Formular des Jugendamtes des Beigeladenen an, nach der Haftentlassung mit ihrem Freund, dem Vater ihres Kindes, eine eigene Wohnung „in M. & Umgebung (u.a. Au., A., etc.)” beziehen zu wollen und wenn sie nichts fände, zu ihren Eltern zu ziehen. Eine definitive Entscheidung zugunsten M. geht dabei nicht hervor. Des Weiteren lebt auch ihr Lebensgefährte, mit dem sie zuletzt in der gemeinsamen Wohnung wohnte, nicht mehr in M., da dieser ebenfalls inhaftiert ist. Eine feste Arbeit hatte die Antragstellerin zuletzt nicht. Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Brücken zu dem Ort ihres damaligen gewöhnlichen Aufenthaltes weitestgehend abgebrochen wurden.
56
Einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt hat die Antragstellerin in der Untersuchungshaft nicht begründet. Zwar kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Aufenthalt frei gewählt ist, jedoch spricht gegen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts am Ort der Untersuchungshaft, dass diese Haftform nach ihrem Zweck und ihrer gesetzlichen Ausgestaltung nur vorübergehender Natur und damit eben nicht zukunftsoffen ist (vgl. - auch zum Folgenden - VG München, U.v. 16.1.2019 - M 18 K 17.1905 - juris Rn. 21 ff.). Dies folgt neben der gesetzlich vorgesehenen grundsätzlichen Dauer von nur sechs Monaten (§ 121 Abs. 1 StPO) auch aus der Möglichkeit, die Untersuchungshaft jederzeit zu beenden, indem der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt (§ 116 StPO) oder dieser aufgehoben wird (z. B. aufgrund einer Haftprüfung, §§ 117 ff. StPO, oder einer Haftbeschwerde, §§ 117 Abs. 2 Satz 2, 118 Abs. 2 StPO, bzw. unter den Voraussetzungen zur Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 StPO). Schließlich ist auch mit Blick auf die strafrechtliche Unschuldsvermutung während der Dauer der Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung von der Begründung eines nur tatsächlichen Aufenthalts während der Untersuchungshaft auszugehen. Selbst wenn man von der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes der Antragstellerin in der JVA A. ausgehen würde, würde dies zumindest nicht zur örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin für den geltend gemachten Anspruch führen. Vielmehr ergäbe sich auch dann eine Zuständigkeit des Beigeladenen nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII.
57
Sofern kein gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils (hier nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII die allein personensorgeberechtigte Antragstellerin) vorliegt, ist subsidiär auf § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zurückzugreifen. Hiernach richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung. Hatte das Kind oder der Jugendliche hingegen während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung keinen gewöhnlichen Aufenthalt, so ist gem. § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält.
58
Als Beginn der Leistung ist der Tag des Einsetzens der Hilfegewährung zu sehen, mithin also die Aufnahme der Antragstellerin und ihrer Tochter in die Mutter-Kind-Einrichtung am 31. August 2019 (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 - 5 C 25/10 - juris). Da die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt über keinen gewöhnlichen Aufenthalt verfügte, ist auch ein solcher nicht für ihr neugeborenes Kind anzunehmen. Vielmehr bestand für die wenigen Tage nach seiner Geburt vor der Aufnahme in die Mutter-Kind-Abteilung nur ein tatsächlicher Aufenthalt des Kindes in der Geburtsklinik des Krankenhauses Friedberg (vgl. die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Geburtskrankenhaus i.H.a. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ablehnend BayVGH U.v. 9.6.2005 - 12 BV 03.1971 - juris Rn. 24). Zuständig ist danach nicht die Antragsgegnerin, sondern der Beigeladene.
59
Die Antragsgegnerin ist demnach für die Leistungen an die Antragstellerin örtlich nicht zuständig. Vielmehr ist der Beigeladene sowohl in Hinblick auf seine vorläufige Leistungsverpflichtung gem. § 86d SGB VIII als auch gem. § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII für die Hilfe zur Erziehung gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung der Antragstellerin in der Mutter-Kind-Abteilung der JVA A. sowie als Annexleistung hierzu für die Erbringung der Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII örtlich zuständig.
60
Der Antrag gegen die Antragsgegnerin war somit abzuweisen.
61
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
62
Das Verfahren ist gem. § 188 Satz 2 HS. 1 VwGO gerichtskostenfrei.