VGH München, Beschluss v. 27.04.2020 – 20 NE 20.793
Titel:

Corona-Pandemie - Keine Aussetzung des Vollzugs der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmeverordnung

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1, § 32
2.BayIfSMV § 2 Abs. 4, Abs. 5
GG Art. 3 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 2 Abs. 4 und 5 2. BayIfSMV verstoßen gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Von einer Außervollzugsetzung wird angesichts der bestehenden Corona-Notstandslage und der kurzen Geltungsdauer der Vorschrift bis einschließlich 3. Mai 2020 abgesehen. (Rn. 26)
2. § 2 Abs. 5 Nr. 1 2. BayIfSMV ist so zu verstehen, dass auch Einzelhandelsgeschäfte öffnen dürfen, die ihre Verkaufsfläche auf 800 qm oder weniger reduzieren. (Rn. 40)
3. Je länger die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie fortbestehen, desto mehr spricht dafür, dass sie der Ermächtigung durch ein besonderes förmliches Bundesgesetz bedürfen. (Rn. 45)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Betriebsschließung, Kaufhauskette, Einstweiliger Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren, Einzelhandelsbetrieb, Verkaufsfläche, Gleichheitssatz
Fundstellen:
RÜ 2020, 383
AuR 2020, 287
BeckRS 2020, 6630
LSK 2020, 6630
GewA 2020, 234

Tenor

I. § 2 Abs. 4 und 5 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BaylfSMV) sind mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrem zunächst gestellten Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgte die Antragstellerin das Ziel, den Vollzug der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie vom 27. März 2020 (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmeverordnung - BayIfSMV - BayMBl. 2020 Nr. 158, GVBl. 2020 S. 196) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162, GVBl. 2020 S. 194) einstweilen auszusetzen.
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1. Der Antragsgegner hat am 20. April 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BaylfSMV) erlassen, die in § 2 Abs. 4 und Abs. 5 folgende Regelung vorsieht:
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„(4) 1Untersagt ist die Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels jeder Art. 2Hiervon ausgenommen sind der Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Banken und Geldautomaten, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Verkauf von Presseartikeln, Filialen des Brief- und Versandhandels, Post, Bau- und Gartenmärkte, Gärtnereien, Baumschulen, Tierbedarf, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Fahrradwerkstätten, Reinigungen und der Online-Handel. 3Die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden können auf Antrag Ausnahmegenehmigungen für andere, für die Versorgung der Bevölkerung notwendige Geschäfte erteilen, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. 4Ausgenommen sind auch Buchhandlungen, Kfz-Handel und Fahrradhandel. 5Die Öffnung von Einkaufszentren und Kaufhäusern ist nur erlaubt, soweit die vorstehend genannten Ausnahmen betroffen sind.
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(5) Abweichend von Abs. 4 Satz 1 und 5 ist die Öffnung von sonstigen Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels auch zulässig, wenn
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1. deren Verkaufsräume eine Fläche von 800 m² nicht überschreiten und
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2. der Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 m2 Verkaufsfläche.“
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2. Die Antragstellerin ist im Einzelhandel tätig und betreibt seit dem Jahr 2011 Warenhäuser im Premiumsegment in den Bundesländern Bayern, Berlin und Hamburg. Sie beschäftigt derzeit ca. 1660 Mitarbeiter. Zur Begründung ihres Antrages trägt sie im Wesentlichen vor, weil sowohl Liefervereinbarungen als auch Arbeits- und Mietverträge uneingeschränkt fortgälten, sei der Antragstellerin, insbesondere durch den massiven Verlust von Umsatzerlösen verglichen mit der Budgetplanung, allein in den vergangenen vier Wochen ein finanzieller Schaden von insgesamt … € entstanden. Der Umfang des bei der Antragstellerin eingetretenen Schadens habe sich an der Tatsache manifestiert, dass von den ca. 1660 Mitarbeitern der Antragstellerin wegen der Schließung der Warenhäuser etwa 980 derzeit nicht arbeiteten und der Unternehmensumsatz auf unter 5% des budgetierten Niveaus gefallen sei. Sämtliche von der Antragstellerin umgehend getroffenen Maßnahmen zur Schadensreduzierung, insbesondere die Beantragung von Kurzarbeit sowie Vereinbarungen zur Aussetzung von Vertrags- und Lieferbeziehungen, hätten angesichts der umfassenden Schließungsanordnung und des vollständigen Wegfalls der Einnahmen aus dem Kerngeschäft zu keiner nennenswerten Abfederung des existenzvernichtenden Schadens geführt. Es stehe zudem zu erwarten, dass der bereits eingetretene finanzielle Schaden sich bei einer Aufrechterhaltung der Maßnahmen von beispielsweise allein vier weiteren Wochen mehr als verdoppeln werde. Gerade in der Osterzeit finde üblicherweise eine Umsatzsteigerung statt, die im Rahmen der bestehenden Vertrags- und Lieferbeziehungen bereits berücksichtigt worden sei. Die Verluste der Antragstellerin könnten hierbei nicht wie in anderen Vertriebsstrukturen durch Onlinehandel oder die Lieferung von Waren kompensiert oder abgemildert werden, da die gesamte Vertriebsstruktur im Kerngeschäft der Antragstellerin auf den stationären Verkauf ausgerichtet sei. Selbst in dem Fall, dass die Geltungsdauer der angegriffenen Verordnung nicht verlängert werde, rechne die Antragstellerin mit erheblichen Anlaufschwierigkeiten in ihrem Kerngeschäft, da damit gerechnet werden müsse, dass der Betrieb nur unter Auflagen und Beschränkungen zugelassen werde, der Vermarktungszeitraum für die Frühjahrs- und Sommerware, insbesondere im Fashion-Bereich, erheblich verkürzt sei, zu erwarten sei, dass die Kunden beim Konsumverhalten nach den Erfahrungen der letzten Wochen zurückhaltend sein würden und durch die Ermöglichung des fortgesetzten Betriebs von Wettbewerbern, insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel, eine Abwanderung von Kunden erfolgt sei, die erst wieder zurückgewonnen werden müssten.
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Vorliegend bestehe eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache, weil die streitgegenständliche Regelung sich als unwirksam erweisen werde. Der Normgeber habe durch die Ermöglichung derartiger Eingriffe durch die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ohne echte Befreiungsmöglichkeiten von den generellen Betriebsschließungen den Vorbehalt des Gesetzes verletzt, weil eine derartig schwerwiegende, in den Kernbereich des Grundrechts nach Art. 12 Grundgesetz eingreifende Regelung dem Parlamentsvorbehalt unterliege. Zumindest sei § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass derartige Betriebsschließungen davon nicht gedeckt seien. Durch die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2 Satz 2 BayIfSMV habe der Gesetzgeber auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung innerhalb des Einzelhandels geschaffen, welche auf keinen sachlichen Erwägungen gründe. Generelle Betriebsschließungen verstießen gegen den in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Weniger belastende Maßnahmen seien genauso effizient. Außerdem sei die mit der Schließung von Warenhäusern einhergehende Reduzierung des Angebotssortimentes kontraproduktiv, weil durch die Verknappung des Angebots eine Konzentration von Menschenansammlungen gefördert werde. Die Außervollzugsetzung der Schließungsanordnung sei dringend geboten.
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Die Antragstellerin beantragt zuletzt sinngemäß,
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§ 2 Abs. 4 und 5 der Zweiten Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag vorläufig außer Vollzug zu setzen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Auf einen vom Senat erstellten Fragenkatalog führte der Beklagte im Wesentlichen aus: Grundlage für die Ausgestaltung der Erleichterungen durch die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BaylfSMV) sei in wesentlichen Teilen die gemeinsame Übereinkunft zwischen der Frau Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder vom 15. April 2020. In diesem Beschluss heiße es:
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„Wir werden in kleinen Schritten daran arbeiten, das öffentliche Leben wieder zu beginnen, den Bürgerinnen und Bürgern wieder mehr Freizügigkeit zu ermöglichen und die gestörten Wertschöpfungsketten wiederherzustellen. Dies muss jedoch gut vorbereitet werden und in jedem Einzelfall durch Schutzmaßnahmen so begleitet werden, dass das Entstehen neuer lnfektionsketten bestmöglich vermieden wird. Der Maßstab bleibt dabei, dass die Infektionsdynamik so moderat bleiben muss, dass unser Gesundheitswesen jedem Infizierten die bestmögliche Behandlung ermöglichen kann und die Zahl der schweren und tödlichen Verläufe minimiert wird.“
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Die Entscheidung des Verordnungsgebers, eine weitergehende Öffnung von Einzelhandelsgeschäften nur bis zu einer festgelegten Obergrenze der Verkaufsfläche zuzulassen, beruhe damit auf einer Abwägung zwischen den Versorgungsinteressen der Bevölkerung und den - auch grundrechtlich geschützten - Interessen des Einzelhandels an einer Wiedereröffnung ihres wichtigsten Vertriebswegs auf der einen Seite und der weiterhin notwendigen Begrenzung des Risikos einer Ausweitung des Infektionsgeschehens, die das Gesundheitssystem überlasten könnte, auf der anderen Seite. Im Rahmen dieser Abwägung habe der Verordnungsgeber im Wege einer pauschalierenden und typisierenden Betrachtung berücksichtigen dürfen, dass großen Einzelhandelsunternehmen typischerweise in höherem Maße alternative Vertriebswege und finanzielle Reserven zur Verfügung stünden als kleinen Betrieben und dass von diesen größeren Unternehmen andererseits eine größere Anziehungskraft auf einen größeren Kundenkreis aus einem wiederum größeren räumlichen Einzugsbereich ausgehe, was zu einer Intensivierung von persönlichen Kontakten in und im Umfeld solcher Geschäfte sowie zu einer Erhöhung zusätzlicher Verkehre führe und damit die infektionsschutzrechtlichen Risiken vergrößere.
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Maßgeblich für eine Öffnung der Baumärkte sei das Versorgungsinteresse der Bevölkerung, das unter Abwägung der infektionshygienischen Risiken in dieser Sparte des Einzelhandels überwiege. Denn die Versorgung mit Werkzeug und Baustoffen gehöre in Deutschland, insbesondere im ländlich geprägten Raum, seit jeher typischerweise zum notwendigen Bedarf. Da wesentliche Gartenarbeiten notwendiger- oder üblicherweise in der aktuellen Jahreszeit vorgenommen würden, bestehe auch insoweit ein besonderes Bedürfnis der Bevölkerung nach entsprechenden Versorgungsmöglichkeiten. Hinzu komme weiter, dass Gartenmärkte, Gärtnereien und Baumschulen in der aktuellen Jahreszeit einen Großteil ihres Jahresumsatzes erzielten und daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen großen Bestand an im Regelfall selbst gezogenen Pflanzen auf Lager hätten. Diese Pflanzen seien bereits an Ort- und Stelle vorhanden, d.h. sie könnten nicht - wie etwa im Bereich der Floristik - abbestellt werden und würden bei einer länger andauernden Betriebsschließung verderben. Gerade in dieser Branche würde sich eine weitergehende Betriebsschließung in der aktuell anlaufenden Gartensaison verheerend auf die Existenz zahlreicher Betriebe auswirken. Ferner wirke sich eine Schließung der Betriebe über die nun anlaufende Gartensaison auch auf die Bevölkerung insoweit aus, dass Pflanzungen (insbesondere für Obst- und Gemüsegärten) und die daraus resultierenden Ernten für das gesamte laufende Jahr unmöglich gemacht würden. Da vor allem auch Baumärkte zugleich angeschlossene oder integrierte Gartenmärkte besitzen und für den berufsmäßigen Bedarf ohnehin weiter geöffnet gewesen seien, sei es infektionshygienisch vertretbar gewesen, diese ebenso von einer Schließungsanordnung auszunehmen. Ein weiterer Aspekt sei der, dass Bau- und Gartenmärkte, Gärtnereien und Baumschulen regelmäßig in Ortsrandlagen ansässig seien und Kunden nicht mit dem öffentlichen Personennahverkehr, sondern mit dem eigenen Pkw anfahren; außerdem auch deswegen, weil sie regelmäßig sperrige oder umfangreiche Einkäufe abtransportieren müssten.
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Auch die Betriebe des Kfzsowie des Fahrradhandels besetzten wichtige Positionen in der Versorgung der Bevölkerung, da sie - gerade auch im ländlichen Raum - die Mobilität der Bevölkerung sicherstellten, was vor allem auch für die Ausübung beruflicher Tätigkeiten von Bedeutung sei. Hinzu komme, dass derlei Fahrzeuge regelmäßig nicht oder nur schwerlich im Wege des Onlinehandels erworben werden könnten. Zudem sei gerade in diesen Branchen typischerweise nicht mit einem infektionshygienisch bedenklich hohen Kundenverkehr zu rechnen. Auch die Buchhandlungen erfüllten einen wichtigen Versorgungsauftrag, insbesondere im Hinblick auf Presse- und Wissenschaftsfreiheit und die Zurverfügungstellung von Literatur, Ratgebern und sonstigen Hilfsmitteln, auch vor dem Hintergrund eines nunmehr ansteigenden Bedarfs aufgrund der zeitnah wieder zu beschulenden Abschlussklassen und deren anstehender Abschlussprüfungen.
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Die höchstzulässige Verkaufsfläche von 800 qm sei angelehnt an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum großflächigen Einzelhandelsbetrieb i.S.d. § 11 Abs. 3 BauNVO (vgl. nur BVerwG, U.v. 24.11 2005 - 4 C 14.04 - BVerwGE 124, 376; zuletzt auch BVerwG, B.v. 16.7.2019 - 4 B 9/19 - NVwZ 2020, 83). Anhand dieser Rechtsprechung sei davon auszugehen, dass für Betriebe jenseits dieser Größenordnung besondere Anforderungen in raumordnerischer bzw. städtebaulicher Hinsicht bestünden, da diese eine hohe Anziehungskraft auf Kunden ausübten. Genau auf diese Anziehungskraft stelle die hiesige Regelung ab, indem sie ein übermäßiges Kundenaufkommen an großflächigen Einzelhandelsbetrieben aus infektionshygienischen Erwägungen verhindern möchte. Die 800 qm-Grenze knüpfe damit in Bezug auf die anzustellende Prognose bzgl. der zu erwartenden Anziehungskraft sowie Frequentierung an die bereits zum Bauplanungsrecht angestellten Erwägungen an, die sich hier auch auf das Infektionsschutzrecht als besonderes Sicherheitsrecht übertragen ließen. Die Rechtsprechung zur Prognose dieser Anziehungskraft beruhe auf einer jahrzehntelangen Rechtsprechungspraxis des Bundesverwaltungsgerichts, auf die nunmehr auch § 2 Abs. 5 Nr. 1 2. BaylfSMV zurückgreife (BVerwG, U.v. 24.11.2005 - 4 C 14.04 - BVerwGE 124, 376). Des Weiteren werde die Grenzziehung von 800 qm auch als eines von mehreren Kriterien zur Definition von Sonderbauten herangezogen. Sonderbauten seien nach Art. 2 Abs. 4 Nr. 4 BayBO „Verkaufsstätten, deren Verkaufsräume und Ladenstraßen eine Fläche von insgesamt mehr als 800 qm haben“. Diese Definition beruhe auf der Musterbauordnung, die ständig von der Bauminister-Konferenz aktualisiert werde und die Grundlage der jeweiligen Landesbauordnungen sei.
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Die Flächenbegrenzung auf bereits zulässigerweise geöffnete Geschäfte des Einzelhandels nach § 2 Abs. 2 Satz 2 2. BaylfSMV würde vor allem im Bereich der Vollversorger, welche der notwendigen Versorgung der Bevölkerung mit Gegenständen des täglichen Bedarfs dienten, durch die ansonsten notwendig werdenden (Teil-)Schließungen zu Versorgungsengpässen im Bereich der notwendigen Versorgung führen. Denn die meisten Vollversorger wiesen Verkaufsflächen von 1.200 qm bis 1.500 qm auf. Insbesondere in Bezug auf ländlich geprägte Regionen, in welchen großflächige Vollversorger mit einem weiten Einzugsgebiet vorherrschten, sei insoweit eine Abwägung zwischen den infektionshygienisch vertretbaren Risiken und den Risiken einer sich verschlechternden Versorgungslage breiter Bevölkerungsschichten anzustellen. Hierbei seien nicht nur die etwaig real bestehenden Versorgungsengpässe in die jeweiligen Überlegungen miteinzustellen, sondern auch - und gerade besonders - die subjektiv empfundenen, die etwa durch von den Kunden wahrgenommene Teilschließungen von Lebensmittelmärkten als zentrale Bestandteile der notwendigen Versorgung des täglichen Bedarfs verstärkt werden könnten. Diese subjektive Wahrnehmung könnte zu auch infektionshygienisch unerwünschten Reaktionen auf eine befürchtete Verknappung des Angebots an Gegenständen des täglichen Bedarfs führen („Hamsterkäufe“, verstärkter Kundenandrang bei Ladenöffnung u.ä.).
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Aus den dargelegten Gründen scheide somit auch die Möglichkeit einer Reduzierung der Verkaufsfläche auf 800 qm aus, da nicht anzunehmen sei, dass eine derartige Maßnahme die Anziehungskraft eines originär größeren, d.h. normalerweise großflächigen Einzelhandelsbetriebes im Sinne der BauNVO und der BayBO, signifikant verringern würde. Denn, wie auch das Verwaltungsgericht Hamburg bestätigt habe, trage auch das Warenangebot maßgeblich zur Attraktivität und somit zur Sogwirkung des jeweiligen Einzelhandelsbetriebs bei. Eine größere Verkaufsfläche korreliere dabei unter normalen Umständen regelmäßig auch mit der Breite und Vielfalt des vorgehaltenen Warensortiments. Allerdings sei, ließe man die Reduzierung auf 800 qm zu, nicht damit zu rechnen, dass die betroffenen Einzelhandelsbetriebe nun auch ihr Warenangebot entsprechend der angebotenen Warenvielfalt reduzieren würden.
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Vielmehr sei anzunehmen, dass auf engerem Raum nahezu dasselbe Sortiment in geringerer Stückzahl verfügbar wäre. Damit wären aber gerade die vom Verordnungsgeber bezweckte Reduzierung der Attraktivität und damit die Verringerung der Anziehungskraft großflächiger Einzelhandelsbetriebe konterkariert. Die große Sogwirkung bliebe nahezu gleich.
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Was Vorgaben für die nach § 2 Abs. 2 Satz 4 2. BaylfSMV nunmehr ebenfalls zulässigerweise geöffneten Betriebe betreffe, sei eine größere Verkaufsfläche aus derzeitiger infektionshygienischer Sicht unbedenklich, da Autohäuser, Läden des Fahrradhandels und auch Buchhandlungen nach der Einschätzung des Verordnungsgebers in der Regel keine derart stark frequentierten Betriebe darstellten, in denen das infektionshygienisch unbedenkliche Maß von einem Kunden pro 20 qm Verkaufsfläche überschritten werde.
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Der Verordnungsgeber halte auch in der 2. BaylfSMV nach wie vor an der Gesamtkonzeption des Regel-Ausnahme-Verhältnisses fest. Er halte diese Regelungssystematik auch unter dem sog. Prinzip der Folgerichtigkeit trotz der jüngsten Lockerungen für rechtlich zulässig. Denn dadurch solle vor allem die Sogwirkung großflächiger Einzelhandelsbetriebe verringert werden. Der Verordnungsgeber sei sich auch darüber im Klaren, dass sich mit einer Wiederzulassung kleinflächiger Betriebe insbesondere auch der vom Senat angesprochene Anwendungsbereich der Dispensmöglichkeit des § 2 Abs. 4 Satz 3 2. BaylfSMV verringert habe. Dies sei allerdings Ausfluss und faktische Konsequenz der vom Verordnungsgeber stetig umgesetzten Evaluierungs- und Anpassungsbemühungen an die aktuelle Lage, in deren Zuge eine möglichst weitreichende Wiederzulassung - dort, wo infektionshygienisch vertretbar - aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geprüft und auch umgesetzt werde. Gleichwohl halte es der Verordnungsgeber auch weiter für notwendig, eine grundsätzliche Dispensmöglichkeit für - bei Verordnungserlass - noch nicht berücksichtigte Härten im Einzelfall aufrechtzuerhalten. Aus Gründen der Folgerichtigkeit würde angesichts der deutlich weitergehend zugelassenen Ladenöffnung auch der Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit von Ausnahmegenehmigungen nach § 2 Abs. 4 Satz 3 2. BaylfSMV im Vergleich zur Vorgängerregelung durch Streichung des Wortes „unbedingt“ abgesenkt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Antragsschrift Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Eilantrag hat in der Sache Erfolg.
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1. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nach Auffassung des Senats im Ergebnis vor. § 2 Abs. 4 und 5 der 2. BayIfSMV verstoßen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und sind mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Senat sieht jedoch angesichts der Tatsache, dass die streitgegenständlichen Bestimmungen der 2. BayIfSMV bereits am 3. Mai 2020 außer Kraft treten sollen und es sich um Gleichheitsverstöße minder schweren Gewichts handelt, von einer Außervollzugsetzung ab und stellt vielmehr deren Grundgesetzwidrigkeit fest.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es dem Normenkontrollgericht zwar grundsätzlich verwehrt, im Hinblick auf das öffentliche Interesse etwa eine befristete Weitergeltung der beanstandeten Norm anzuordnen. Die Feststellung der Unwirksamkeit einer nach der Überzeugung des Gerichts ungültigen untergesetzlichen Rechtsnorm entspricht der in § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO vorgesehenen Rechtsfolge. Für ein Absehen von einer solchen Entscheidung besteht grundsätzlich kein Raum, und zwar weder aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität noch wegen privater Interessen (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2004 - 10 C 3.04 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 43 S. 8, B.v. 24.2.2020 - 9 BN 9.18 - ECLI:DE:BVerwG: 2020:240220B9BN9.18.0). Bei Ungültigkeit von Rechtsvorschriften kann grundsätzlich nicht von der Erklärung der Unwirksamkeit nach § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO abgesehen und stattdessen entsprechend der Praxis des Bundesverfassungsgerichts bei der Verwerfung von Gesetzen deren Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht festgestellt werden (BVerwG, U.v. 9.6.2010 - 9 CN 1.09 - BVerwGE 137, 123). Das Bundesverwaltungsgericht hat es jedoch ausdrücklich offen gelassen, ob in besonderen Ausnahmefällen, in denen die Unwirksamkeitserklärung einen „Notstand“ zur Folge hätte, etwas anderes gelten kann.
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Der Senat hält einen solchen Notstand in der gegenwärtigen Bedrohung der Gesundheit der Bevölkerung durch das Corona-Virus für gegeben. Die Wirksamkeit der vielfältigen von den Infektionschutzbehörden getroffenen Maßnahmen können derzeit nicht abgeschätzt werden. Welche Maßnahmen hierbei letztlich besonders geeignet oder weniger geeignet sind, wird sich erst in der Zukunft durch eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung und Bewertung erweisen. Nach dem gegenwärtigen Lagebericht des Robert-Koch-Institutes (Stand: 25.4.2020) gibt es 152.438 an das RKI übermittelte, laborbestätigte COVID-19-Fälle, darunter 5.500 Todesfälle in Zusammenhang mit COVID-19-Erkrankungen. Bezogen auf die Einwohnerzahl (Fälle pro 100.000 Einwohner) wurden die höchsten Inzidenzen aus Bayern (310) gemeldet. Trifft der von manchen Experten prognostizierte zu erwartende Durchseuchungsgrad der Bevölkerung von mindestens 60% zu, kann es, soweit weder ein Impfstoff noch ein antivirales Medikament in absehbarer Zeit zur Verfügung steht, bei einer Letalitätsrate von angenommenen 3% zu weit mehr Todesopfern kommen. Ob dieses Szenario realistisch in Betracht zu ziehen ist, kann der Senat allerdings nicht abschätzen.
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Im vorliegendem Fall wäre der Senat aufgrund der angeordneten Rechtsfolge nach § 47 Abs. 6 VwGO gezwungen, aufgrund des festgestellten Gleichheitsverstoßes § 2 Abs. 4 und 5 2. BaylfSMV außer Vollzug zu setzen, mit der Folge, dass bayernweit sämtliche Einzelhandelsgeschäfte, lediglich mit den infektionsrechtlichen Beschränkungen des § 2 Abs. 6 BayIfSMV belegt, öffnen könnten. Denn die Möglichkeit, einzelne Teile der Regelung außer Kraft zu setzen, sieht der Senat nicht. Andernfalls würde sich die Gerichtsbarkeit an die Stelle der Exekutive setzen und so das Gewaltenteilungsprinzip verletzen. Wenn aufgrund der Unwirksamkeit einer untergesetzlichen Norm - wie hier - eine gesamtgesellschaftliche Bedrohungslage in wesentlichen Fragen ungeregelt bliebe, dann muss es dem Normenkontrollgericht möglich sein, auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verhinderung schwerer Nachteile von der Außervollzugsetzung angesichts eines für kurze Zeit hinnehmbar erscheinenden Gleichheitsverstoßes abzusehen und lediglich, wenngleich gleichsam in einer Vorwegnahme der Hauptsache, die Unvereinbarkeit der untergesetzlichen Norm mit höherrangigem Recht festzustellen.
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9).
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
32
b) Nach diesen Maßstäben ist eine Unvereinbarkeitserklärung des mit dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin angegriffenen § 2 Abs. 4 und 5 der 2. BayIfSMV erforderlich.
33
Der Senat hat sich bereits in mehreren Eilentscheidungen (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.63 - juris; B.v. 9.4.2020 - 20 NE 20.663 - BeckRS 2020, 5446; 20 NE 20.688 - BeckRS 2020, 5449; 20 NE 20.704 - BeckRS 2020, 5450; B.v. 16.4.2020 - 20 NE 20.782 - juris), auf die insofern verwiesen wird, mit der Außervollzugsetzung der 1. BayIfSMV in der Fassung vom 27. März 2020 auseinandergesetzt. Dabei ist der Senat im Rahmen der Eilverfahren davon ausgegangen, dass die angegriffenen Bestimmungen formell wirksam waren und in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine wirksame Rechtsgrundlage finden dürften.
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§ 2 der BayIfSMV hat allerdings durch die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) vom 16. April 2020 (GVBl. 2020 Nr. 11) wesentliche Änderungen erfahren. So wurden Bau- und Gartenmärkte, Gärtnereien, Baumschulen (bereits zum 20.4.2020), Buchhandlungen, Kfz-Handel und Fahrradhandel (ab dem 27.4.2020) von der Betriebsuntersagung ausgenommen (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 2. BayIfSMV). Weiter wurde die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen vom Betriebsverbot zu erlassen, neu gefasst. Schließlich wurde mit § 2 Abs. 5 eine weitere Öffnung von sonstigen Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern ermöglicht, wenn deren Verkaufsräume eine Fläche von 800 qm nicht überschreiten und der Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 qm Verkaufsfläche.
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Diese Regelungen verstoßen aller Voraussicht nach gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie insbesondere im Wesentlichen ungleiche Sachverhalte gleichbehandeln, obwohl nach dem bisherigen Stand des Verfahrens hierfür keine sachliche Rechtfertigung besteht. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. (BVerfG, B.v. 18.7.2019 - 1 BvL 1/18, 1 BvL 4/18, 1 BvR 1595/18- NJW 2019, 3054).
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Die grundsätzliche Freistellung von Bau- und Gartenmärkten, Gärtnereien und Baumschulen dürfte jedenfalls bei summarischer Prüfung im Hinblick auf den Gleichheitssatz gegenüber nicht freigestellten Betrieben noch sachlich gerechtfertigt sein. Hierbei ist zu beachten, dass dem Verordnungsgeber bei der Bewertung, welche der aufgrund der Corona-Pandemie geschlossenen Betriebe allmählich für den (eingeschränkten) Publikumsverkehr wieder geöffnet werden können, ein gerichtlich nicht voll überprüfbarer Gestaltungsspielraum zusteht, der allerdings anhand sachlicher Kriterien ausgefüllt werden muss. Von Bedeutung ist dabei, welche Anziehungskraft die einzelne Betriebsart auf den Konsumenten ausübt und in welchem Umfeld sich der Betrieb befindet. Je nachdem kann prognostiziert werden, ob und inwieweit die infektionsschutzrechtlichen Anforderungen wie z.B. die Abstandsgebote des § 2 Abs. 6 2. BayIfSMV voraussichtlich eingehalten werden können.
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Nach diesen Grundsätzen erscheint die Freistellung von Bau- und Gartenmärkten, Gärtnereien und Baumschulen nicht sachwidrig. So befinden sich Baumärkte in der Regel in dezentraler Lage und werden zumindest typischerweise mit dem eigenen Kraftfahrzeug angefahren. Die Betriebsinhaber solcher Betriebe werden regelmäßig in der Lage sein, die nach § 2 Abs. 6 2. BayIfSMV erforderlichen Hygienekonzepte umzusetzen. Sollten andererseits einzelne Betriebe diese Voraussetzungen nicht erfüllen können, so wäre deren Betrieb im Wege der Einzelanordnung zu beschränken oder letztlich zu untersagen. Großflächige Kaufhäuser befinden sich dagegen regelmäßig in Innenstadtlagen der Großstädte. Ein Großteil der Kunden gelangt über die öffentlichen Verkehrsmittel, insbesondere U- und S-Bahnen, Straßenbahnen und Busse, in den Innenstadtbereich. Durch die Konzentration von Einzelhandelsbetrieben und Dienstleistern in Fußgängerzonen und die dadurch ausgelösten Besucherströme kann hier leichter ein unübersichtliches und unbeherrschbares Infektionsgeschehen entstehen.
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Die Freistellung von Buchhandlungen ohne Begrenzung der Verkaufsfläche nach § 2 Abs. 5 Nr. 1 BayIfSMV ist jedoch aus infektionsschutzrechtlicher Sicht - und allein hierauf kommt es vorrangig an - sachlich nicht gerechtfertigt. Dies wäre nur dann unbedenklich, wenn der stationäre Buchhandel ohnehin über keine 800 qm überschreitende Verkaufsflächen verfügen würde. Dies ist aber in Großstädten gerade nicht der Fall. Vielmehr üben dort die großflächigen Buchhandlungen, die oft als Filialen von überregionalen und regionalen Unternehmen betrieben werden, in den Fußgängerzonen und Einkaufszentren aufgrund ihrer Größe und ihrer Gestaltung eine nicht zu unterschätzende Anziehungswirkung auf das Einkaufspublikum aus. So geht der Senat auch davon aus, dass aufgrund einer im Vergleich zu anderen Geschäften des Einzelhandels relativ langen Verweildauer der Besucher von Buchhandlungen und durch das ständige Ergreifen und Wiederablegen der Bücher durch die potentiellen Käufer von diesen Buchhandlungen ein nicht zu unterschätzendes Infektionsrisiko ausgeht. Die Bedeutung des Versorgungsauftrages von Buchhandlungen, insbesondere im Hinblick auf die Presse- und Wissenschaftsfreiheit sowie die Befriedigung des schulischen Bedarfs, vermag keine andere Bewertung zu rechtfertigen, zumal dieser Versorgungsauftrag ohne Weiteres durch den Onlinebuchhandel und den kleinflächigen stationären Buchhandel erfüllt werden kann. Eine Notwendigkeit, großflächige Buchhandlungen über 800 qm zu privilegieren, ergibt sich aus dieser Argumentation jedoch nicht. Genauso verhält es sich mit dem großflächigen Fahrradhandel. Auch hier ist eine Versorgung der Bevölkerung durch kleinflächige Handelsbetriebe möglich.
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Diese sachwidrige Ungleichbehandlung von großflächigen Buchhandlungen und dem großflächigen Fahrradhandel einerseits und sonstigen großflächigen Einzelhandelsbetrieben andererseits führt nicht etwa zur Unwirksamkeit der sachwidrigen Privilegierung unter Aufrechterhaltung der Betriebsuntersagung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben, sondern zur Verfassungswidrigkeit der Untersagung von Handelsbetrieben nach § 2 Abs. 4 und 5 BayIfSMV. Eine geltungserhaltende Reduktion einer Regelung ist im Entscheidungsprogramm des § 47 Abs. 8 VwGO nicht vorgesehen.
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Die Beschränkung der Öffnung von Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels, deren Verkaufsräume eine Fläche von 800 qm nicht überschreiten (§ 2 Abs. 5 Nr. 1 2. BayIfSMV), begegnet hinsichtlich des Gleichheitssatzes ebenfalls Bedenken, ohne dass dies vom Senat entscheidungserheblich berücksichtigt werden muss. Zwar erscheint der vom Verordnungsgeber gewählte Weg, die Ladenflächen der wiedergeöffneten Einzelhandelsgeschäfte auf 800 qm zu begrenzen, geeignet, das von ihm angestrebte Ziel, die Infektionsraten durch eine Begrenzung der persönlichen Kontakte möglichst gering zu halten, zu erreichen. Auch müssen die besonderen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten für den Verordnungsgebers berücksichtigt werden, das epidemische Geschehen richtig einzuschätzen und im Anschluss daran die nach §§ 32, 28 IfSG notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Dies gilt im Besonderen für die Situation, nach einer Zeit strenger infektionsrechtlicher Restriktionen (sog. „lock down“) eine Maßnahmenlockerung schrittweise zu gestalten („Hochfahren“) ohne eine erneute schwere Infektionswelle mit den sich daraus ergebenden drastischen Folgen für die Bevölkerung ernsthaft zu riskieren. Bei der Ausgestaltung des sich ihm hier bietenden Spielraums hat der Verordnungsgeber allerdings gerade auch im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs in die Berufsfreiheit den allgemeinen Gleichheitssatz zu beachten. Deswegen wird die vom Antragsgegner angestrebte Auslegung des § 2 Abs. 5 Nr. 1 BayIfSMV, die Möglichkeit einer Reduzierung der Verkaufsfläche auf 800 qm auszuschließen, keinen Bestand haben können, zumal auch der Wortlaut der Vorschrift hierfür nicht genügend Anhaltspunkte geben dürfte. Auch die Einschätzung, dass bei einer Reduzierung der Verkaufsfläche auf 800 qm die Sogwirkung dieser Einzelhandelsbetriebe nahezu gleich bliebe, teilt der Senat nicht.
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In diesem Zusammenhang bedarf der Umstand besonderer Beachtung, dass großflächige Einzelhandelsbetriebe im Innenstadtbereich der Großstädte und in anderen Konzentrationen wie Outlet-Centern und Einkaufszentren anders zu beurteilen sind als großflächige Einzelhandelsbetriebe in Stadtrandgebieten und im ländlichen Raum. Der An- und Abfahrtsverkehr ist infektiologisch beispielsweise in von U- und S-Bahnen erschlossenen Innenstadtbereichen der Großstädte wesentlich kritischer zu beurteilen als im Stadtumland und im ländlichen Raum, wo regelmäßig Individualverkehr stattfindet. So führt der Antragsgegner selbst aus, dass Bau- und Gartenmärkte, Gärtnereien und Baumschulen regelmäßig in Ortsrandlagen ansässig sind und Kunden nicht mit dem öffentlichen Personennahverkehr, sondern mit dem eigenen Pkw anfahren. Der Verordnungsgeber hat dieses Differenzierungskriterium also erkannt, aber lediglich in dem Bereich der Baumärkte etc. umgesetzt.
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Schließlich ist im Hinblick auf den Gleichheitssatz auch zu beanstanden, dass derzeit lediglich sonstige Einzelhandelsbetriebe, also solche, die nicht schon unter die Ausnahmetatbestände des § 2 Abs. 4 Satz 2 bis 4 2. BayIfSMV fallen, verpflichtet werden, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 qm Verkaufsfläche (§ 2 Abs. 5 Nr. 2 2. BayIfSMV). Dass sämtliche der unter die Ausnahmetatbestände des § 2 Abs. 4 Satz 2 bis 4 2. BayIfSMV fallenden Betriebe diese Anforderungen ohne weiteres erfüllen würden oder aber aus sachlichen bzw. infektiologischen Gründen hiervon freigestellt werden könnten, vermag der Senat nicht zu erkennen.
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2. Soweit die Antragstellerin geltend macht, durch § 2 Abs. 4 2. BayIfSMV in erheblichem Maß in ihrem Grundrecht aus Art. 12 GG verletzt zu sein, wird die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift und die ihrer Ermächtigungsgrundlage (vgl. hierzu kritisch VGH BW B.v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 - bisher unveröffentlicht; OVG NW, B.v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE - juris Rn. 57) angesichts der Komplexität des Gegenstands nur nach eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren erfolgen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvR 802/20 - juris).
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Bei einer Abwägung der Folgen eines zeitlich eng befristeten Eingriffs in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch (so im Ergebnis auch BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris; B.v. 9.4.2020 - 1 BvQ 29/20 - juris; B.v. 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 - juris; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020, Vf. 6-VII-20, juris Rn. 13 ff.).
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Der Senat ist im Rahmen seiner bisherigen Eilentscheidungen vorläufig davon ausgegangen, dass die bislang auf die §§ 32, 28 IfSG gestützten Maßnahmen mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar sind. Sollte sich aufgrund der Fortentwicklung der Pandemielage jedoch zeigen, dass die grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen nicht mehr nur kurzfristiger Natur sind, sondern längere Zeit fortdauern, erscheint zweifelhaft, ob der Vorbehalt des Gesetzes als wesentlicher Grundsatz einer parlamentarischen Staatsform ohne den Erlass eines Maßnahmegesetzes durch den parlamentarischen Bundesgesetzgeber als Rechtsgrundlage für mittelfristig und langfristig wirkende Maßnahmen gewahrt werden kann.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 3. Mai 2020 2020 außer Kraft tritt (§ 10 Satz 1 2.BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).