VG Ansbach, Urteil v. 29.09.2020 – AN 17 K 20.00484
Titel:
Errichtung einer Dachgaube und Ausbau des Dachgeschosses
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 83 Abs. 6
BayBO 1962 Art. 2 Abs. 5
BayBO 1998 Art. 2 Abs. 5
Leitsätze:
1. Eine bauplanerische Festsetzung kann funktionslos sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen führt nur dann zur Funktionslosigkeit des gesamten Bebauungsplans, wenn die funktionslos gewordene Festsetzung mit den übrigen Festsetzungen in einem „untrennbaren Zusammenhang“ steht, so dass zu prüfen ist, ob die verbleibenden Festsetzungen noch ihre Aufgaben erfüllen können, eine geordnete städtebauliche Entwicklung des Planbereichs zu gewährleisten. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Immer dann, wenn eine Erweiterung zugleich den Bestand der vorhandenen baulichen Anlage verändert, ist eine isolierte Beurteilung der Erweiterung nicht möglich. Ebenso wie bei einer Nutzungsänderung die bauliche Anlage in ihrer geänderten Funktion als Einheit geprüft wird, muss bei einer Änderung einer baulichen Anlage das Gesamtvorhaben in seiner durch die Erweiterung geänderten Gestalt geprüft werden. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Befreiung berührt die Grundzüge der Planung, wenn das Vorhaben in seine Umgebung Spannungen hineinträgt oder erhöht, die nur durch eine Planung zu bewältigen sind. Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch eine Änderung des Bebauungsplans durch die Gemeinde ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Funktionsloswerden des Bebauungsplanes bzw. einzelner Festsetzungen (verneint), Vollgeschossigkeit - dynamische oder statische Verweisung auf die Regelung der BayBO (offengelassen), drittes Vollgeschoss (verneint), keine isolierte Beurteilung einer Erweiterung, wenn damit zugleich der Bestand der vorhandenen baulichen Anlage verändert wird, Regelung zur zulässigen Anzahl der Vollgeschosse als Grundzug der Planung (bejaht), Grundzug der Planung durch Gesamtvorhaben berührt (bejaht), Befreiung, einheitliche Ortsbildgestaltung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 42053
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleiche Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Dachgaube sowie den Ausbau des Dachgeschosses am bestehenden Wohnhaus.
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstückes …, …, Flurnummer …, Gemarkung …, welches, neben diversen Nebengebäuden, mit einem nicht unterkellerten Wohnhaus - Erdgeschoss mit Satteldach - bebaut ist. Das Vorhabengrundstück befindet sich in einer Hanglage, wobei das Gelände in Richtung Norden ansteigt. Das Grundstück ist über die … von Süden kommend zu erreichen. Die Beklagte ist eine kreisfreie Stadt.
3
Das Grundstück befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplanes … der Stadt … vom 22. März 1967, geändert im Jahre 1980, der ein allgemeines Wohngebiet, eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine Geschossflächenzahl von 0,7 sowie als weitere textliche Festlegungen u.a. festlegt:
„…
§ 4: Die Zahl der Vollgeschosse darf nicht mehr als 1 betragen. Werden im Dachgeschoß Wohnräume ausgebaut, so kann dies nur in dem Ausmaß erfolgen, wie es die feuerpolizeilichen Bestimmungen und die Bestimmungen der Bayrischen Bauordnung zulassen.
§ 5: Wellblech- und ähnlich behelfsmäßig wirkende Garagen sind unzulässig. Die Gebäude, Garagen und Nebenbauten sind an den Grundstücksgrenzen lt. Bebauungsplan zulässig. Bei Zusammenbau an den Grundstücksgrenzen ist die Trauf-, First- und Torhöhe aufeinander abzustimmen. Die Bauwerke müssen gestalterisch einander angeglichen werden.
(…)
§ 9: Vorgartenzäune sind als Holzzäune (Latten oder Diagonalzaun) mit einer Maximalhöhe einschließlich Sockel von 1,20m zu errichten. Der Sockel ist in Beton oder Naturstein herzustellen.
…“
4
Mit Änderungsbauantrag vom 20. Februar 2019 beantragte die Klägerin eine Baugenehmigung für den „Anbau an ein Einfamilienhaus mit Herstellung eines barrierefreien Zugangs, Anbau eines Balkons und Neubau einer Holzhütte“. Ebenso wurde mit isolierten Antrag eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB bezüglich der Festsetzung in § 4 des Bebauungsplanes (maximal ein Vollgeschoss) sowie eine Befreiung von der zeichnerischen Festsetzung der Baugrenzen im Bebauungsplan (Einhaltung der östlichen und südlichen Baugrenze) beantragt. Der Antrag beinhaltete auch den Neubau einer Dachgaube im oberen Dachgeschoss bzw. Spitzboden (nachfolgend: Dachgeschoss). Den zunächst noch beantragten Bau der Dachgaube und den Ausbau des Dachgeschosses verfolgte die Klägerin auf Anraten der Beklagten nicht weiter und reichte am 7. Mai 2019 dementsprechend geänderte Tekturpläne ein. Die Tekturplanung wurde mit Baugenehmigung vom 24. Juni 2019 genehmigt. Unter Ziffer II des Bescheides wurde der Klägerin (neben den beantragten Befreiungen zu den Baugrenzen) die beantragte Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der zulässigen Anzahl von Vollgeschossen erteilt. In der Begründung führte die Beklagte aus, dass die Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes städtebaulich vertretbar seien und die Grundzüge der Planung nicht berühren würden. Mit Baugenehmigung vom 16. Juni 1987 sei auf dem Vorhabengrundstück der Bau eines Einfamilienhauses mit Wintergarten genehmigt worden sei. Das Haus sei mit zwei Vollgeschossen errichtet worden, wobei sich das zweite Vollgeschoss im unteren Dachgeschoss (nachfolgend: Obergeschoss) befinde. Eine diesbezügliche Befreiung sei seinerzeit nicht erteilt worden. Die 1987 nicht erteilte Befreiung könne erteilt werden, da bislang keine Missstände aufgetreten seien und die Belichtung und Belüftung gewährleistet sei.
5
Die Klägerin verfolgte ihr ursprüngliches Begehren des Baus einer Gaube und des Ausbaus des Dachgeschosses mit Änderungsbauantrag vom 10. Oktober 2019 weiter und reichte entsprechende Pläne ein. Im Bauantrag wurde angegeben, dass das Bauvorhaben einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB bedürfe und dass ein Antrag auf Ausnahme/Befreiung/Abweichung mit Begründung, § 3 Nr. 9 BauVorlV, als Anlage beigefügt sei. Ein isolierter Antrag auf Befreiung findet sich in den Akten jedoch nicht. Im Begleitschreiben der von der Klägerin beauftragten Architektin wies diese darauf hin, dass es sich ihrer Meinung nach um einen Antrag im Freistellungsverfahren handele, da der nunmehr beantragte Ausbau des Dachgeschosses nicht zu einem weiteren Vollgeschoss bei Anwendung der Regelung der BayBO 2008 führe. Mit Schreiben der Beklagten vom 6. November 2019 teilte diese der Klägerin mit, dass die Voraussetzungen für eine Genehmigungsfreistellung nicht vorlägen und gab die Antragsunterlagen zurück. Daraufhin reichte die Klägerin den Bauantrag erneut am 26. November 2019 bei der Beklagten ein. Ein isolierter Antrag auf Befreiung ist hierzu in den vorgelegten Bauakten nicht enthalten.
6
Die Beklagte lehnte den Bauantrag mit Bescheid vom 17. Februar 2020, der Klägerin per Postzustellungsurkunde zugestellt am 21. Februar 2020, ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass das Vorhaben gegen Bauplanungsrecht verstoße. Das Vorhaben sei nicht genehmigungsfähig, da es den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche. Mit dem Bauvorhaben entstünde ein drittes Vollgeschoss, welches die zulässige Anzahl an Vollgeschossen um zwei übersteige. Die Behörde legt folgende Vollgeschossberechnung zugrunde:
„BF = 66,98 m² -> 2/3 von BF = 44,65 m²
Fläche mit einer lichten Höhe von mehr als 1,80 m:
0,80 + 0,80 = 1,60 m 1,60 * 13,32 = 21,31 m²
2,10 + 2,00 = 4,10 m 4,10 * 6,19 = 25,38 m²
46,69 m² > 44,65 m² = Vollgeschoss“
7
Dem maßgeblichen Bebauungsplan läge die BauNVO in der Fassung vom 26. Juni 1962 zu Grunde. In deren § 18 BauNVO heiße es: „Als Vollgeschosse gelten Geschosse, die nach landesrechtlichen Vorschriften Vollgeschosse sind oder auf ihre Zahl angerechnet werden“. Bei der Verweisung auf die landesrechtlichen Vorschriften, namentlich die BayBO, handele es sich um eine statische Verweisung, so dass für den Begriff der Vollgeschossigkeit die BayBO vom 1. August 1962 heranzuziehen sei. In deren Art. 2 werde das Vollgeschoss wie folgt definiert: „Vollgeschosse sind Geschosse, die vollständig über der natürlichen oder von der Kreisverwaltungsbehörde festgelegten Geländeoberfläche liegen und über mindestens zwei Drittel Ihrer Grundfläche die für Aufenthaltsräume erforderliche Höhe haben. Als Vollgeschosse zählen Geschosse mit einer lichten Höhe von mehr als 1,80 m unterhalb des Dachraumes. (…)“.
8
Der Bebauungsplan sehe Ausnahmen zur Überschreitung der Anzahl der Vollgeschosse nicht vor. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB lägen nicht vor. So seien Gründe des Allgemeinwohls nicht gegeben. Weiterhin sei eine Abweichung städtebaulich nicht vertretbar. Der Bebauungsplan setze eine eingeschossige Bauweise fest. Die Klägerin habe für die Nutzung des unteren Dachraums zu Wohnzwecken bereits eine Befreiung zugunsten eines zweiten Vollgeschosses erhalten, da es sich bei diesem Bauvorhaben diesen Teil betreffend um die Erneuerung des Bestandes handelte (der bereits genehmigt gewesen sei, nur geringfügige Änderungen). Dies sei städtebaulich vertretbar gewesen, da die Ausbildung des Anbaus im unteren Teil des Satteldaches immer noch ein untergeordneter Teil der verbleibenden großen Dachfläche sei, auch wenn hier die Geschossigkeit um ein Vollgeschoss überschritten wurde. Zudem habe bei der Entscheidung auch der genehmigte Bestand berücksichtigt werden müssen. Das durch den neuen Anbau entstehende dritte Vollgeschoss im Spitzboden des Satteldaches würde sich aber städtebaulich auswirken, da eine dominant überhöhende Bauweise entstehen würde. In der Südansicht entstünde ein gegenüber der eingeschossigen Bauweise (Traufhöhe) um zwei Geschosse herausragender Gebäudeteil, auch auf Grund seiner dominanten Breite (Anteil ca. 50 v. H gegenüber der Fassadenlänge). Auch in der Seitenansicht würde sich die dominante Bauweise verfestigen, die in keinster Weise einen untergeordneten Dachaufbau ausbilde. Bei einer festgesetzten eingeschossigen Bauweise erfülle das Bauvorhaben die städtebaulichen Ziele des Bebauungsplanes damit nicht mehr. Es entstünde ein Präzedenzfall, durch den bodenrechtliche Spannungen ausgelöst würden. Die Durchführung des Bebauungsplanes führe auch nicht zu einer nicht beabsichtigten Härte. Die Nutzung des Spitzbodens eines Einfamilienhauses mit einer bestehenden Grundfläche von 205 m² sei auch unter Würdigung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht zwingend notwendig. Die vorhandenen Deckenhöhen mit nur einem sehr schmalen Bereich mit einer Höhe von mindestens 1,8 m sei ohne deutliche Anbauten zum dauerhaften Aufenthalt ohnehin kaum geeignet.
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Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 17. März 2020, bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangen am selben Tag, hat die Klägerin Klage erhoben und mit Schriftsätzen ihrer Bevollmächtigten vom 17. März 2020, 15. Juni 2020 und 28. September 2020 im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorhaben zwar den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes widerspreche, wonach nur eine eingeschossige Bauweise zulässig sei, dennoch sei die Baugenehmigung zu erteilen, da der Bebauungsplan funktionslos geworden sei. Eine Festsetzung trete wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich beziehe, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht hätten, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließe und die Erkennbarkeit dieser Tatsache für die Planbetroffenen einen Grad erreicht habe, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nehme. Entscheidend sei, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet sei, zur städtebaulichen Ordnung im Geltungsbereich des Bebauungsplanes einen wirksamen Beitrag zu leisten. Dies sei dann nicht mehr anzunehmen, wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv abweichen würden, dass der Plan seine Gestaltungsfunktion nicht mehr zu erfüllen vermag. Es seien zahlreiche Gebäude mit zwei bis drei Vollgeschossen vorhanden. Auch das Vorhandensein eines landwirtschaftlichen Betriebes mit Hofladen, errichtete Garagen mit Satteldach, Carports, sowie Anbauten an den Grundstücksgrenzen würden zur Funktionslosigkeit führen. Weiter seien die Regelungen des § 6 und § 9 sowie die Baugrenzen längst aufgegeben worden. Die Funktionslosigkeit des Bebauungsplanes ergebe sich daraus, dass ca. 30 Gebäude im Plangebiet in Hinblick auf die Anzahl der Vollgeschosse, § 4 des Bebauungsplanes, oder bezüglich der Gebäudegestaltung, § 5 des Bebauungsplanes, den Vorgaben des Bebauungsplanes widersprächen. Auf die beigefügte Anlage K 2 (farblich entsprechend markierter Auszug des Plangebietes aus dem Bayern Atlas) werde Bezug genommen. Auch die beigefügten Lichtbilder würden zeigen, dass am Kriterium, dass nur ein Vollgeschoss errichtet werden dürfe, nicht mehr festgehalten werde. Ebenso gebe es mindestens sieben nicht den Vorgaben des Bebauungsplanes entsprechende Carports. Weiterhin seien auch die Festsetzungen des § 9 des Bebauungsplanes aufgegeben, da schon seit vielen Jahren abweichende Zaunanlagen vorhanden seien. Insbesondere bei einem Heranziehen der Vollgeschossdefinition aus dem Jahre 1967 würde kein neutraler Beobachter auf die Idee kommen, dass nur eine Bebauung mit einem Vollgeschoss erlaubt sei. Aus der Funktionslosigkeit der Festsetzungen nach §§ 4, 5, 9 des Bebauungsplans ergebe sich die gesamte Unwirksamkeit des Plans, da der Plan ohne diese Festsetzungen keinen sinnvollen Teil behielte. Die Zulässigkeit des beantragten Vorhabens richte sich demnach nach § 34 Abs. 1 BauGB, dessen Voraussetzungen vorlägen. Hier sei insbesondere zu berücksichtigen, dass es für die Frage des Einfügens und die Frage der Ermittlung der Vollgeschosse nicht auf die Rechtslage bei Inkrafttreten der Satzung (1967, nicht etwa 1962 wie es die Beklagte behaupte), sondern auf die jetzige Rechtslage ankomme. Wohl unstreitig führe die beantragte Baugenehmigung nach jetzigem Vollgeschossrecht nicht dazu, dass die Gaubenetage der Klägerin als Vollgeschoss zu werten sei. Rein vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass der Klage auch bei unterstellter Wirksamkeit des Bebauungsplanes oder seines § 4 stattzugeben sei, denn die hier begehrte Baugenehmigung greife objektiv in die Grundzüge des Bebauungsplanes nicht ein, da kein neues Vollgeschoss geschaffen werde. Hier sei nicht auf die Gesetzeslage von 1962 einzugehen, da zu diesem Zeitpunkt der Bebauungsplan noch nicht einmal in Kraft gewesen sei. Auch befinde sich das klägerische Grundstück im Randbereich des Bebauungsplanes und in einer Hanglage, so dass durch die beantragte Genehmigung bzw. der Umsetzung hier keine Drittwirkung zum Nachteil von Anwohnern oder zur Verschlechterung etwaiger Ziele des Bebauungsplanes zu befürchten sei.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 17. Februar 2020 wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung für die Errichtung der Gaube und den Ausbau des Dachgeschosses zu erteilen.
Weiter hilfsweise:
Der Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 26. November 2019 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Mit Schriftsatz vom 17. April 2020 und vom 5. August 2020 führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass der Bebauungsplan keineswegs funktionslos geworden sei. Die im Geltungsbereich vorhandene Bebauung entspreche weit überwiegend den Festsetzungen des Bebauungsplanes mit einer eingeschossigen Bauweise (Erdgeschoss als Vollgeschoss) und Satteldach. Durch die vorherrschende Hanglage mit Nord-Süd-Gefälle im nahezu gesamten Plangebiet ergäben sich auf der Südseite der Gebäude häufig Aufenthaltsräume im aus dem Gelände ragenden Kellergeschoss, ohne dass dieses planungsrechtlich als Vollgeschoss einzustufen wäre. Lediglich in Einzelfällen seien Befreiungen für die Errichtung eines zweiten Vollgeschosses erteilt worden, ohne dass hierdurch eine Verwirklichung der städtebaulichen Zielsetzung (Hangbebauung mit geneigten Dächern und einer Wandhöhe von maximal zwei sichtbaren Geschossen auf der Südseite) aufgegeben wäre. Deren Verwirklichung sei im Plangebiet auch weiter objektiv möglich. § 31 Abs. 2 BauGB erkenne gerade die Möglichkeit zu, in städtebaulich vertretbaren Fällen Befreiungen zu erteilen. Von dieser Befugnis habe die Beklagte im Einzelfall Gebrauch gemacht, ohne dass dadurch die Festsetzungen des Bebauungsplanes funktionslos geworden wären. So sei auch für das Gebäude der Klägerin mit Bescheid vom 24. Juni 2019 eine Befreiung hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse erteilt worden und ein zweites Vollgeschoss im Obergeschoss zugelassen worden, da der Ausbau des Obergeschosses und das Entstehen eines zweiten Vollgeschosses städtebaulich vertretbar gewesen sei und die Grundkonzeption der Planung nicht berührt worden seien. Befreiungen für die Errichtung eines dritten Vollgeschosses, wie im streitgegenständlichen Verfahren, seien nicht erteilt worden und seien aus planungsrechtlicher Sicht nicht vertretbar. Für weitere von der Klägerin pauschal behauptete Verstöße gelte dies ebenso. Bei den herausgegriffenen Festsetzungen der §§ 5 und 9 des Bebauungsplanes handele es sich zudem um Festsetzungen zur Gestaltung von Garagen, Nebengebäuden und Einfriedungen, die in der Regel verfahrensfrei seien. Eine präventive Kontrolle der Baubehörde gäbe es nicht. Dass hier ohne die Erteilung von isolierten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes abweichende Anlagen errichtet würden, führe nicht dazu, dass diese Festsetzungen oder gar der gesamte Bebauungsplan seine Rechtwirksamkeit verlieren würden. Jedenfalls seien für das streitgegenständliche Vorhaben diese Festsetzungen nicht einschlägig. Im Hinblick auf die festgesetzte Art der baulichen Nutzung „Allgemeines Wohngebiet“ stehe jedenfalls auch grundsätzlich das Vorhandensein eines landwirtschaftlichen Betriebes mit Hofladen der Wirksamkeit des Bebauungsplanes nicht entgegen. Nach § 4 Abs. 3 Nr. 6 BauNVO in der anzuwendenden Fassung vom 26. Juni 1962 könnten im Allgemeinen Wohngebiet landwirtschaftliche Nebenerwerbsstellen ausnahmsweise zugelassen werden.
13
Für die Qualifikation als Vollgeschoss sei die Begriffsdefinition maßgebend, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bebauungsplanes gegolten habe. Die Festsetzungen des Bebauungsplanes seien insofern statisch und blieben von zwischenzeitlichen Änderungen des Vollgeschossbegriffes in der BayBO unberührt. Es könne nicht angenommen werden, dass die Gemeinde beim Erlass des Bebauungsplanes und der Festsetzung der zulässigen Zahl an Vollgeschossen diesem Begriff auch jeden anderen Inhalt habe geben wollen, den er durch eine geänderte Bauordnung eventuell einmal zukünftig haben könnte. Die von der Gemeinde im Abwägungsprozess während Bauleitplanverfahrens getroffenen Festsetzungen würden ansonsten nachträglich inhaltlich geändert und in die Planungshoheit der Gemeinde unzulässigerweise eingegriffen werden.
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Die errechnete Vollgeschossigkeit ergebe sich bei Ansatz einer Grundfläche von 66,98 m2 gemäß den Angaben in den Bauvorlagen „Grundriss Dachgeschoss - Ansichten“ vom 10. Oktober 2019. Weiter führte die Beklagte aus, dass das Vorhaben die Grundzüge der Planung berühre (Überschreitung der zulässigen Zahl der Vollgeschosse um zwei Geschosse) und städtebaulich nicht vertretbar sei (dreigeschossige Wirkung, bisher keine Gauben im Spitzboden im Gebiet vorhanden). Das entstehende dritte Vollgeschoss wirke sich städtebaulich auch in seiner Ausformung dreigeschossig und dominant überhöhend aus. Auch bei dem Anlegen des Maßstabes des § 34 Abs. 1 BauGB füge sich das Vorhaben hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung aufgrund der Wandhöhe nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Maßstabsgebendes Kriterium für das Einfügen sei nicht die Zahl der Vollgeschosse, sondern die sichtbare Wandhöhe. Der Spitzboden als drittes Vollgeschoss wirke sich städtebaulich in seiner Ausformung dreigeschossig und dominant überhöhend aus. In der Südansicht (Talseite) entstünde ein gegenüber der ansonsten eingeschossig gegebenen Bauweise (Traufhöhe) um zwei Geschosse herausragender Gebäudeteil. Dies insbesondere auch aufgrund der dominanten Breite des Gebäudeteils. Eine derartige sichtbare Wandhöhe sei in der näheren Umgebung des Vorhabens nicht vorhanden und füge sich nicht ein.
15
Auf Nachfrage des Gerichts nahm die Beklagte mit Schriftsatz vom 24. September 2020 anhand der ihr vorliegenden Bauakten zu den klägerseits in der Anlage K2 (Schriftsatz vom 15. Juni 2020) markierten Gebäuden Stellung zu der Frage, bei welchem Gebäuden im Plangebiet eine Befreiung von den Vorgaben des Bebauungsplanes … hinsichtlich der zulässigen Zahl der Vollgeschosse (maximal ein Vollgeschoss) erteilt wurde bzw. bei fehlender Befreiung, ob das Gebäude ein Vollgeschoss oder mehrere besitzt.
16
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 29. September 2020 übergab die Klägerin eine Liste mit Grundstücken im Plangebiet samt Lageplan, in der sie von ihr festgestellte Abweichungen vom Bebauungsplan vermerkt hat.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die beigezogenen Bebauungsplanunterlagen und die Gerichtsakte Bezug genommen. Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 29. September 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift und die dort gefertigten Lichtbilder verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet und zwar sowohl hinsichtlich des Hauptantrages als auch bezüglich des Hilfsantrages.
19
Die Klägerin hat weder einen Rechtsanspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung noch auf erneute Verbescheidung ihres Bauantrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, weil das Bauvorhaben im Widerspruch zu bauplanungsrechtlichen Vorschriften steht, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, 59 BayBO. Die Klägerin wird durch die Ablehnung ihres Bauantrages mit Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2020 nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1, 2 VwGO.
20
Das genehmigungspflichtige Vorhaben der Klägerin ist nicht genehmigungsfähig.
21
Das beantragte Vorhaben ist genehmigungspflichtig, Art. 55 BayBO. Es liegt keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 11 c BayBO vor, denn mit dem Bau der Dachgaube wird die Dachkonstruktion und die äußere Gestalt des Gebäudes in genehmigungspflichtiger Weise geändert. Weiter scheidet eine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 2 Nr. 4 BayBO aus, weil es schon an einer entsprechenden Satzung fehlt. Schließlich ist das Vorhaben auch nicht genehmigungsfrei, Art. 58 BayBO, gestellt, denn es widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplanes (siehe hierzu unter 1.).
22
Jedoch ist die Genehmigungsfähigkeit zu verneinen, Art. 68 Abs. 1 Satz 1, 59 BayBO. Das Vorhaben verstößt gegen Bauplanungsrecht. Es widerspricht den Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungsplanes … Eine Befreiung, § 31 Abs. 2 BauGB, kann nicht erteilt werden. Ob das Vorhaben im Übrigen genehmigungsfähig ist, kann dahingestellt bleiben.
23
1. Das beantragte Vorhaben widerspricht der Festsetzung in § 4 zur zulässigen Anzahl der Vollgeschosse des maßgeblichen qualifizierten Bebauungsplanes … der Stadt …, § 30 Abs. 1 BauGB. Die 1980 erfolgte 1. Änderung des aus dem Jahre 1967 stammenden Bebauungsplanes führte zur Umbenennung des Bebauungsplanes von Nr. … in …, hat die streitentscheidenden Festsetzungen aus 1967 jedoch nicht berührt.
24
Das beantragte Bauvorhaben ist an § 4 des Bebauungsplanes zu messen. Weder die Regelung in § 4 des Bebauungsplans noch der gesamte Bebauungsplan sind, entgegen der klägerischen Darlegungen, funktionslos geworden.
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a) Die Festsetzung in § 4 des Bebauungsplanes, wonach nur ein Vollgeschoss zulässig ist, ist nicht funktionslos geworden. Ebenso wurde der Bebauungsplan nicht insgesamt funktionslos.
26
Nach dem strengen Maßstab der Rechtsprechung kann eine bauplanerische Festsetzung funktionslos sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, B.v. 9.10.2003 - 4 B 85/03 mit weiteren Nachweisen, B.v. 17.2.1997 - 4 B 16/97; BayVGH, B.v. 24.5.2018 - 9 ZB 16.321 - alle juris). Zu betrachten sind dabei nur diejenigen Grundstücke, die im Geltungsbereich der fraglichen Festsetzung liegen (vgl. BayVGH, B.v. 15.3.2011 - 15 CS 11.9 - juris Rn. 12), so dass insbesondere die Grundstücke nördlich/nordöstlich des … (ausgenommen der FlNrn. … und …, welche im Planbereich liegen) nicht zu betrachten sind.
27
Das Vorhandensein eines Vollgeschosses lässt sich aufgrund der im Plangebiet in weiten Teilen vorherrschenden Hanglage nach dem optischen Eindruck überwiegend nicht zuverlässig feststellen. So finden sich aufgrund der Hanglage mit Nord-Süd-Gefälle auf der Südseite der Gebäude häufig Aufenthaltsräume im aus dem Gelände ragenden Kellergeschoss, ohne dass dieses deshalb ein Vollgeschoss ist. Dieselben Unsicherheiten bestehen hinsichtlich der Frage, ob ein ausgebautes Dachgeschoss (Satteldach) ein Vollgeschoss ist. Richtigerweise sind zur Beurteilung der Vollgeschossigkeit die jeweiligen Bauakten zu Rate zu ziehen. Die Beklagte hat insofern auf entsprechende Nachfrage des Gerichts mit Schriftsatz vom 24. September 2020 detailliert ausgeführt, bei welchen Gebäuden nach den Bauakten ein zweites Vollgeschoss vorhanden ist und wenn ja, ob diesbezüglich eine Befreiung erteilt wurde. Es ist klägerseits weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass diese Angaben unrichtig sind, zumal es sich bei der Beklagten um eine an Recht und Gesetz gebundene Behörde handelt (so auch VG Ansbach, U.v. 7.11.2019 - AN 3 K 19.00607 - juris Rn. 35). Danach sind bei 19 Anwesen zwei Vollgeschosse vorhanden und dies sowohl bei Zugrundelegung der Fassung der BayBO von 1962 als auch nach dem aktuell geltenden Rechtsstand der BayBO. Gebäude mit drei Vollgeschossen sind nicht vorhanden. Bei einem Gebäude (* …*) waren die Bauakten nicht auffindbar. Von den 19 Anwesen haben 12 Anwesen eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes erhalten. Bei vier der Anwesen ohne Befreiung ist das Gebäude bereits vor Inkrafttreten des Bebauungsplanes errichtet worden. Aus den Informationen der Beklagten ergibt sich diesbezüglich nicht eindeutig, ob das zweite Vollgeschoss bereits mit der Errichtung des Gebäudes, also vor Inkrafttreten des Bebauungsplanes, gebaut wurde oder erst bei späteren Erweiterungen/Änderungen. Ob bei der Frage der Funktionslosigkeit des Bebauungsplanes nur auf die Abweichungen abzustellen ist, die sich erst nach Inkrafttreten des Bebauungsplanes ergeben haben (dies regelmäßig bejahend: BVerwG, B.v. 11.12.2000 - 4 BN 58/00 - juris Rn. 3), kann dahingestellt bleiben. Selbst bei Berücksichtigung dieser vier Abweichungen ergibt sich keine Funktionslosigkeit der Festsetzung. Unerheblich ist auch, ob die sieben (maximal acht bei unterstellter Zweigeschossigkeit und unterstellter fehlender Befreiung bezüglich des Anwesens …*) ohne Befreiung errichteten zweiten Vollgeschosse als planabweichend in die Betrachtung einzubeziehen sind (ausführlich zum Meinungsstand VG Würzburg, U.v. 28.5.2019 - W 4 K 17.366 - juris Rn. 39 f.), denn auch bei ihrer Einbeziehung ändert sich nichts am Ergebnis der nicht vorliegenden Funktionslosigkeit der Festsetzung. Insgesamt befinden sich im Plangebiet rund 60 Grundstücke, die bei einer Worst-Case-Betrachtung in 40 Fällen plankonform bebaut sind bzw. derzeit (noch) nicht bebaut sind. Bei den unbebauten Grundstücken ist plankonforme Bebauung weiter möglich. Dem stehen nach oben Gesagtem im schlimmsten Fall 20 planwidrig bebaute Grundstücke gegenüber, wobei die Verstöße flächendeckend im Plangebiet zu verzeichnen sind. Damit ergibt sich ein Verhältnis von plankonform bebauten zu planwidrig bebauten Grundstücken von rund 3 : 1 und damit ein deutliches Überwiegen der plankonform bebauten (bzw. noch bebaubaren) Grundstücke. Zwar konnte beim Augenscheinstermin festgestellt werden, dass insbesondere bei den neueren Anwesen …, … (Pultdach) sowie … und … (Zeltdach) - allesamt Anwesen mit geringer Dachneigung -, bei denen jeweils eine Befreiung von der Festsetzung in § 4 des Bebauungsplanes erteilt wurde, sich das zweite Vollgeschoss weder im Keller-, noch im Dachgeschoss befindet. Vielmehr ist hier die Zweigeschossigkeit aufgrund der Bauweise optisch eindeutig zu erkennen. Ob die in den Schriftsätzen der Beklagten dargelegten Begründungen zu den erteilten Befreiungen, in denen auf den jeweiligen Grundstückszuschnitt, die flache Topographie und/oder die flache Dachneigung abgestellt wird, zu überzeugen vermag, kann jedoch dahingestellt bleiben. Auch aus eventuell rechtswidrig erteilten Befreiungen kann nicht geschlossen werden, die Bauaufsichtsbehörde hätte das Planungsziel damit aufgegeben, zumal die Planungsbehörde nach ihrem Vortrag explizit am Planungsziel der Eingeschossigkeit festhält. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass insbesondere auch eine großzügige Befreiungspraxis der Planungsbehörde zu einem Funktionsloswerden von Festsetzungen führen kann. Die hier maßgeblichen zwölf erteilten Befreiungen (bzw. 13 bei unterstellter Zweigeschossigkeit und unterstellter Befreiung hinsichtlich des Anwesens …*) und bei Einbeziehung der sieben (bzw. acht bei unterstellter Zweigeschossigkeit und fehlender Befreiung hinsichtlich des Anwesens …*) illegal errichteten zweiten Vollgeschosse, bei denen die Bauaufsichtsbehörde wohl bislang nicht bauaufsichtlich eingeschritten ist, bei somit maximal 20 planabweichend errichteten Gebäuden kommt die Kammer in einer Gesamtbetrachtung zu der Überzeugung, dass trotz der vorhandenen Verstöße gegen die Vorschrift des § 4 des Bebauungsplanes die Festsetzung zu einem zulässigen Vollgeschoss auch weiterhin geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung beizutragen. Anhand der aktuellen Verhältnisse im Plangebiet weichen die tatsächlichen Verhältnisse noch nicht so massiv und offensichtlich von der Plankonzeption ab, dass dadurch eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich gemacht und in Zukunft ausgeschlossen wird sowie diese Tatsache für die Planbetroffenen offenkundig ist. Trotz der vorliegenden Verstöße sind ca. 66% des Plangebietes vorschriftsgemäß eingeschossig bebaut bzw. kann diese Vorgabe bei noch unbebauten Grundstücken nach wie vor umgesetzt werden.
28
Die von der Klägerseite weiter vorgetragenen Abweichungen von anderen Festsetzungen des Bebauungsplanes in § 5 und § 9 des Bebauungsplanes sind für das streitgegenständliche Vorhaben schon deshalb nicht relevant, da sie die Frage der Geschossigkeit nicht betreffen. Auch führen Abweichungen von mehreren Vorgaben des Bebauungsplanes, die jeweils für sich betrachtet nicht zum Funktionsloswerden der Festsetzung führen, nicht etwa in ihrer Summe, sozusagen in einer Gesamtschau, zur Unwirksamkeit eines Bebauungsplanes, denn es ist, wie das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, B.v. 9.10.2003 - 4 B 85/03 - juris) ausführt, gerade für jede einzelne Festsetzung zu prüfen, ob diese aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse funktionslos geworden ist.
29
Das Funktionsloswerden einzelner anderer Festsetzungen hat nur dann Auswirkungen im Hinblick auf das Vorhaben der Klägerin, wenn das Funktionsloswerden der einzelnen Festsetzung(en) zur Funktionslosigkeit des gesamten Bebauungsplanes führt, was hier ganz eindeutig abzulehnen ist. Die Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen führt nur dann zur Funktionslosigkeit des gesamten Bebauungsplanes, wenn die funktionslos gewordene Festsetzung mit den übrigen Festsetzungen in einem „untrennbaren Zusammenhang“ steht, sodass zu prüfen ist, ob die verbleibenden Festsetzungen noch ihre Aufgaben erfüllen können, eine geordnete städtebauliche Entwicklung des Planbereichs zu gewährleisten (vgl. BVerwG, U.v. 6.7.1984 - 4 C 28.83 - juris; BayVGH, B.v. 13.8.2018 - 2 ZB 16.492 - juris Rn. 9). Dies ist zu verneinen, wenn die Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen das Planungskonzept in seinem Kerngehalt trifft, so dass nur ein Planungstorso übrigbleiben würde (vgl. BayVGH, B.v. 13.8.2018 - 2 ZB 16.492 - juris Rn. 9; BVerwG, B.v. 8.8.1989 - 4 NB 2.89 - juris). Bei einer Funktionslosigkeit der Regelungen in § 5 zur Gestaltung von Garagen und anderen Nebengebäuden bleibt kein Planungstorso zurück, der nicht mehr geeignet wäre, eine geordnete städtebauliche Entwicklung des Gebietes zu gewährleisten. Nichts anderes gilt hinsichtlich der Regelung in § 9 des Bebauungsplanes zur Gestaltung von Vorgartenzäunen. Die weiteren klägerseits vorgetragenen Abweichungen vom Bebauungsplan, wie insbesondere das Vorhandensein eines landwirtschaftlichen Betriebes mit Hofladen, errichtete Garagen mit Satteldach, Carports, Anbauten an den Grundstücksgrenzen, die Aufgabe der Regelungen zu § 6 und zu den Baugrenzen, führen, insbesondere auch nach den im Ortsaugenschein gewonnenen Eindrücken, nicht zu einem Funktionsloswerden der einzelnen Festsetzung und schon gar nicht zur Funktionslosigkeit des gesamten Bebauungsplanes.
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b) Das beantragte Vorhaben der Klägerin widerspricht den Vorgaben in § 4 Satz 1 des Bebauungsplanes …, wonach nur ein Vollgeschoss zulässig ist. Zwar wird mit dem Ausbau des Dachgeschosses samt Gaube kein Vollgeschoss geschaffen, dennoch widerspricht das Vorhaben der Klägerin der Vorgabe in § 4 des Bebauungsplanes, denn insofern kann nicht allein auf das streitgegenständliche Vorhaben „Errichtung einer Gaube und Ausbau des Dachgeschosses“ abgestellt werden. Vielmehr ist das Gesamtvorhaben „Anbau an ein Einfamilienhaus“, wie ursprünglich mit Änderungsbauantrag vom 20. Februar 2019 beantragt, zu betrachten.
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(1) Mit dem streitgegenständlichen Vorhaben Ausbau des Dachgeschosses samt Neubau einer Schleppgaube wird, entgegen der Annahme der Beklagten, kein Vollgeschoss geschaffen.
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Als Vollgeschosse gelten Geschosse, die nach landesrechtlichen Vorschriften Vollgeschosse sind oder auf ihre Zahl angerechnet werden, § 18 BauNVO 1962, ebenso § 20 Abs. 1 BauNVO. Der Gesetzgeber bezieht sich für das Planungsrecht auf einen Begriff aus dem Bauordnungsrecht. Offenbleiben kann, ob es sich hier um eine dynamische Verweisung handelt und damit § 2 Abs. 5 BayBO 1998 i.V.m. Art. 83 Abs. 6 BayBO zur Anwendung kommt oder ob eine statische Verweisung vorliegt, die zur Anwendung des Art. 2 Abs. 5 BayBO 1962 führt. Während bei einer dynamischen Verweisung somit Vollgeschosse Geschosse sind, die vollständig über der natürlichen oder festgelegten Geländeoberfläche liegen und über mindestens 2/3 ihrer Grundfläche eine Höhe von mindestens 2,30 m haben (…), sind bei der statischen Verweisung Vollgeschosse Geschosse, die vollständig über der natürlichen oder von der Kreisverwaltungsbehörde festgelegten Geländeoberfläche liegen und über mindestens 2/3 ihrer Grundfläche die für Aufenthaltsräume erforderliche lichte Höhe haben. Als Vollgeschosse zählen Geschosse, mit einer lichten Höhe von mehr als 1,80 m unterhalb des Dachraums (…).
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Die lichte Höhe ist das Maß zwischen Fußbodenoberkante und Deckenunterkante im fertigen Zustand (vgl. Nolte in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 45 Rn. 40), während sich die bei der dynamischen Verweisung erforderliche Höhe von mindestens 2,30 m nach dem Abstand von Oberkante Fußboden zu Oberkante der Dachhaut oder Dachdecke in fertigem Zustand bemisst (vgl. Rauscher/Franz/Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 2 Rn. 611).
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Nach der bereits in der mündlichen Verhandlung erläuterten Auffassung der Kammer ist die in den Bauunterlagen im Plan „Grundriss Dachgeschoss - Ansichten vom 10. Oktober 2019“ genannte „Vollgeschossberechnung BF = 66,98 m2“, welche die Beklagte ihrer Berechnung im streitgegenständlichen Bescheid zugrunde gelegt hat, unrichtig. Vielmehr ergibt sich eine Bruttogrundfläche von 86,03 m2. Die maßgebliche Bruttogrundfläche, Art. 2 Abs. 6 BayBO, bestimmt sich nach DIN 277-1, Ziff. 6.1.2. Die Bruttofläche eines Geschosses ist die Grundfläche des Geschosses einschließlich der konstruktiven Erschließungen wie Wände, Stützen etc. (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 2 Rn. 528 ff.). Maßgeblich sind damit die Außenmaße des Dachs im endgültigen Zustand (vgl. Dirnberger a.a.O, Rn. 626). Die Frage, ob ein Vollgeschoss vorliegt, ist insbesondere auch losgelöst von den Voraussetzungen zu beurteilen, die Aufenthaltsräume bezüglich der Raumhöhe erfüllen müssen (vgl. Spannowsky in BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, 15. Ed. 1.11.2019, Art. 2 Rn. 82), mit der Konsequenz, dass die volle Bruttogrundfläche von Flächen anzusetzen ist, ohne dass Flächen, bei denen bestimmte Höhen nicht eingehalten werden, herauszurechnen sind. Damit ergibt sich eine Bruttogrundfläche von 86,03 m2 ((13,32 m + 13,34 m)/2 x 5,48 m + 6,19 m x (2,08 m + 2,115 m)/2)), wobei der Berechnung die auf Seite 7 der eingereichten Planunterlagen „Bruttorauminhalt nach DIN 277“ genannten Maße zu den Außenabmessungen von Haupthaus und Gaube DG2 zugrunde gelegt wurden, die sich im Übrigen auch aus dem vorgelegten Grundriss Dachgeschoss - Ansichten vom 10. Oktober 2019 ergeben. 2/3 der Bruttogrundfläche von 86,03 m2 sind daher 57,35 m2.
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46,69 m2 der Fläche haben eine lichte Höhe von mehr als 1,80 m, wie sich aus der unwidersprochenen Berechnung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid mit zugrundeliegender Messung aus den eingereichten Planunterlagen (S. 115 der vorgelegten Bauakte) richtigerweise ergibt. Dies ist weniger als 2/3 der Grundfläche von 86,02 m2. Somit liegt bei Annahme einer statischen Verweisung bei dem geplanten Vorhaben im Dachgeschoss kein Vollgeschoss vor.
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Doch auch bei Zugrundelegung der dynamischen Verweisung errechnet sich kein Vollgeschoss, denn auch hier ergibt sich eine fast vergleichbare maßgebliche Fläche von 48,02 m2 ((13,32 m + 13,34 m)/2 x 1,7 m + 6,19 m x (2,08 m + 2,114 m)/2 + 2,0 m), die somit ebenso deutlich unter der Grenze von 57,35 m2 liegt. Die von der Planerin genannte Wohnfläche über 2,30 m laut den Planunterlagen „Grundriss Dachgeschoss - Ansichten vom 10. Oktober 2019“ von 39,14 m2 ist insoweit nicht relevant, würde aber auch unter der Grenze liegen.
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(2) Zwar wird nach alledem mit dem Ausbau des Dachgeschosses und dem Neubau der Schleppgaube kein Vollgeschoss geschaffen, dennoch widerspricht das Vorhaben der Klägerin der Vorgabe in § 4 des Bebauungsplanes, denn insofern kann nicht allein auf das hier streitgegenständliche Vorhaben „Errichtung einer Gaube und Ausbau des Dachgeschosses“ abgestellt werden. Vielmehr ist das Gesamtvorhaben „Anbau an ein Einfamilienhaus“, wie ursprünglich mit Änderungsbauantrag vom 20. Februar 2019 beantragt, zu betrachten. In diesem Antrag waren u.a. sowohl bauliche Änderungen im Obergeschoss samt Anbau als auch der nunmehr streitgegenständliche Ausbau des Dachgeschosses samt Errichtung der Schleppgaube enthalten. Auf Anraten der Beklagten reduzierte die Klägerin den Bauantrag um das jetzt streitgegenständliche Vorhaben. Für das reduzierte Vorhaben wurde der Klägerin dann mit bestandskräftigem Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2019 eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der zulässigen Anzahl von Vollgeschossen erteilt. Die insoweit erteilte Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB steht einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung indes nicht im Wege. Bei der streitgegenständlich beantragten Baumaßnahme handelt es sich um eine Änderung einer baulichen Anlage. Es handelt sich hier nicht um ein selbständiges, abtrennbares Vorhaben, bei dem eine isolierte Prüfung denkbar erscheint. Vielmehr fehlt es an der Abtrennbarkeit, so dass eine isolierte Betrachtung nicht möglich ist.
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Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Prüfung nach § 29 BauGB ist nicht nur die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung einer baulichen Anlage, sondern vor allem das vom Bauherrn angestrebte Ergebnis seiner Baumaßnahme. Insoweit kommt es darauf an, ob die geänderte bauliche Anlage den bauplanungsrechtlichen Vorschriften entspricht. Eine Beschränkung auf den hinzukommenden Teil würde außer Acht lassen, dass auch der bereits vorhandene Teil der erweiterten Anlage zur Disposition steht, wenn er in der neuen Gesamtanlage aufgeht. Immer dann, wenn eine Erweiterung zugleich den Bestand der vorhandenen baulichen Anlage verändert, sei es durch einen Eingriff in die bestehende Anlage, sei es wegen der aus der Erweiterung resultierenden Qualitätsveränderung des Bestandes, ist eine isolierte Beurteilung der Erweiterung nicht möglich. Ebenso wie bei einer Nutzungsänderung die bauliche Anlage in ihrer geänderten Funktion als Einheit geprüft wird, muss bei einer Änderung einer baulichen Anlage das Gesamtvorhaben in seiner durch die Erweiterung geänderten Gestalt geprüft werden (vgl. BVerwG, U.v. 17.6.1993 - 4 C 17/91 - juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 7.3.2018 -1 B 16.2375 - juris Rn. 18; VG Düsseldorf, U.v. 22.3.2013 - 9 K 6566/11 - juris Rn. 29).
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So ist es auch hier. Der nunmehr streitgegenständliche Ausbau des Dachgeschosses mit Neubau der Schleppgaube verändert den Bestand des Wohnhauses der Klägerin in nicht nur geringfügiger Weise. Mit Errichtung der Schleppgaube wird sowohl die Wandhöhe des Gebäudes als auch die Konstruktion und Statik des Daches in nicht unerheblicher Weise verändert. Ebenso ist zu beachten, dass der Klägerin erst durch den nunmehr beantragten Ausbau des Dachgeschosses mit Errichtung der Schleppgaube ein Zugang zu dem bereits errichteten und auf Dachgeschossebene liegenden Balkon auf dem Anbau ermöglicht wird. Der Balkon hat derzeit keinen ordnungsgemäßen Zugang zum Haus. Auch der insoweit nur provisorisch errichtete Bereich zwischen Balkon und Dach bekommt erst mit Errichtung der nunmehr beantragten Gaube seine endgültige und letztlich schon immer geplante Gestalt. Insofern hat die Klägerin mit Mail vom 22. Juli 2019 an die Beklagte selbst vorgetragen, dass durch den unterbrochenen Baufortschritt zusätzliche Dämm- und Abdichtungsarbeiten notwendig seien, die alle wieder zurückgebaut werden müssten, wenn die Gaube errichtet wird. Insoweit handelt es sich bei der streitgegenständlichen Maßnahme keinesfalls um ein selbständiges, abtrennbares Vorhaben, vielmehr liegt hierin eine Änderung der baulichen Gesamtanlage, so dass die Erweiterung nicht isoliert betrachtet werden kann.
40
Das so definierte Gesamtvorhaben Ausbau des Ober- und Dachgeschosses mit Anbau und Errichtung einer Schleppgaube widerspricht den Vorgaben des Bebauungsplanes, denn es widerspricht den Vorgaben in § 4 des Bebauungsplanes. Mit dem Ausbau und Anbau im Obergeschoss wird ein insoweit nicht zulässiges zweites Vollgeschoss errichtet und zwar sowohl bei einer dynamischen Verweisung auf die BayBO als auch bei einer statischen, wie sich aus den Maßen der vorgelegten Planunterlagen ergibt. Diese Einschätzung wird auch von den Parteien geteilt. So hat die Klägerin eine diesbezügliche Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes beantragt und die Beklagte diese in der Baugenehmigung vom 24. Juni 2019 unter Ziffer II bezüglich der zulässigen Zahl der Vollgeschosse erteilt.
41
2. Somit bedurfte das Vorhaben einer Befreiung, die nicht erteilt werden kann, § 31 Abs. 2 BauGB. Der Klägerin ist der geltend gemachte Anspruch jedoch nicht bereits deshalb zu versagen, weil zweifelhaft ist, ob hinsichtlich des streitgegenständlichen Vorhabens überhaupt ein Antrag auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes eingereicht wurde. Im Ergebnis scheitert der Anspruch jedenfalls an den nicht erfüllten Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB.
42
a) Der Anspruch der Klägerin auf Erteilung der Baugenehmigung scheitert nicht an einer eventuellen fehlenden Beantragung der erforderlichen Befreiung. Die Klägerin gab im Bauantrag zwar an, dass das Bauvorhaben einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB bedürfe und dass als Anlage ein Antrag auf Ausnahme/Befreiung/Abweichung mit Begründung, § 3 Nr. 9 BauVorlV, beigefügt sei. Ein isolierter Antrag auf Befreiung findet sich in den Akten jedoch nicht. Nach dem Wortlaut des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO sind unter anderem auch Ausnahmen und Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans gesondert schriftlich zu beantragen und ist dieser Antrag zu begründen. Allerdings kann sich die Baugenehmigungsbehörde im Rechtsstreit um die Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung nicht auf formale Anforderungen des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO berufen, soweit es um die nur durch Erteilung von Ausnahmen und Befreiungen herzustellende Vereinbarkeit des Vorhabens mit bundesrechtlichem oder auf der Grundlage von Bundesrecht erlassenem Planungsrecht, wie es hier der Fall ist, geht (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2018 - 15 ZB 18.764 - juris Rn. 16 ff.).
43
b) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB sind nicht gegeben. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, wenigstens einer der in § 31 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 BauGB alternativ genannten Befreiungsgründe vorliegt und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
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Das von der Klägerin beabsichtigte Gesamtvorhaben berührt die Grundzüge der Planung, § 31 Abs. 2 Hs. 1 BauGB, so dass eine Befreiung von der Festsetzung des § 4 des Bebauungsplanes bereits aus diesem Grund ausscheidet. Mit den Grundzügen der Planung umschreibt das Gesetz in § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu Grunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind (vgl. BayVGH, U.v. 14.12.2016 - 2 B 16.1574 - juris Rn. 37). Eine Befreiung berührt die Grundzüge der Planung, wenn das Vorhaben in seine Umgebung Spannungen hineinträgt oder erhöht, die nur durch eine Planung zu bewältigen sind, denn was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch eine Änderung des Bebauungsplanes durch die Gemeinde ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden (vgl. BayVGH, 15 ZB 16.940 - juris Rn. 10; BVerwG, U.v. 2.2.2012 - 4 C 14/10 - juris Rn. 22). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein (vgl. BayVGH, B.v. 17.11.2016 - 15 ZB 15.468 - juris Rn. 9).
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Ausgehend hiervon scheidet die Erteilung einer Befreiung von der festgesetzten Zahl der Vollgeschosse aus, weil es sich dabei um einen Grundzug der Planung handelt und dieser durch die Befreiung berührt würde.
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Bei der Festsetzung der maximalen Zahl der Vollgeschosse von einem handelt es sich um einen Grundzug der Planung im Sinn von § 31 Abs. 2 BauGB. Zwar ist allein aus dem Umstand, dass die Beklagte im Bebauungsplan mit der Festsetzung der Grundflächen und Geschossflächenzahl und der Zahl der Vollgeschosse Mindestfestsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nach § 16 Abs. 2 BauNVO getroffen hat, noch nicht zwingend zu entnehmen, dass es sich bei diesen Festsetzungen um Grundzüge der Planung handelt. Hinzu tritt jedoch das Planungskonzept der Gemeinde (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 17.11.2016 - 15 ZB 15.468 - juris Rn. 11). Aus der Planbegründung wird deutlich, dass der Bebauungsplan die kommende Bauentwicklung in geordnete Bahnen lenken sollte, nachdem im Plangebiet bereits über 20 Gebäude entstanden waren. Tragendes Ziel war damit die Sicherstellung einer bestimmten Baustruktur und somit eine einheitliche Ortsbildgestaltung. Die „bauliche Struktur“ eines Baugebiets kommt in besonderer Weise gerade auch durch das Nutzungsmaß in seinen verschiedenen Ausprägungen, mithin auch durch die Anzahl der Vollgeschosse zum Ausdruck. Dass die Satzungsgeberin in der Planbegründung die Anzahl der Vollgeschosse als Merkmal einer gewünschten Baustruktur nicht ausdrücklich aufgeführt hat, ist insoweit unerheblich. Auch wenn ein eingeschossiges Gebäude in zulässigerweise mit einem zweiten Nicht-Vollgeschoss versehen werden kann, ohne dass dies nach außen immer einen sichtbaren Unterschied zu einem weiteren Vollgeschoss ausmacht, ist dies nicht geeignet, die Einordnung als Grundzug der Planung zu hindern. Denn mit der Formulierung „Vollgeschosse“ (und nicht nur „Geschosse“) hat die Satzungsgeberin gerade in Kauf genommen, dass ein Bauherr im Rahmen des rechtlich Zulässigen diese Möglichkeit ausschöpft und ein Gebäude mit einem weiteren Nicht-Vollgeschoss versehen wird. Dies gilt dann für sämtliche von dieser Festsetzung betroffenen Gebäude im Plangebiet, sodass die angestrebte Einheitlichkeit des Ortsbildes gewahrt bleibt. Bei der Festlegung der zulässigen Anzahl von Vollgeschossen handelt es sich um einen das äußere Erscheinungsbild anderweitig kennzeichnenden Maßbestimmungsfaktor, der im Wesentlichen durch die nach außen sichtbare Anzahl von Fensterreihen geprägt ist. Die Festsetzung zu der zulässigen Anzahl von Vollgeschossen dient zudem auch der zulässigen Höhenentwicklung im Plangebiet, wenngleich auch nur mittelbar, da - wie bereits ausgeführt - auch durch den Bau eines Nicht-Vollgeschosses das Gebäude eine größere Höhe erreichen kann. Dennoch gibt die zulässige Anzahl von Vollgeschossen einen gewissen Rahmen vor, weil davon auszugehen ist, dass sich ein vernünftiger Bauherr bei der konkreten Festlegung der Höhe der baulichen Anlage an einen gewissen marktüblichen Standard hält und die Höhe der baulichen Anlagen zudem in der Regel durch weitere Faktoren, z. B. Abstandsflächenregelungen, Rücksichtnahmegebot, begrenzt ist (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 17.11.2016 - 15 ZB 15.469 - juris Rn. 13 f.).
47
Die vorgesehene Bebauung mit einem zweiten Vollgeschoss im Obergeschoss und einem weiteren Nicht-Vollgeschoss im Dachgeschoss berührt diesen Grundzug der Planung, denn es würde ein nicht nur unwesentliches Abrücken von der angestrebten Ortsbildvereinheitlichung, der Sicherstellung einer bestimmten baulichen Struktur bedeuten. Bodenrechtliche Spannungen würden begründet. Auch wenn das Nicht-Vollgeschoss im Dachgeschoss rechnerisch kein Vollgeschoss darstellt, so wirkt sich das Gesamtvorhaben städtebaulich in seiner Ausformung dreigeschossig und dominant überhöhend aus und dies nicht zuletzt auch aufgrund der relativ großen Breite des Anbaus/der Schleppgaube (nahezu ½ der Länge des Hauses). Anders als bei Errichtung eines Zwerchhauses mit Satteldach bzw. eines Giebels mit Satteldach im Dachgeschoss der Klägerin, womit die Beklagte einverstanden wäre, wirkt die geplante Schleppgaube im Dachgeschoss sehr dominant, wozu überdies die so entstehende Wandhöhe des Gebäudes in diesem Bereich, die fast bis an den Dachfirst heranreicht, maßgeblich beiträgt. Dass die Klägerin die Innentreppe zum Dachgeschoss bereits errichtet hat und damit, nach ihren Aussagen, eine Variante mit Satteldach ausscheidet, ist der „scheibchenweisen“ Antragstellung durch die Klägerin geschuldet. Diese konnte gerade nicht darauf vertrauen, dass die Beklagte die Schleppgaube im zweiten Anlauf schon genehmigen werde. Insofern trägt sie auch das finanzielle Risiko von eventuell nötigen Umbaumaßnahmen. Die Erteilung einer Befreiung hätte eine nicht gewünschte Vorbildwirkung und stünde der weiteren Erreichung der städtebaulichen Ziele des § 4 des Bebauungsplanes im Wege. Der Umstand, dass direkt vor dem Haus ein größerer Laubbaum steht, sich das Gebäude in einer Hanglage und im Randbereich des Plangebietes befindet, ändert hieran nichts, denn zum einen ist der Baum nur im Sommer belaubt, zum anderen wäre die Schleppgaube, wie der Ortsaugenschein gezeigt hat, nicht nur von Süden blickend, sondern auch westlich und vor allem östlich des Vorhabengrundstücks, insbesondere vom … aus, zu sehen. Beim Ortstermin hat sich zudem gezeigt, dass bereits die vorhandene Einbrüstung des Balkons im Dachboden von der … aus zu sehen ist, die Schleppgaube wäre dann sogar noch deutlicher zu erkennen. Die Befreiung ist zudem städtebaulich nicht vertretbar, § 31 Abs. 2 BauGB. Weiter führt die Durchführung des Bebauungsplanes nicht zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte, § 31 Abs. 2 Nr. 3 BauGB, auch wenn die Klägerin ausführt, dass eventuell eine der Töchter mit Familie in das Haus ziehen werde und die Klägerin dann die Option habe, das Erdgeschoss des Hauses selbst zu bewohnen. Auch wenn der Klägerin die Baugenehmigung zu dem streitgegenständlichen Vorhaben verwehrt ist, bleiben ihr andere, bauplanungsrechtlich zulässige Möglichkeiten der Wohnnutzung auch des Dachgeschosses. Gründe des Wohls der Allgemeinheit liegen ganz offensichtlich nicht vor.
48
Da die Klägerin mit ihrem Hauptantrag unterliegt, ist über den Hilfsantrag zu entscheiden. Auch der Hilfsantrag, wonach die Beklagte verpflichtet werden soll, über den Bauantrag der Klägerin vom 26. November 2019 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, hat keinen Erfolg. Da es bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB fehlt, kommt es auf eine Ermessensausübung der Beklagten nicht mehr an.
49
Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.