VG München, Urteil v. 12.02.2020 – M 29 K 18.3388
Titel:

Gebühren für in einer Baugenehmigung erteilte Befreiungen

Normenketten:
BayKG Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, 6 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Eine Gebührenfestsetzung für erteilte Befreiungen ist materiell rechtswidrig, wenn der Bebauungsplan hinsichtlich der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze funktionslos geworden ist und die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB insoweit nicht notwendig war. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenrechnung, Baugenehmigungsgebühren, Funktionslosigkeit einer Baugrenze
Fundstelle:
BeckRS 2020, 40811

Tenor

I.    Die Kostenrechnung vom 5. Juni 2018, die Bestandteil der Baugenehmigung vom 5. Juni 2018 ist, wird insoweit aufgehoben, als Gebühren für Befreiungen in Höhe von 37.419,34 Euro erhoben wurden. 
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung der Gebühren für in einer Baugenehmigung erteilte Befreiungen.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks …, Fl.Nrn. 1070/994, … … Das Grundstück liegt im Geltungsbereich der „Baulinienfestsetzung an der E. straße zwischen … und …“ gemäß dem Bescheid der Regierung von Oberbayern vom . Oktober 1957. Durch den Baulinienplan wurde eine vordere Baugrenze entlang der … sowie eine seitliche und rückwärtige Baugrenze für die Grundstücke mit den heutigen Fl.Nrn. 1070/994, 1070/997, 1070/998, 1070/944, 1070/945 und 1064/142 festgesetzt.
3
Mit Bescheid vom *. Juni 2018 (Az.: 602-1.201-2018-1100-42) genehmigte die Beklagte den Bauantrag der Klägerin vom 29. Dezember 2016 mit dem Änderungsantrag in der Fassung vom 16. Januar 2018 (Tektur zu …*) zum Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses mit Tiefgarage an der … … - …, Fl.Nr. 1070/994, … …, nach Plan Nr. … Dabei wurden mehrere Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wegen Überschreitung der Baugrenzen erteilt.
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Für die Genehmigung wurden Gebühren und Auslagen gemäß Kostenrechnung vom *. Juni 2018, die Bestandteil des Bescheides ist, erhoben. Laut der Kostenrechnung werden für die Befreiungen folgende Kosten erhoben:
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- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
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Überschreitung Baugrenze durch das Gebäude
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Tiefe 2,14 m x Länge 19,20 m + Tiefe von 13,52 m x Länge 14,14 m =
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232,26 m² x 3 Geschosse = 696,78 m² x 57,60 € = 40.134,67 €
9
Deckelung = 22.508,- €
10
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
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Überschreitung Baugrenze durch die TGa und das TGa-Rampengebäude
12
Fläche TGa 19,50 x 17 + 1,74 x 8,5 + 14,14 x 13,5 = 537,18 m²
13
Fläche Rampe 0,5 x 4,70 x 4,70 + 4,70 x 4 = 29,85 m²
14
insgesamt 567,03 x 18 € = 10.206,54 €
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- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
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Überschreitung Baugrenze durch 12 Fahrradabstellplätze
17
12 x 75,- € = 900,- €
18
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
19
Überschreitung Baugrenze durch Lichtschächte
20
10 x 30,- € = 300,- €
21
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
22
Überschreitung Baugrenze durch Terrasse
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3,6 x 5 = 18m² x 3,60 € = 64,80 €
24
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
25
Überschreitung Baugrenze durch 2 Balkone
26
1,50 m x 2,5 x 2 = 7,50 m² x 160,- € = 1.200,- €
27
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
28
Überschreitung Baugrenze durch 5 offene Stellplätze
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5 x 400,- € = 2.000,- €
30
- Befreiung/Befreiungen gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz
31
Überschreitung Baugrenze durch Müllstandort
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8 Tonnen x 30,- € = 240,- €
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Zur Begründung der Kostenrechnung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass für die oben aufgeführten Amtshandlungen gemäß Art. 1, 2, 5, 6, (7) und 10 des Kostengesetzes (KG) i.V.m. dem Kostenverzeichnis zum Kostengesetz (KVz) der genannte Gesamtbetrag in Höhe von 49.300,69 Euro in Rechnung gestellt werde. Die Gebühren für die erteilten Befreiungen betrügen jeweils 10% des Werts des Nutzens, der durch die Befreiung in Aussicht stehe, jedoch jeweils mindestens 40,- Euro. Die Kappungsgrenze gemäß Tarif-Nr. 2.I.1/1.31 KVz sei beachtet worden.
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Mit Schreiben vom 11. Juli 2018 ließ die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragte,
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den Bescheid vom …06.2018, Az.: …, aufzuheben, soweit die Kostenrechnung zum Bestandteil des Bescheides gemacht wurde und in der Kostenrechnung Beträge für erteilte Befreiungen angesetzt wurden.
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Zur Begründung trug der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 5. September 2018 im Wesentlichen vor, dass hier Befreiungen von den Festsetzungen des übergeleiteten Baulinienplans erteilt worden seien, der nach Auffassung der Klägerin funktionslos sei. Der Flurkartenauszug zeige, dass die hintere Baugrenze hier sowohl mit Hauptgebäuden als auch mit Nebengebäuden jeweils erheblich überschritten werde. Beim Grundstück mit der Fl.Nr. 1070/945 (* … **) überschreite das Hauptgebäude die hintere Baugrenze auf einer Grundfläche von ca. 11 m². Des Weiteren existiere ein Nebengebäude, das sich vollständig hinterhalb der Baugrenze befinde und eine Grundfläche von ca. 42 m² aufweise. Beim Grundstück mit der Fl.Nr. 1070/944 (* … **) überschreite das Hauptgebäude die hintere Baugrenze auf einer Grundfläche von ca. 20 m². Des Weiteren bestehe eine Garage, die sich vollständig hinterhalb der hinteren Baugrenze befinde und eine Grundfläche von ca. 84 m² aufweise. Beim Grundstück mit der Fl.Nr. 1070/998 (* … **) überschreite das Hauptgebäude die hintere Baugrenze mit einer Grundfläche von ca. 20 m². Des Weiteren befinde sich eine Garage vollständig hinterhalb der hinteren Baugrenze, die eine Grundfläche von ca. 99 m² aufweise. Das Grundstück mit der Fl.Nr. 1070/997 (* … **) weise ein Hauptgebäude auf, dass die hintere Baugrenze auf einer Grundfläche von ca. 32 m² überschreite. Des Weiteren befinde sich eine Garage vollständig hinterhalb der hinteren Baugrenze, die eine Grundfläche von ca. 42 m² aufweise. Beim Grundstück mit der Fl.Nr.: 1070/995 (* … 79) überschreite die Garage die hintere Baugrenze auf einer Fläche von ca. 29 m². Beim Grundstück mit der Fl.Nr.:1070/994 (* … **) überschreite das Hauptgebäude die hintere Baugrenze auf einer Grundfläche von ca. 138 m². Des Weiteren bestünden Nebengebäude bzw. Garagen, die die hintere Baugrenze auf einer Grundfläche von ca. 55 m² und einer Grundfläche von ca. 7 m² überschreiten würden. Zusammenfassend sei insoweit festzuhalten, dass im Geltungsbereich des Baulinienplans auf allen Grundstücken die hintere Baugrenze jeweils ganz erheblich mit Nebengebäuden und Hauptgebäuden überschritten werde. Die isolierte Anfechtung der Kostenentscheidung, die einen selbstständigen Verwaltungsakt darstelle, sei zulässig und die nach Maßgabe des Kostengesetzes in Verbindung mit dem Kostenverzeichnis erhobenen Befreiungsgebühren seien unzulässig, da der den Befreiungen zugrunde liegende Baulinienplan funktionslos sei. Die Annahme der Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen sei anzunehmen, wenn sich die bauliche Entwicklung in einem Gebiet in erheblichem Umfang im Widerspruch zu der planerischen Festsetzung vollzogen habe. Zu fordern sei insoweit, dass die tatsächlichen Verhältnisse offenkundig vom Planinhalt abweichen würden. Für die Beurteilung der Funktionslosigkeit der hinteren Baugrenze des Baulinienplans sei zunächst zu berücksichtigen, dass der übergeleitete Baulinienplan nur ein „Baufenster“ westlich der … zwischen …- und Geschwister- …-Straße festsetze. Dem aktuellen Lageplan könne man weiter entnehmen, dass bis auf das unbebaute Grundstück mit der Fl.Nr. 1064/142 sämtliche im Geltungsbereich der Baufensterfestsetzung befindlichen Grundstücke erhebliche Überschreitungen der festgesetzten hinteren Baugrenze durch Hauptund Nebengebäude aufwiesen. Die Grundstücke im Geltungsbereich des Baulinienplans seien zum Zeitpunkt des Erlasses des Regierungsbescheides vom *. Oktober 1957 noch unbebaut gewesen. Ausweislich des Baulinienplans sei hier vorgesehen gewesen, dass die hintere Baugrenze an keiner Stelle durch Gebäude oder sonstige bauliche Anlagen überschritten werde. Dies ergebe sich aus § 1 Satz 1 BayBO 1901, wonach die Baulinien von allen Gebäuden und sonstigen baulichen Anlagen im Sinne von § 8 BayBO 1901 einzuhalten seien. Das mit der Festsetzung verfolgte Ziel könne im Hinblick auf die Überschreitung der hinteren Baugrenze auf allen bebauten Grundstücken im Geltungsbereich des Baulinienplans offensichtlich nicht mehr erfüllt werden.
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Die Beklagte beantragte dagegen,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Baulinienfestsetzung entgegen der Ausführungen der Klägerin nicht funktionslos sei. Die hohen Voraussetzungen, die für das Funktionsloswerden von bauplanerischen Festsetzungen zu stellen seien, seien vorliegend hinsichtlich der rückwärtigen Baugrenze nicht erfüllt. Den Festsetzungen liege erkennbar die Planungskonzeption zu Grunde, die Bebauung auf den mit der vorderen, seitlichen und rückwärtigen Baugrenze gebildeten Bauraum zu konzentrieren und den rückwärtigen Bereich von Bebauung weitgehend frei zu halten. Dieses planerische Konzept sei durch die vorhandene Bebauung nicht grundlegend durchbrochen. Die Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze durch die Hauptnutzungen seien lediglich geringeren Ausmaßes. Die Hauptgebäude stünden zudem parallel zur rückwärtigen Baugrenze und verfügten über größere unbebaute Flächen im rückwärtigen Bereich. Darüber hinaus stünden lediglich untergeordnete Nebenanlagen außerhalb des Bauraums. Auf diese könne es bei der Beurteilung des Baulinienplans folglich nicht maßgeblich ankommen. Das streitgegenständliche Grundstück stelle eine Sondersituation dar. Hierauf sei auch im Bescheid vom 5. Juni 2018 bei der Erteilung der Befreiungen für die Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze abgestellt worden. Es handle sich um ein Eckgrundstück, das im Vergleich zu den anderen Grundstücken über eine deutlich größere Grundfläche verfüge. Auch mit Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze verbleibe noch ein erheblicher unbebauter Bereich, so dass sich auch auf diesem Grundstück die Konzeption des Baulinienplans noch auswirke. Auf dem unbebauten Grundstück könnten die Baugrenzen zudem noch in vollem Umfang zur Anwendung kommen. Die dem Baulinienplan zugrunde liegenden Intention, einen Bauraum zu schaffen und den rückwärtigen Bereich frei von Bebauung zu halten, sei daher weiterhin erfüllt und lasse sich auch künftig noch realisieren.
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Mit Schreiben vom 10. Februar 2020 vertiefte der Klägerbevollmächtigte sein Vorbringen und führte höchst vorsorglich weiter aus, dass für die hier erfolgte Gebührenerhebung keine Rechtsgrundlage existiere. Nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 KG seien die Gebühren nach dem Verwaltungsaufwand und der Bedeutung der Angelegenheit für die Beteiligten festzulegen. Der mit der Befreiung einhergehende Wertgewinn dürfe die Gebührenhöhe dagegen nicht maßgeblich mitbestimmen. Dies ergebe sich schon aus dem Charakter der Gebühr. Auch den Verwaltungsgebühren liege der Gegenleistungscharakter zu Grunde, es solle eine Deckung entstandener Mehrkosten erreicht werden. Die hier vorgesehenen Gebühren stünden in keinem angemessenen Verhältnis zu diesen Grundsätzen. Vorliegend werde mit den Gebühren vielmehr eine Wertabschöpfung für die Einräumung von Baurecht vorgenommen. Die Kostengesetze würden jedoch keine Wertabschöpfung erlauben.
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Das Gericht hat am … Februar 2020 Beweis erhoben durch Einnahme eines Augenscheins auf dem streitgegenständlichen Grundstück und der näheren Umgebung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- bzw. die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
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Die Anfechtungsklage ist im beantragten Umfang begründet, da die Gebührenfestsetzung insoweit rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Unabhängig von der Frage, ob die im Rahmen der Kostenrechnung festgesetzten Gebühren für Befreiungen schon deshalb rechtswidrig sind, da vorliegend - jedenfalls teilweise - keine Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen, sondern die Beklagte für die Bemessung der Gebühren nach dem Rechtsgedanken aus der BauNVO hier die eigenen Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 5 BauNVO hätte heranziehen müssen, ist die Gebührenfestsetzung für die erteilten Befreiungen jedenfalls materiell rechtswidrig, da der einfache Bebauungsplan vorliegend hinsichtlich der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze funktionslos geworden ist und die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB insoweit nicht notwendig war.
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1. Rechtgrundlagen für die Kostenrechnung vom 5. Juni 2018 sind Art. 1, 2, 5, 6 und 10 des Kostengesetzes (KG) i.V.m. der Verordnung über den Erlass des Kostenverzeichnisses zum Kostengesetz (Kostenverzeichnis - KVz).
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Die Behörden des Staates erheben für Tätigkeiten, die sie in Ausübung hoheitlicher Gewalt vornehmen (Amtshandlungen), Kosten (Gebühren und Auslagen) nach den Vorschriften dieses Abschnitts (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 KG). Das Staatsministerium der Finanzen und für Heimat erlässt im Benehmen mit den beteiligten Staatsministerien, der Staatskanzlei und den Mitgliedern der Staatsregierung, denen Sonderaufgaben nach Art. 50 der Verfassung übertragen worden sind, das Kostenverzeichnis als Rechtsverordnung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KG). Die Höhe der Gebühren bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 KG nach dem Kostenverzeichnis.
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Das Kostenverzeichnis sieht in der Anlage zum Kostenverzeichnis für die Baugenehmigungsgebühr als Tarifnummer zu Nr. 2.I.1 für die Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB die Tarifstelle 1.31 vor. Danach ist eine Gebühr in Höhe von „10 v.H. des Werts des Nutzens, der durch die Befreiung in Aussicht steht, mindestens 75,- €“ zu erheben.
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2. Vorliegend waren jedoch Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB von der rückwärtigen Baugrenze aufgrund deren Funktionslosigkeit nicht zu erteilen; das Vorhaben fügt sich vielmehr gemäß § 34 Abs. 1 BauGB auch nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
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Im maßgeblichen Bereich ist ein gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitetes und fortgeltendes Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB vorhanden, welches für den Bereich …, … und …- …-Straße einen Bauraum bestehend aus Baugrenzen vorsieht. Regelungen eines auf der Grundlage der Münchner Bauordnung vom 29. Juli 1895 (BayBS II S. 430) erlassenen Baulinienplans gelten als Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans weiter, soweit es sich um verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art handelt (BayVGH, U.v. 14.12.2016 - 2 B 16.1574 - juris Rn. 32; U.v. 26.10.2004 - 2 B 03.321 - juris Rn. 15; U.v. 11.9.2003 - 2 B 00.1400 - juris Rn. 13).
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a. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine bauplanerische Festsetzung funktionslos sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S. des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, B.v. 9.10.2003 - 4 B 85/03 - juris Rn. 8). Dass auf den unüberbaubaren Flächen verschiedentlich Nebenanlagen vorhanden sind, tut der Geltungskraft der planerischen Aussagen keinen Abbruch (BVerwG, B.v. 9.10.2003 - 4 B 85/03 - juris Rn. 11). Entscheidend für die Frage der Funktionslosigkeit eines Bebauungsplanes sind bei alledem nicht die Motive der planenden Gemeinde, sondern die tatsächlichen Verhältnisse, d.h. die konkreten baulichen Entwicklungen im Planbereich (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2008 - 15 ZB 07.154 - juris Rn. 13).
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b. Nach diesen Vorgaben ist die parallel zur … und nord-südlich verlaufende - rückwärtige - festgesetzte Baugrenze im Bereich der Baulinienfestsetzung an der … zwischen … und …-Straße funktionslos geworden. Die dortigen rückwärtigen Grundstücksbereiche sind nicht mehr in wesentlichen Bereichen von Bebauung freigehalten.
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Der Baulinienplan zeigt dabei, dass in diesem Bereich ein Baufenster und durch die rückwärtige Baugrenze freie rückwärtige Grundstücksbereiche geschaffen werden sollten. Mit der Verwirklichung der mit der Baugrenzenfestsetzung beabsichtigten Freiräume in den hinteren Grundstücksbereichen kann jedoch nach der derzeitigen Bebauungssituation ernsthaft nicht mehr gerechnet werden. Zwar ist zunächst festzustellen, dass die sich in dem streitgegenständlichen Baulinienplan befindlichen Hauptgebäude allesamt in westlicher Richtung auch außerhalb des festgesetzten Bauraums liegen. Alle diese Gebäude sind aber unmittelbar an der östlich liegenden … situiert. Das Geviertsinnere bleibt von dieser Bebauung unberührt. Diese Grundstücke werden darüber hinaus durch die … erschlossen.
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Das streitgegenständliche Grundstück … … * … (Fl.Nr. 1070/994) ist jedoch nach dem Ergebnis des Augenscheins entlang der … nahezu vollständig mit einem eingeschossigen Gebäude, in dem sich eine Apotheke befindet, und einer Garage überbaut. Im südlich davon gelegenen Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/997) befindet sich im hinteren Grundstücksbereich eine gemauerte Doppelgarage. Im hinteren westlichen Teil des Grundstücks … … (Fl.Nr. 1070/998) befinden sich Garagen sowie ein offensichtlich wohngenutztes Gebäude - ersichtlich durch ein Fenster mit Gardine und einen Briefkasten. Das daran angebaute Gebäude, das sich auf dem Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/944) befindet, beherbergt wiederum fünf Garagen. Auf dem Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/945) befindet sich schließlich neben zwei Garagen ein weiteres rückwärtiges Gebäude, das tatsächlich doppelt so lang ist, wie im Lageplan dargestellt und damit weit in den westlichen hinteren Grundstücksbereich hineinragt. Diese Gebäude hat einen Kamin und ebenfalls ein Fenster mit Gardine. Westlich daran ist noch eine Holzhütte angebaut. Lediglich das südlichste Grundstück mit der Fl.Nr. 1064/142 ist noch gänzlich unbebaut.
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Die Schaffung von rückwärtigen Gartenbereichen bzw. Freiräumen ist bei der genannten gegenwärtigen Bebauungssituation aufgrund der Quantität und Massivität der teilweisen Hauptnutzungen und Garagen, die die vorgegebenen Maße nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. BayBO überschreiten und damit nicht mehr nach § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen zugelassen werden können, und auch angesichts der großflächigen gepflasterten und geteerten Bereiche vor den rückwärtigen Gebäuden nicht mehr zu erreichen. Die westlichen rückwärtigen Grundstücksbereiche sind damit nicht (mehr) im Wesentlichen von Bebauung freigehalten. Es handelt sich bei der genannten Bebauung nicht um bloße Ausreißer oder eine flächenmäßig geringfügige Bebauung mit relativ geringfügigen Überschreitungen durch untergeordnete Nebenanlagen. Die Überschreitungen sind in Anbetracht der Anzahl und des Umfangs der Abweichungen vielmehr geeignet, die Wirksamkeit des übergeleiteten Bauliniengefüges insoweit in Frage zu stellen. Die Verwirklichung der Festsetzung ist auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen und leistet zur städtebaulichen Ordnung keinen sinnvollen Beitrag mehr. Die Festsetzung rückwärtiger Baugrenzen hat ihre diesem Ziel dienende Funktion verloren.
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c. Das Vorhaben fügt sich daher gemäß § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
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Der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verwendete Parameter „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“ umfasst sowohl die konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage im Sinne einer absoluten Zahl als auch ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1987 - 4 B 60/87 - juris Rn. 2, B.v. 16.6.2009 - 4 B 50/08 - juris Rn. 4). In Bezug auf Letzteres ist zu prüfen, ob sich aus der als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Umgebungsbebauung Beschränkungen in Form von faktischen Baulinien/Baugrenzen entnehmen lassen, welche bei einer Realisierung des Bauvorhabens beachtet werden müssen. Selbst wenn man eine faktische westliche Baugrenze annehmen wollte, so überschreitet das geplante Vorhaben diese nicht, da es ausweislich der Planunterlagen lediglich so weit in den hinteren Grundstücksbereich hineinragt, wie die rückwärtig gelegenen Gebäude der übrigen Grundstücke an der …
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3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.