VG München, Urteil v. 23.09.2020 – M 9 K 18.1525
Titel:

Nachbarklage gegen Baugenehmigung für Nutzungsänderung eines Wohnhauses

Normenketten:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 28, Art. 59 S. 1, Art. 63 Abs. 1
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO § 22 Abs. 3
Leitsätze:
1. Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen grundsätzlich eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus, wenn sie im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ haben können. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Vorrang des Städtebaurechts nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch bezüglich der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist nicht nur dann anwendbar, wenn sich der tatsächlich vorhandenen Bebauung in näheren Umgebung ein städtebauliches Ordnungssystem entnehmen lässt, sondern auch bei regelloser Bebauung. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Nachbar kann eine Baugenehmigung, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilt wird, nur in dem Umfang angreifen, wie die als verletzt gerügte Norm zum Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde gehört. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Regellose Bebauung, Keine Prüfung der Vorschriften über den Brandschutz im vereinfachten Genehmigungsverfahren, Nachbarklage, Baugenehmigung, Drittschutz, Abstandsfläche
Fundstelle:
BeckRS 2020, 35823

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine für das Nachbargrundstück erteilte Baugenehmigung.
2
Die Baugenehmigung bezieht sich auf das Grundstück FlNr. … der Gemarkung .... (i.F. Vorhabengrundstück). Auf dem Vorhabengrundstück befindet sich ein ursprünglich landwirtschaftlich genutztes Bestandsgebäude, das im Westen aus einem Wohnteil und einem östlich direkt anschließenden ehemaligen Stall besteht. Die Klägerin ist Eigentümerin des nördlich und westlich davon liegenden Grundstücks FlNr. … der Gemarkung .... Das bestehende Gebäude ist nach Norden grenzständig und nach Westen mit einem Abstand von ca. 70 cm zur Grenze errichtet. Auf der Nord- und Westseite des Gebäudes befinden sich diverse Fenster. Diese wurden teilweise erneuert, vergrößert oder neu eingebaut.
3
Mit notariellen Vertrag vom 6. November 1929 (Bl. 71 ff d. im Verfahren M 9 K 18.1290 vorgelegten Behördenakte) erfolgte im Rahmen eines Grundstückstauschvertrags auch die Bewilligung einer Grunddienstbarkeit zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Vorhabengrundstücks (herrschendes Grundstück) auf dem Grundstück der Klägerin (dienendes Grundstück). Die im Grundbuch als Geh- und Fahrtrecht eingetragene Grunddienstbarkeit (vgl. Bl. 93 d. im Verfahren M 9 K 18.1290 vorgelegten Behördenakte) hat in der Bewilligungsurkunde folgenden Wortlaut:
4
Der jeweilige Eigentümer des herrschenden Grundstücks ist berechtigt, über die heute von den Eheleuten (…) erworbene Teilfläche von 0,053 ha jederzeit zu gehen und zu fahren, zur Verbringung der Kartoffeln und Rüben etc in seinen auf Pl. Nr. … befindlichen Keller, ferner zur Entleerung der dort befindlichen Jauchegrube, sowie zur Vornahmen von etwaigen baulichen Veränderungen.
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Auf Seite 2 des notariellen Vertrages wird bezüglich der Fläche auf das Messungsverzeichnis Nr. 77 aus dem Jahre 1929 der Steuergemeinde (…) (i. F. Mess. Verz. Nr. 77/29) Bezug genommen.
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Mit Bauantrag vom 8. Februar 2018 beantragte der Beigeladene eine Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung. Das bisherige Wohnhaus solle mit einem Teil des Stallgebäudes als eine einheitliche Wohnung genutzt werden. Auf einer Breite von 6,21 m soll der ehemalige Stall nutzungsgeändert werden. Dabei wurde ein Antrag auf Abweichung von den Abstandsflächen gem. Art. 6 Abs. 1 BayBO zur Nordseite gestellt.
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Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 28. Februar 2018 erteilte die Beklage die beantragte Baugenehmigung unter Erteilung einer Abweichung von der gem. Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsfläche nach Norden. Die Abweichung könne zugelassen werden, da sie unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Eine nennenswerte Einbuße, insbesondere bei einem Vergleich mit der Situation ohne Abweichung, könne nicht festgestellt werden. Aufgrund des bestehenden Geh- und Fahrtrechts entsprechend der notariellen Urkunde vom 6. November 1929 sei auf einem ca. 5 m tiefen Streifen eine Bebauung rechtlich ausgeschlossen. Des Weiteren sei der betroffene vordere Gebäudeteil seit Erbauung ein Wohnhaus, sodass sich keine Abweichung von der bisherigen Situation in diesem Bereich ergebe. Auch für den Teilbereich mit einer Breite von ca. 6,21 m der ehemaligen Stallung sei in Anbetracht des Geh- und Fahrtrechts keine Beeinträchtigung hinsichtlich der Schutzziele des Art. 6 BayBO (Belichtung und Belüftung) festzustellen.
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Mit Schriftsatz vom 28. März 2018 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 28. Februar 2018 erhoben. Die Klägerin beantragt,
Der Bescheid der Stadt (…) vom 28. Februar 2018, Az. 00494-2018-09, wird aufgehoben.
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Die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten durch Verletzung der drittschützenden Vorschriften der BayBO über die Abstandsflächen und des vorbeugenden Brandschutzes. Die Abweichung von Abstandsflächen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO sei rechtswidrig. Aufgrund der deutlichen Vergrößerung der in der nördlichen Außenwand vorhandenen Fenster, der Schaffung neuer Fenster und der Änderung der Nutzung des ehemaligen Stalls bzw. des ehem. Getreidelagers sei eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung des gesamten Gebäudes notwendig. Es lägen im Vergleich zum Bestand ungünstigere Auswirkungen auf die nachbarlichen Interessen vor. Die neuen Fenster hätten aufgrund der neuen Einsichtsmöglichkeiten Auswirkungen auf den sozialen Frieden als Schutzweck der Abstandsflächen. Der gesamte An- und Abfahrtsverkehr der Klägerin erfolge unmittelbar nördlich des streitgegenständlichen Gebäudes. Aufgrund von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sei die Einhaltung der Abstandsflächen nicht entbehrlich, da nördlich der .... Str. mit Ausnahme des Gebäudes des Beigeladenen die Hauptgebäude mit Abstand zur Grundstücksgrenze errichtet worden seien. Auch die Anwesen südlich der .... Str. um den ....-Platz seien allenfalls zu den Straßen und Plätzen grenzständig errichtet. Aus dieser Bebauung könne kein genereller Verzicht auf die Einhaltung der Abstandsflächen i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO entnommen werden. Die deswegen notwendige Abweichung sei rechtswidrig, da es bereits an der trotz Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch immer erforderlichen Atypik fehle. Des Weiteren hätten die Interessen der Klägerin, Aufenthaltsräume innerhalb der Abstandsflächen zu verhindern, aufgrund der dadurch entstehenden zusätzlichen Einblicksmöglichkeiten Priorität. In der Rechtsprechung sei geklärt, dass ein Geh- und Fahrtrecht aufgrund der Möglichkeit der einvernehmlichen Aufhebung im Rahmen der Abstandsflächen unbeachtlich sei. Eine Berücksichtigung zukünftiger baulicher Änderungen auf dem klägerischen Grundstück sei ebenfalls rechtswidrig unterlassen worden. Zuletzt habe die Beklagte im Rahmen der Abweichung auch den Brandschutz als öffentlichen Belang i.S.d. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO berücksichtigen müssen. Bei einer Prüfung des Art. 28 BayBO hätte sich dann herausgestellt, dass eine Brandwand ohne Öffnungen in Form von Fenstern erforderlich sei. Ein Abstand von 5 m zu nach baurechtlich Vorschriften zulässigen künftigen Gebäuden sei nicht gesichert. Aufgrund der Änderungen bei den Fenstern nach Norden sei ein durch frühere Baugenehmigungen vermittelter Bestandsschutz entfallen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen setzte aufgrund des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO keine Atypik mehr voraus. Der neu zu Wohnzwecken genutzte Teilbereich führe zu keinen signifikanten zusätzlichen Beeinträchtigungen des klägerischen Grundstücks. Im Rahmen der Abwägung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO könne das Geh- und Fahrtrecht berücksichtigt werden. Nur im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO sei ein Geh- und Fahrtrecht unbeachtlich. Neben dem Geh- und Fahrtrecht sei auch noch die erhebliche Freifläche auf dem klägerischen Grundstück zu berücksichtigen. Die nächstgelegenen Bauwerke seien ca. 25 m entfernt.
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Der Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin wolle den Beigeladenen mit diversen Gerichtsverfahren nur schikanieren und handele rechtsmissbräuchlich. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Einhaltung der Abstandsflächen. Der Beigeladene genieße Bestandsschutz. Eine Brandwand sei wegen Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO nicht erforderlich, da ein Abstand von 5 m zum nächsten Gebäude vorliege. Die Ausführungen der Klägerin seien im Übrigen nicht substantiiert.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einnahme eines Augenscheins. Zu den Feststellungen wird auf die Niederschrift vom 23. September 2020 Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakten in den Verfahren M 9 K 18.1290, M 9 K 18.1506, M 9 K 18.1525 und M 9 K 19.2984 sowie auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 23. September 2020 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, da sie unbegründet ist.
17
1. Die Klägerin wird durch die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 28. Februar 2018 nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung kann nur dann Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung Vorschriften verletzt, die dem Schutz des Dritten zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im vorliegenden Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die den Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (vgl. statt aller z. B. BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris).
19
Eine Verletzung drittschützender Vorschriften liegt nicht vor. Insbesondere liegt keine Verletzung der Vorschriften über die Abstandsflächen vor. Dem Beigeladenen wurde eine Baugenehmigung für die Nutzungsänderung in eine Wohnung erteilt, sodass die Prüfung zutreffend im vereinfachten Verfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO a.F. erfolgte. Ein Sonderbau nach Art. 2 Abs. 4 BayBO liegt nicht vor. Die Baugenehmigung wurde am 28. Februar 2018 erteilt. Damit ist Art. 59 Satz 1 BayBO in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2007 anzuwenden. Abstandsflächen waren dennoch nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO a.F. zu allen Seiten zu prüfen, da der Beigeladene einen Antrag auf Abweichung von den Abstandsflächen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO gestellt hat (vgl. BayVGH B v. 5.11.2015 - 15 B 15.1371 - BeckRS 2015, 56407, beck-online).
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Die beantragte und gewährte Abweichung von den Abstandsflächen nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann dabei die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen, da nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO keine Abstandsfläche vor der nördlichen Außenwand erforderlich ist. Und auch nach Westen sind nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO keine Abstandsflächen erforderlich.
21
Zugunsten der Klägerin kann zwar davon ausgegangen werden, dass die beantragte Nutzungsänderung eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung auslöst; aufgrund von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sind vorliegend jedoch keine Abstandsflächen erforderlich. Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen, selbst wenn sie für die Berechnung der Abstandfläche maßgebliche Bauteile nicht unmittelbar berühren, grundsätzlich eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus, wenn sie im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ (vgl. dazu BayVGH, U.v. 3.12.2014 - 1 B 14.819 - juris Rn. 17) haben können (vgl. BayVGH, B.v. 12.1.2007 - 1 ZB 05.2572 - juris Rn. 12; U.v. 26.4.2007 - 26 B 06.1460 - juris Rn. 22; U.v. 11.11.2014 - 15 B 12.2672 - juris Rn. 35). Entsprechendes gilt auch für Nutzungsänderungen (vgl. BayVGH U. v. 26.11.1979 - 51 XIV 78 - BayVBl 80, 405; U.v. 15.4.1981 - 15 B 80 A.1740 - BayVBl 1981, 537; Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 13 m.w.N.).
22
Weder nach Norden noch nach Westen sind aber vor den Außenwänden Abstandsflächen erforderlich.
23
Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Dieser Vorrang des Städtebaurechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch bezüglich der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich (Kraus in: Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 6 Rn. 34 m.w.N.). Dabei ist Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht nur dann anwendbar, wenn sich der tatsächlich vorhandenen Bebauung in näheren Umgebung ein städtebauliches Ordnungssystem entnehmen lässt, sondern auch bei regelloser Bebauung (BayVGH, B.v. 25.1.2008 - 15 ZB 06.3115 - juris Rn. 16; U.v. 23.3.2010 - 1 BV 07.2363 - juris Rn. 25). Eine regellose Bebauung liegt vor, wenn eine im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB durchzuführende Bestandsaufnahme des Vorhandenen ergibt, dass die den Maßstab bildende Bebauung Gebäude mit und ohne Grenzabstand umfasst, ohne dass eine Ordnung zu erkennen ist, die als abweichende Bauweise (vgl. § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO) eingestuft werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2010 - 1 BV 07.2363 - juris Rn. 25).
24
Maßgeblich als nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB ist der Bereich, auf den sich das Bauvorhaben städtebaulich prägend auswirken wird und von dem aus die vorhandene Bebauung das Baugrundstück prägt. Wie weit diese gegenseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369). Für das hier streitgegenständliche Bauvorhaben wird die nähere Umgebung nach dem Ergebnis des Augenscheins und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Grundstückssituation, wie sie sich in den Plänen darstellt, durch die Bebauung rund um den ....-Platz gebildet.
25
Nach dem Ergebnis des Augenscheins liegt dort eine regellose Bebauung vor. Die nähere Umgebung weist historisch gewachsen offene und geschlossene Bauweise auf, ohne dabei ein städtebauliches Ordnungssystem erkennen zu lassen.
26
Die Hauptgebäude auf den FlNr. … und FlNr. … sind grenzständig zum Nachbargrundstück bzw. zur seitlichen Grundstücksgrenze errichtet. Die Hauptgebäude auf der FlNr. … sind grenzständig zum Nachbargrundstück und zum ....-Platz errichtet. Das Hauptgebäude auf der FlNr. … ist grenzständig zum ....-Platz und zur ....-Str. errichtet. Die Hauptgebäude auf den FlNr. … und … sind grenzständig zueinander errichtet. Das Hauptgebäude auf dem Vorhabengrundstück ist grenzständig nach Norden und ca. 70 cm von der westlichen Grenze entfernt errichtet. Dabei steht ein geringfügiger Grenzabstand der Annahme einer faktischen geschlossenen Bauweise nicht entgegen (Blechschmidt in: EZBK, 138. EL Mai 2020, BauNVO § 22 Rn. 38; für einen Abstand von 0,30 m bis 1 m vgl. HessVGH, B.v. 23.12.1980 - IV TG 99/80 - BRS Bd. 36. Nr. 126). Gerade bei älteren Bauten sind Traufgassen oder schmale Durchgänge häufiger vorzufinden und stellen trotzdem eine geschlossene Bauweise i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO dar. Der vorliegende Grenzabstand des Bestandsgebäudes auf dem Vorhabengrundstück nach Westen von ca. 70 cm stellt deswegen noch eine Bebauung an der Grundstücksgrenze dar. Das Hauptgebäude der Klägerin ist nicht grenzständig errichtet. Das Hauptgebäude auf der FlNr. … ist nicht grenzständig errichtet. Die Einschätzung des Bevollmächtigten der Klägerin, dass eine grenzständige Bebauung nur zur Straße bzw. zum ....- Platz vorliege, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die historisch gewachsene Bebauung rund um den ....-Platz ist teilweise grenzständig und teilweise nicht grenzständig errichtet. Es handelt sich um eine regellose Bebauung, welche es nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO zulässt an die Grenze zu bauen.
27
Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist dabei nicht nur für die nördliche Außenwand anwendbar, sondern ebenfalls entsprechend für die westliche Außenwand. Bei einem Abstand zur Grenze von ca. 70 cm handelt es sich um einen sehr geringen seitlichen Abstand. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO kann in solchen Fällen ausnahmsweise entsprechend angewendet werden (vgl. zur ausnahmsweise möglichen entsprechend Anwendung BayVGH, B.v. 3.4 2014 - 1 ZB 13.2536 - juris Rn. 11; dort aber i.E. im konkreten Fall abgelehnt). Vorliegend ist eine solche Ausnahme gerechtfertigt. Der geringe Grenzabstand ergibt sich aus der historischen Entstehung des Grenzverlaufs zwischen dem Vorhabengrundstück und dem Nachbargrundstück. Es handelt sich um ein in die nordwestlich Ecke des Vorhabengrundstücks „gesetztes“ Gebäude. Die kürzere Westwand des Gebäudes erweckt deswegen zusätzlich den Eindruck einer grenzständigen Situierung. Eine Änderung dieser Situierung des Bestandsgebäudes findet nicht statt. Es wird lediglich einer anderen Nutzung zugeführt. Gerade wenn es sich aber nicht um eine Neuerrichtung handelt, muss ein derartiges Gebäude, das wegen seines sehr geringen seitlichen Abstandes bauplanungsrechtlich als geschlossene Bauweise deklariert werden kann und die Umgebung entsprechend prägt, auch für sich selbst die Regelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO in Anspruch nehmen können. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 bedarf insoweit einer einschränkenden Auslegung in Bezug auf das Merkmal der Errichtung an der Grenze (vgl. Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, 16. Ed. 1.6.2020, BayBO Art. 6 Rn. 42).
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b) Die bauordnungsrechtlichen Regelungen über den Brandschutz waren bei Bescheiderlass und sind auch nach derzeitiger Rechtslage nicht Teil des vereinfachten Prüfungsprogramms nach Art. 59 Satz 1 BayBO. Eine Verletzung der Rechte der Klägerin durch die streitgegenständliche Baugenehmigung wegen Verletzung der Vorschriften über die Brandwände nach Art. 28 BayBO ist deswegen ausgeschlossen. Ein Nachbar kann eine Baugenehmigung, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilt wird, nur in dem Umfang angreifen, wie die als verletzt gerügte Norm zum Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde gehört. Nachbarrechte können nur verletzt sein, wenn über sie in der Genehmigung entschieden worden ist (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 - 4 B 244/96 - NVwZ 1998, 58, juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 15.12.2016 - 9 ZB 15.376 - juris Rn. 9; U.v. 23.5.2001 - 2 B 97.2601 - juris Rn. 21).
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Nicht entscheidungserheblich ist, ob die Notwendigkeit von Brandwänden als Teil der Regelungen über den vorbeugenden Brandschutz im Rahmen einer Abweichung von den Abstandsflächen hätte geprüft werden müssen. Eine Abweichung von den Abstandsflächen war wegen Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht notwendig. Durch eine nicht notwendige Abweichung kann das Prüfprogramm erst recht nicht um Belange des vorbeugenden Brandschutzes erweitert werden. Zusätzlich ist fraglich, ob der vorbeugende Brandschutz als öffentlicher Belang i.S.d. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abwägungsrelevanz gehabt hätte. Nur wenn durch die Erteilung einer Abweichung der jeweilige Rechtsverstoß hervorgerufen oder zumindest wesentlich verschärft wird, kommt eine Abwägungsrelevanz in Betracht. In diesen Fällen besteht dann der notwendige Zusammenhang zu dem Zweck des Art. 63 Abs. 1 BayBO, die Befolgung einer gesetzlichen Regel auf ihre Entbehrlichkeit im Einzelfall zu prüfen. Nur so kann vermieden werden, dass das Prüfprogramm mit Voraussetzungen angereichert wird, die über diesen Zweck hinausgehen (vgl. BayVGH, U.v. 15.12.2008 - 22 B 07.143 - juris Rn. 43). Im Rahmen der bloßen Erweiterung einer Wohnung durch eine Nutzungsänderung des ehemaligen Stalles auf einer Breite von ca. 6,21 m ist keine wesentliche Verschärfung der Situation hinsichtlich des vorbeugenden Brandschutzes erkennbar. Im Übrigen hätte eine Prüfung der Notwendigkeit einer Brandwand nach Norden auch ergeben, dass keine Notwendigkeit besteht. Insoweit wird auf das Urteil vom selben Tag im Verfahren M 9 K 19.2984 Bezug genommen.
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2. Die Kostenentscheidung fußt auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat sich aufgrund der Antragstellung in ein Kostenrisiko begeben, sodass es der Billigkeit entspricht, der Klägerin dessen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.