VG München, Urteil v. 28.10.2020 – M 23 K 20.2826
Titel:

Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn – Anfechtungsklage

Normenkette:
StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, Abs. 9 S. 4 Nr. 7
Leitsatz:
Über die in seinem Beschluss vom 3.9.2020 - M 23 S 20.2827 - getroffenen Ausführungen, wonach die Ermächtigung des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StVO nicht solche Fälle erfasst, in denen die Straßenverkehrsbehörde nur eine Gefahr vermutet, und damit keinen Gefahrerforschungseingriff ermöglicht (vgl. VG München BeckRS 2020,, 22626 Rn. 23 mwN), ist vom Gericht nur zu ergänzen, dass auch nach der am 28.4.2020 in Kraft getretenen 54. StVO-Novelle v. 20.4.2020 gem. § 45 Abs. 1 S. 1 und 2 Nr. 6, Abs. 9 S. 1 und 4 Nr. 7 StVO tatbestandliche Voraussetzung für einen Verkehrsversuch weiterhin eine konkrete Gefahrenlage ist. (Rn. 12 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrsversuch, Bundesautobahn A94, Konkrete Gefahrenlage, Geschwindigkeitsbeschränkung, Gefahrerforschungseingriff, konkrete Gefahrenlage, 54. StVO-Novelle
Fundstelle:
BeckRS 2020, 34772

Tenor

I. Die verkehrsrechtlichen Anordnungen vom 30. Januar und 31. Juli 2020 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen die auf der sog. …autobahn (A 94) im Abschnitt zwischen P* … und W* … beidseitig auf einer Länge von jeweils etwa 35 Kilometern temporär bis zum 31. Dezember 2020 angeordnete Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h.
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Das Gericht nimmt Bezug auf die Gründe zu I. des Beschlusses vom 3. September 2020 (M 23 S 20.2827) und sieht von einer Darstellung des Sachverhalts über das Nachfolgende hinaus ab (§ 117 Abs. 3 Satz 1 VwGO analog). Mit diesem Beschluss hat das Verwaltungsgericht München auf Antrag des Klägers die Geschwindigkeitsbegrenzung vorläufig außer Vollzug gesetzt und die Beklagte verpflichtet, die örtlich angebrachten Beschilderungen unkenntlich zu machen. Der Beschluss ist rechtskräftig.
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Der Kläger erhob mit beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 29. Juni 2020 eingegangenem Schriftsatz vom … Juni 2020 Klage mit dem Antrag,
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die verkehrsrechtliche Anordnung vom 30. Januar 2020 aufzuheben.
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Er erklärte schriftsätzlich am … August 2020, die nachträglich ergangene verkehrsrechtliche Anordnung vom 31. Juli 2020 in das Klageverfahren einzubeziehen.
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Der Beklagte beantragte schriftsätzlich am 23. Juli 2020,
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die Klage abzuweisen
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und trat der Klage mit Schriftsatz vom 24. August 2020 entgegen. Der Beklagte sah nach Erlass des Beschlusses vom 3.September 2020 ausdrücklich von einer weiteren Äußerung ab.
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Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, der Kläger am 26. und der Beklagte am 27. August 2020.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die vorgelegte Behörden- und die Gerichtsakte (auch des Verfahrens M 23 S 20.2827) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Zustimmung der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.
12
Das Gericht nimmt Bezug auf die in seinem Beschluss vom 3. September 2020 (M 23 S 20.2827) getroffenen Ausführungen (Gründe II.) und sieht von einer über die nachfolgenden Ausführungen hinausgehenden weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO analog). Etwaige Änderungen der Sach-und/oder Rechtslage sind nicht festzustellen.
13
Auch nach der am 28. April 2020 in Kraft getretenen StVO-Novelle (Vierundfünfzigste Verordnung zur Änderung der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften vom 20. April 2020 - BGBl. 2020 I, S. 814) ist gemäß § 45 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 6, Abs. 9 Sätze 1 und 4 Nr. 7 StVO tatbestandliche Voraussetzung für einen Verkehrsversuch weiterhin eine konkrete Gefahrenlage. Die Änderungsverordnung sieht in Art. 1 Nr. 14 lit. b unter anderem vor, dass „Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 zweiter Halbsatz“ als Nr. 7 in § 45 Abs. 9 Satz 4 StVO aufgenommen werden.
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Danach bleibt eine konkrete Gefahrenlage weiterhin grundlegende tatbestandliche Voraussetzung für entsprechende Erprobungsmaßnahmen. Dies ergibt sich bereits aus der systematischen Stellung des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO. Darin wird lediglich eine Ausnahme von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gemacht, womit insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt (sog. qualifizierte Gefahrenlage). Eine Ausnahme von der bereits in § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO vorausgesetzten und durch Abs. 9 Satz 1 StVO konkretisierten (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 28.9.2011 - 11 B 11.910 - juris Rn. 24) Gefahrenlage geht damit systematisch gerade nicht einher.
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Auch aus der Entstehungsgeschichte heraus ist unter Einbeziehung der Begründung der 54. Änderungsverordnung ersichtlich, dass lediglich eine Ausnahme von der durch § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO grundsätzlich vorausgesetzten qualifizierten Gefahrenlage gemacht werden sollte. So ist in der Begründung der Änderungsverordnung ausdrücklich vorgesehen, dass es für „Beschränkungen des fließenden Verkehrs im Rahmen der Erprobung verkehrsregelnder oder -sichernder Maßnahmen […] damit nicht mehr des Nachweises und einer aufwendigen Begründung einer besonderen örtlichen Gefahrenlage (nach der Rechtsprechung eine um ca. 2/3 gesteigerte Gefahrenlage) für eines der in § 45 genannten Rechtsgüter [bedarf]“ (BR Drs. 591/19, S. 86). Damit ist klargestellt, dass der gesetzgeberischen Intention folgend nur von dem Erfordernis der qualifizierten, nicht aber von der bereits in § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO geforderten „einfachen“ konkreten Gefahrenlage eine Ausnahme gemacht werden soll. Dass die Änderungsverordung § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO unberührt lässt, ergibt sich unter ergänzender Betrachtung der Entstehungsgeschichte des § 45 Abs. 9 Satz 4 StVO auch daraus, dass mit Neufassung des 45 Abs. 9 StVO durch Art. 1 Nr. 4 lit. a der Ersten Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 30. November 2016 (BGBl. 2016 I, S. 2848) ebenfalls nicht von der konkreten Gefahrenlage abgesehen wurde. So sollte auch bei den in § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO benannten sensiblen Einrichtungen kein Automatismus für die Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung gelten. Vielmehr sollte lediglich die hohe Hürde für die streckenbezogene Anordnung von Tempo 30 km/h abgesenkt werden, ohne dass es eines Nachweises eines erheblich übersteigenden Gefahrbereichs bedarf. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO bleibt ausdrücklich unberührt (BR Brs. 332/16, S. 13f.). Der systematischen Stellung der neu eingeführten Nr. 7 in § 45 Abs. 9 Satz 4 StVO folgend, gilt nichts Abweichendes für die Anordnung von Erprobungsmaßnahmen.
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Von einer Verpflichtung des Beklagten zur Entfernung der örtlich angebrachten Beschilderungen sieht das Gericht ab. Hierzu besteht keine Veranlassung, nachdem sich die Verpflichtung bereits aus dem Beschluss vom 3. September 2020 ergibt, der der Beklagte ohne weiteres nachgekommen ist.
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Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO und mit dem Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO stattzugeben und die verkehrsrechtlichen Anordnungen vom 30. Januar und 31. Juli 2020 aufzuheben.