Inhalt

VGH München, Urteil v. 21.09.2020 – 21 B 19.32725
Titel:

Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für jungen syrischen Staatsangehörigen

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 3b, § 28 Abs. 1a
Leitsätze:
1. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ein syrischer Staatsangehöriger allein wegen seiner (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositioneller betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (Rn. 23). (redaktioneller Leitsatz)
2. Es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass Rückkehrer nach Syrien im militärdienstpflichtigen Alter allein deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine (unterstellte) regimefeindliche Gesinnung Verfolgungshandlungen syrischer Sicherheitskräfte befürchten müssen, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (Rn. 58). (redaktioneller Leitsatz)
3. Für einen Rückkehrer nach Syrien besteht allein wegen seiner Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet ohne Vorliegen zusätzlicher Umstände in der Regel keine Rückkehrgefährdung (Rn. 68 – 72). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Syrien), Keine politische Verfolgung allein wegen der (illegalen) Ausreise, des Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland, Keine politische Verfolgung im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst, Angehörigen eines Militärdienstflüchtlings droht nicht beachtlich wahrscheinlich eine Reflexverfolgung, Keine Rückkehrgefährdung allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet (hier: Aleppo), Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, politische Verfolgung, Syrien, illegale Ausreise und Asylantrag, Entziehung vom Militärdienst, Angehörige eines Militärdienstflüchtlings, Sippenhaft, Herkunft aus regierungsfeindlichem Gebiet, Aleppo
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 05.12.2016 – W 2 K 16.31503
Fundstelle:
BeckRS 2020, 27277

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. Dezember 2016 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
1. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten über den ihm zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.
2
Der Kläger ist ein am … … 2000 in Aleppo geborener Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens (Sunnit). Er reiste seinen Angaben zufolge am 14. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. April 2016 einen Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 6. Juni 2016 äußerte er sich im Wesentlichen wie folgt:
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Bis er zusammen mit seiner Schwester vor ungefähr einem Jahr ausgereist sei, habe er bei seinen Eltern in … (Gouvernement Aleppo) gewohnt. Militärdienst habe er nicht geleistet. Sein Bruder habe ihm geraten, nach Deutschland zu kommen, weil er hier mehr Möglichkeiten habe, etwas zu lernen und sein Leben zu gestalten. Er habe Rheuma in den Knien sowie Rückenschmerzen und könne sich jetzt in Deutschland behandeln lassen. Für den Fall einer Rückkehr nach Syrien fürchte er sich vor dem Krieg.
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Das Bundesamt erkannte den Kläger mit Bescheid vom 24. August 2016 als subsidiär Schutzberechtigten an und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.
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2. Der Kläger ließ Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und verwies bezüglich seiner Fluchtgründe auf das Anhörungsvorbringen.
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Das Verwaltungsgericht hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Beklagte mit Urteil vom 5. Dezember 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Das Gericht gehe davon aus, dass der syrische Staat das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Ausdruck einer regimekritischen Gesinnung erachte und zum Anknüpfungspunkt für Festnahme und Folter nehme. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger bei einer Rückkehr mit einer sofortigen Einberufung rechnen müsse. Gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG stelle die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung dar, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fielen. Daraus sei zu folgern, dass auch die konkrete Gefahr der Rekrutierung in eine Armee, aus deren Reihen heraus mit Wissen und Billigung der militärischen Führung Kriegsverbrechen begangen würden, als Verfolgungshandlung im Sinn des § 3a Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG anzusehen sei.
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3. Die Beklagte bezieht sich zur Begründung der mit Beschluss vom 23. Juli 2019 zugelassenen Berufung insbesondere auf den in Streit stehenden Bescheid und führt zudem aus, dass es an der nach § 3 Abs. 3 AsylG notwendigen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG fehle. Zu berücksichtigende individuell risikoerhöhende Umstände in der Person des Klägers seien nicht erkennbar.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat sich nicht geäußert.
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Die Beteiligten haben ihr Einverständnis dazu erklärt, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
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4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Das Verwaltungsgericht Würzburg hat der Klage mit Urteil vom 5. Dezember 2016 zu Unrecht stattgegeben. Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer - soweit hier von Interesse - Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Arabischen Republik Syrien nicht vor (1.), noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger sein Herkunftsland verlassen hat (2.)
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1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinn des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, hat der Kläger nicht vorgetragen.
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2. Der Kläger kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nichts daraus für sich ableiten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem er sein Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht nicht.
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Davon wäre nur dann auszugehen, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).
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Nach diesem Maßstab und nach der Erkenntnislage im maßgeblichen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) Zeitpunkt hat der Senat unter Berücksichtigung des Charakters des syrischen Staates (2.1) die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle allein wegen einer (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland eine politische Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (2.2). Der Kläger, der sich im militärdienstpflichtigen Alter befindet (20 Jahre), muss des Weiteren nicht befürchten, von den syrischen Sicherheitskräften im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst verfolgt zu werden (2.3). Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt auch nicht aus der Regelung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (2.4). Dem Kläger droht unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft selbst dann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung, wenn sich sein Bruder dem Militärdienst entzogen haben sollte (2.5). Schließlich muss der Kläger Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte auch nicht wegen seiner Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet (Aleppo) befürchten (2.6).
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2.1 Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich unter erheblichen Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht - Essay“ vom 19. Februar 2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet im Ganzen betrachtet zielgerichtet und ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder schon unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 8 - im Folgenden: UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017 - unter Verweis auf: United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2015, 13.4.2016; Amnesty International, Human Slaughterhouse: Mass Hangings and Extermination at Saydnaya Prison, Syria, 7.2.2017; UN Human Rights Council, Out of Sight, out of Mind: Deaths in Detention in the Syrian Arab Republic, 3.2.2016). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Mittlerweile sollen etwa 17.000 Menschen in syrischen Gefängnissen durch Folter oder aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen gestorben sein. Das syrische Regime macht in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten, sondern benennt zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und ähnliches (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 15).
23
2.2 Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle mit äußerster Härte vorgehen, ist es zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger allein wegen seiner (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositioneller betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (ebenso mit zum Teil abweichender Begründung: VGH BW, U.v. 27.3.2019 - A 4 S 335.19; U.v. 23.10.2018 - A 3 S 791.18; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 24.1.2018 - 2 LB 237.17; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 - 1 Bf 81/17.A; NdsOVG, U.v. 3.4.2019 - 2 LB 341.19; OVG NW, U.v. 12.12.2018 - 14 A 667/18.A; OVG RhPf, U.v. 12.4.2018 - 1 A 10988.16; OVG Saarl, U.v. 14.11.2018 - 1 A 609.17; OVG SH, U.v. 7.3.2019 - 2 LB 29.18; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 - 3 KO 155.18 - alle juris).
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Insoweit wird zur Darlegung der maßgebenden Erwägungen auf die bisherige Rechtsprechung des Senats Bezug genommen (vgl. etwa U.v. 12.4.2019 - 21 B 18.32459 - juris Rn. 27 ff.). Der Bericht des Auswärtigen Amts vom 20. November 2019 über die Lage in der Arabischen Republik Syrien und dessen Fortschreibung vom 19. Mai 2020 geben keinen Anlass von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Darin ist unter anderem ausgeführt, immer wieder seien Rückkehrer, insbesondere - aber nicht nur - solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt seien oder auch nur als solche erachtet würden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen bis hin zu unmittelbarer Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 21); selbst bislang als regimenah geltende Personen könnten aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (Auswärtiges Amt, Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 19.5.2020, S. 4). Diese Ausführungen sind zu allgemein gehalten, um daraus die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung jedweden Rückkehrers ableiten zu können (so bereits OVG NW, U.v. 18.3.2020 - 14 A 2778/17.A - juris Rn. 37).
25
Unabhängig davon ergibt sich aus hinzugekommenen Erkenntnissen ein Bild, das die bisherige Rechtsprechung des Senats bestätigt. So ist nach den Feststellungen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (EZKS) davon auszugehen, dass an den internationalen Flughäfen Syriens über bestimmte, als regimekritisch wahrgenommene Personen computergestützt Informationen vorliegen. Deshalb drohen einem Rückkehrer, der nicht explizit als politischer Oppositioneller aufgefallen ist, keine Repressionen (vgl. EZKS, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11.3.2019). Das entspricht den Erkenntnissen der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde. Danach wird eine Person, die auf einer Fahndungsliste steht, bei der Einreise am Flughafen verhaftet, während Syrer, die nicht in einer Fahndungsliste angeführt sind, im Allgemeinen unbehelligt bleiben (Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests SYR106356.E, 9.9.2019, S. 3). Nach den dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vorliegenden Informationen kann die Aufnahme in die Listen der Personen, die als regimefeindlich angesehen werden, aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zu den als regimefeindlich erachteten Personen gehören nach einigen dem österreichischen Bundesamt zur Verfügung stehenden Quellen unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten, Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffe der Regierung verbreitet haben, sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 89). Angesichts dieser konkreten Aufzählung von Personen, die seitens der syrischen Regierung als oppositionell oder regimefeindlich erachtet werden, ist eine vollkommen willkürliche Aufnahme in die Liste der regimefeindlichen Personen zur Überzeugung des Senats nicht der Regelfall. Die Tatsache, dass der syrische Staat nicht unterschiedslos jeden Rückkehrer als regierungsfeindlich betrachtet, zeigt sich zudem daran, dass selbst die illegale Ausreise im Falle einer Rückkehr nicht beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungsgefahr begründet. Vielmehr haben nur solche Personen Probleme bei der Rückkehr, die anderweitig in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind (vgl. Accord - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Syrien: Information zur Anwendung des Gesetzes Nr. 18 von 2014 bezüglich der illegalen Ausreise, 9.8.2019; The Danish Immigration Service, Syria - Consequences of illegal exit, consequences of leaving a civil servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, Juni 2019, S. 7).
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2.3 Der Kläger, der sich im militärdienstpflichtigen Alter befindet (20 Jahre), ist im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien auch nicht im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer politischen Verfolgung bedroht.
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2.3.1 Bezüglich des Militärdienstes ergibt sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln im Wesentlichen Folgendes:
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a) Nach dem Gesetz besteht in Syrien für Männer eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren (vgl. u.a. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, 11.6.2019, S. 10). Männer, die das wehrpflichtige Alter von 18 Jahren erreicht haben, müssen sich (zur Musterung) beim zuständigen Rekrutierungsbüro melden, wo sie ihr Militärbuch erhalten, in das neben anderem das Ergebnis der medizinischen Tauglichkeitsprüfung und eine etwaige Befreiung vom Militärdienst eingetragen wird. Wer sich nicht bei der Rekrutierungsbehörde meldet, wird nach einer gewissen Zeit auf die Liste der Militärdienstentzieher gesetzt (vgl. u.a. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei Rekrutierung, 18.1.2018; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23 f.; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E, 13.8.2014, S. 5). Es gibt Berichte, denen zufolge militärdienstpflichtige Männer, die auf einen Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 11).
29
Nach Beendigung des obligatorischen Militärdienstes bleibt ein syrischer Mann gemäß Artikel 15 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 38; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 26).
30
Die für die Militärdienstpflicht maßgebenden Altersgrenzen werden zur Überzeugung des Senats seitens der syrischen staatlichen Stellen jedenfalls im Allgemeinen beachtet. Dabei ist berücksichtigt, dass für die syrische Regierung die Rekrutierung von Militärdienstpflichtigen unter militärischen Gesichtspunkten eine hohe Bedeutung hat, um die bisherigen Verluste aufzufüllen und die Freiwilligen sowie Militärdienstpflichtigen zu entlasten, die für lange Zeit Kriegsdienst leisten mussten (vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Country of Origin Information Syria - The security situation, July 2019, S. 65).
31
Im „Fact Finding Mission Report 2017“ des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist insoweit mit Verweis auf die Befragung einer europäischen diplomatischen Quelle (Beirut, 18.5.2017) ausgeführt, die Altersgrenze sei „auf beiden Seiten“ (18 Jahre/42 Jahre) nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinn wehrfähigen Alter könne rekrutiert werden (vgl. S. 18 des Reports). Darüber hinaus gibt es allgemein gehaltene Hinweise auf Berichte von Zwangsrekrutierungen Minderjähriger in die syrische Armee sowie darauf, in den ersten Jahren des Krieges seien die meisten Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden seien, im Alter zwischen 15 und 17 Jahren gewesen und seit dem Jahr 2014 zögen alle Gruppen immer jüngere Kinder ein (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017, unter Verweis auf Berichte von Aktivisten und auf United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2016, 3.3.2017). Gegen eine solche allgemeine Missachtung der gesetzlichen Altersgrenzen sprechen aber zahlreiche Berichte, denen zu entnehmen ist, dass im Allgemeinen für die Rekrutierung nach wie vor das nach dem Gesetz bestimmte Alter von 18 Jahren bzw. 42 Jahren maßgebend ist.
32
So soll einzelnen Berichten zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst (42 Jahre) erhöht werden, wenn die betreffende Person bestimmte Qualifikationen habe, was etwa für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung gelte. Umgekehrt kann daraus jedoch abgeleitet werden, dass jenseits dieses Qualifikationsprofils kein Anhalt für eine Missachtung der für den Reservedienst geltenden Altersgrenze besteht. Nach anderen Berichten sollen Jungen im Teenageralter, die das Aussehen von 18-Jährigen hatten, an fest installierten Kontrollstellen festgenommen worden sein. UNHCR verweist auch auf die Schilderung der Mutter eines 14-jährigen Sohnes, der an jeder Kontrollstelle seines Weges zum Thema Einberufung befragt worden sei (vgl. UNHCR, Herkunftslandinformationen 2017, S. 24 Fn. 118 und S. 25, dort auch Fn. 120). Auch diese Quellen lassen erkennen, dass sich die Rekrutierung an dem vorgegeben Wehrdienstalter ausrichtet. Das wird zudem durch die aktuellen Feststellungen des Dänischen Einwanderungsdienstes bestätigt. Danach bekundeten alle von der Behörde befragten Quellen, die Kenntnis zum Alter der Einberufung hatten, sie hätten keine Informationen erhalten, die darauf hindeuteten, dass die Syrisch-Arabische Armee (SAA) Männer rekrutiert habe, die jünger als 18 Jahre alt gewesen seien. Die meisten der Quellen hatten darüber hinaus keine Informationen erhalten, dass die SAA Männer eingezogen hat, die älter als 42 Jahre waren (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 18).
33
Für eine zumindest grundsätzliche Beachtung des für den Militärdienst maßgebenden Alters durch die syrischen Sicherheitskräfte spricht im Übrigen auch, dass eine für Männer erforderliche Ausreisegenehmigung der Rekrutierungsbehörde an das Militärdienstalter anknüpft (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 26; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Hamburg vom 2.2.2018).
34
b) Nach der Gesetzeslage ist in Syrien der einzige Sohn einer Familie von der Militärdienstpflicht ausgenommen. Präsident Assad erließ im August des Jahres 2014 die Gesetzesverordnung Nummer 33, welche einige Artikel der Verordnung Nummer 30 aus dem Jahr 2007 zum obligatorischen Militärdienst änderte. Die Regelung, dass der einzige Sohn einer Familie vom Militärdienst freigestellt werden kann, blieb dabei erhalten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.3.2015, S. 5 f.). Die Freistellung wird im Militärbuch vermerkt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“, S. 1; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E, 13.8.2014, S. 2 f.).
35
Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes sind Einzelkinder bzw. einzige Söhne auch tatsächlich vom Wehrdienst ausgenommen (Auswärtiges Amt an das VG Düsseldorf vom 2.1.2017, 508-9-516.80/48808). Das entspricht den Erkenntnissen des Dänischen Einwanderungsdienstes, der (auch) dazu zahlreiche Gewährsleute befragt hat. Keine dieser Quellen hatte von Fällen einziger Söhne gehört oder solche erfasst, die eingezogen wurden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 20).
36
c) Nach dem zuletzt in den Jahren 2014 und 2017 geänderten Erlass Nr. 30/2007 des syrischen Präsidenten können syrische Männer einschließlich registrierter Palästinenser aus Syrien eine Gebühr bezahlen, um vom Pflichtmilitärdienst befreit und nicht erneut einberufen zu werden. Art. 1a des Erlasses regelt, dass Männer im militärdienstpflichtigen Alter (18 bis 42 Jahre), die nicht weniger als vier Jahre außerhalb Syriens gewohnt haben, eine Summe von 8.000 $ zahlen können, um von der Militärdienstpflicht freigestellt zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, 11.6.2019, S. 8 f.).
37
Der Senat geht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse davon aus, dass dieser Erlass in Syrien Anwendung findet. Delegierte des Dänischen Einwanderungsdienstes und des Dänischen Flüchtlingsrats haben zur Umsetzung dieses Erlasses verschiedene Quellen befragt. Ein in Damaskus ansässiger Rechtsanwalt, Mitarbeiter einer internationalen Organisation in Syrien, Bente Scheller von der Heinrich Böll Stiftung, Christopher Kozak vom Institute for the Study of War, Mitarbeiter von COAR Global sowie Rami Abdurrahman vom Syrian Observatory for Human Rights bekundeten, dass diese Ausnahmeregelung in der Praxis angewendet wird. Mehrere der Befragten hatten Kenntnis von Personen, die durch Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit wurden (u.a internationale Organisation in Syrien, Bente Scheller, Christopher Kozak, COAR Global und Rami Abdurrahman). Zwei der genannten Quellen erwähnten, dass keine der aufgrund der Zahlung befreiten Personen später einberufen wurde. Lediglich zwei Auskunftspersonen stellten die Wirksamkeit und Beständigkeit des Gesetzes zur Befreiung vom Militärdienst durch Zahlung einer Gebühr in Frage, wobei sie, ohne Bezugsfälle zu nennen, lediglich allgemein auf die Erfahrung mit früheren Erlassen, Gesetzen und Aussöhnungsvereinbarungen verwiesen (Sara Kayyali von Human Rights Watch und Mitarbeiter einer internationalen Sicherheitsorganisation).
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Die aktuellen Ermittlungen des Dänischen Einwanderungsdienstes (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 25) bestätigen die Einschätzung des Senats, dass die gesetzlich bestimmte Möglichkeit, durch Zahlung einer Gebühr von der Militärdienstpflicht befreit zu werden, tatsächlich vollzogen wird. Dem entspricht auch ein Bericht der unabhängigen Nachrichtenquelle „Enab Baladi“ vom September 2019, wonach die Zahl der jungen syrischen Männer, die mit dem Syrischen Konsulat in Istanbul einen Termin zur Zahlung der Befreiungsgebühr vereinbaren, in der letzten Zeit dramatisch zugenommen hat (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 27).
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d) Militärdienstpflichtigen ist es nicht oder nicht uneingeschränkt erlaubt, Syrien zu verlassen. So verbot das Verteidigungsministerium am 20. Oktober 2014 allen Männern die Ausreise, die zwischen dem Jahr 1985 und dem Jahr 1991 geboren sind. Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 42 Jahren müssen vor Ausreise aus Syrien eine Genehmigung der Generaldirektion für Rekrutierung oder einer ihr nachgeordneten Rekrutierungsbehörde einholen (Art. 48 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 i.d.F. des Gesetzes Nr. 3 vom Januar 2017). Eine Person, der eine Reisegenehmigung erteilt wird, muss eine Sicherheit von 50.000 syrische Pfund (derzeit etwa 87,00 Euro) hinterlegen und eine verantwortliche Person benennen, welche die Rückkehr des Ausreisewilligen garantiert. Ob eine Ausreisegenehmigung ausgegeben wird, hängt erheblich von den individuellen Umständen ab, wobei Männer, die ihren Militärdienst bereits geleistet haben, eine solche Genehmigung einfacher erhalten (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23. März 2017 S. 13 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Fact Finding Mission Report Syrien vom August 2017, S. 24).
40
Das Auswärtige Amt berichtet ohne Beleg davon, Männern im wehrpflichtigen Alter werde der Reisepass vorenthalten und Ausnahmen würden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros gewährt, welche bescheinige, dass der Wehrdienst geleistet worden sei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 11 f.).
41
e) In Syrien gibt es keine Möglichkeit, anstelle des Militärdienstes einen (zivilen) Ersatzdienst zu leisten. Ebenso wenig kann der Militärdienst legal verweigert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 11; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23). Jeder Militärdienstpflichtige, der in Friedenszeiten der Einberufung nicht innerhalb eines Monats gefolgt und geflüchtet ist, bevor er sich seiner Einheit angeschlossen hat, wird nach dem syrischen Militärstrafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis sechs Monaten bestraft (Art. 98 Abs. 1 Gesetzesdekret Nr. 61 vom 27.2.1950, im Jahr 1973 geänderte Fassung - Gesetzesdekret Nr. 61). Einem Militärdienstpflichtigen, der in Kriegszeiten der Einberufung nicht gefolgt ist, droht nach Art. 99 des Gesetzesdekrets Nr. 61 je nachdem, ob und wann er freiwillig zurückgekehrt ist oder verhaftet wurde, eine Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünf Jahren (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 2.1.2017, 508-9-516.80/48808; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017, S. 8 f.).
42
Es ist davon auszugehen, dass (allein) die Entziehung vom Militärdienst in der Regel nicht zu einem Wehrstrafprozess führt. Vielmehr werden Militärdienstentzieher nach weitgehend übereinstimmender Quellenlage im Allgemeinen unverzüglich eingezogen und nach einer unter Umständen nur kurzen Ausbildung militärisch verwendet (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 31; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 9 und zum Ganzen auch OVG Nds, U.v. 16.1.2020 - 2 LB 731/19 - Juris Rn. 42).
43
2.3.2 Der syrische Staat reagierte auf die militärische Bedrohung seiner Macht und die zu seinen Gunsten veränderte militärische Lage bezogen auf die Militärdienstpflicht syrischer Männer im Wesentlichen wie folgt:
44
Die syrische Armee hatte seit dem Beginn des Konflikts durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen erhebliche Verluste zu erleiden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 25.1.2018, S. 45). Seit Herbst 2014 ergriff der syrische Staat verschiedene Maßnahmen, um die dezimierte syrische Armee zu stärken. Es kam zu einer großflächigen Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Militärdienst entzogen hatten. Die syrische Armee und regierungstreue Milizen errichteten Kontrollstellen und intensivierten Razzien im öffentlichen sowie privaten Bereich. Bereits in den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights über 5.400 Verhaftungen von militärdienstpflichtigen jungen Männern. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen wurden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und wurden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.3.2015, S. 3 f.).
45
Mittlerweile ist es dem syrischen Staat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden Erkenntnislage mit der militärischen Unterstützung der Russischen Föderation und der Islamischen Republik Iran gelungen, die Kontrolle über große Teile des Landes zurückzuerlangen. Die Kampfhandlungen beschränken sich auf die Provinzen Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez Zours (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 13). Die syrische Regierung hat dementsprechend hinsichtlich des Militärdienstes verschiedene einer Normalisierung dienende Maßnahmen ergriffen.
46
So wurde am 9. Oktober 2018 das Präsidialdekret Nr. 18/2018 veröffentlicht. Danach sollen alle syrischen Männern, die desertiert sind oder sich dem Militärdienst entzogen haben, einer Amnestie unterfallen, wenn sie sich innerhalb einer Frist von vier Monaten (bei einem Wohnsitz in Syrien) oder von sechs Monaten (bei einem Wohnsitz außerhalb Syriens) zum Militärdienst melden. Der Erlass beseitigt allerdings nicht die Pflicht, den obligatorischen Militärdienst zu leisten. Kriminelle und Personen, die auf der Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben, sind von der Amnestie ausgenommen. Diese Amnestie ist mittlerweile ausgelaufen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 45).
47
Zur Umsetzung des Präsidialdekrets Nr. 18/2018 hat das Verteidigungsministerium am 28. Oktober 2018 ein Rundschreiben an das Innenministerium sowie an die Militärpolizei geleitet, wonach die Festnahme militärdienstflüchtiger Reservisten untersagt ist und für den aktiven Dienst vorgesehenen Reservisten nicht mehr eingezogen werden sollen (Ministerie van Buitenlandse Zaken, Country of Origin Information Report Syria - The security situation, July 2019, S. 67 f).
48
Im Dezember 2018 wurden die Reservisten aus der SAA entlassen, die mehr als fünf Jahre Dienst geleistet hatten. Zusätzlich musterte die syrische Regierung im Januar 2019 Reservisten aus und befreite Militärdienstentzieher von der Dienstpflicht, die vor dem Jahr 1977 geboren wurden. Gemäß der amtlichen Nachrichtenagentur der syrischen Regierung wurden zum 15. Februar 2019 alle Militärdienstentzieher und Reservisten aus der Dienstpflicht entlassen, die vor dem Jahr 1981 geboren wurden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Issues Regarding Military Service, Oktober 2019, S. 11 f.).
49
Am 15. September 2019 erging das Präsidialdekret Nr. 20/2019, das unter anderem die Amnestie für Desertion und Militärdienstentziehung vom 9. Oktober 2018 erneuerte, wobei aber wiederum bestimmte gegen den Staat gerichtete Straftaten ausgenommen blieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 12; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 35).
50
Nunmehr gewährt das Präsidialdekret Nr. 6/2020 vom 22. März 2020 Militärdienstentziehern und Deserteuren eine Amnestie, die sich innerhalb einer Frist von drei Monaten (Wohnsitz in Syrien) oder sechs Monaten (Auslandswohnsitz) den syrischen Behörden stellen (vgl. Auswärtiges Amt, Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 19.5.2020, S. 5; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12 Fn. 44). Die Pflicht den Militärdienst abzuleisten bleibt wie schon bei den vorangegangenen Amnestien bestehen, ebenso umfasst die Amnestie nicht bestimmte gegen den Staat gerichtetete Straftaten.
51
Es liegen nach wie vor keine konkreten Hinweise dafür vor, dass die syrischen staatlichen Stellen die genannten Amnestie-Erlasse regelhaft nicht beachtet haben oder nicht beachten werden.
52
Der Dänische Einwanderungsdienst hat zur Umsetzung der Amnestien im ersten Quartal des Jahres 2020 verschiedene Auskunftspersonen befragt. Elizabeth Tsurkov (Fellow am Foreign Policy Research Institute) bekundete, dass Männer, die sich auf die Amnestie beriefen, nicht bestraft, aber eingezogen würden. Alle syrischen Männer, die entweder durch Vermittlung der Hisbollah oder auf andere organisierte Weise aus dem Libanon zurückgekehrt seien, hätten die Amnestie beansprucht. Sie seien bei der Rückkehr nicht bestraft, jedoch zum Militärdienst eingezogen worden (Interview am 6.2.2020). Suhail Al-Ghazi (unabhängiger Forscher) informierte wie folgt: Einige Flüchtlinge hätten von den vom Präsidenten erlassenen Amnestien Gebrauch gemacht. Sie seien angewiesen worden, sich innerhalb von drei Monaten nach Erlass der Amnestie an ein örtliches Wehrpflicht-Direktorat zu wenden, damit sie ohne eine Strafe eingezogen werden konnten. Diese Männer hätten sechs Monate lang an militärischen Ausbildungskursen teilgenommen und seien später wie normale Wehrpflichtige auf andere Militärstützpunkte und -einrichtungen verlegt worden (Interview am 19.2.2020). Dem Mitarbeiter einer in Syrien tätigen humanitären Organisation zufolge hätten sich viele Militärdienstentzieher selbst gestellt, weil sie erkannt hätten, dass sie den Militärdienst nicht dadurch vermeiden können, indem sie sich vor den Behörden verstecken. Sie seien sogleich zum Militärdienst geschickt worden, ohne, wie in der Amnestie versprochen, bestraft zu werden (Interview am 21.2.2020). Navar Shaban (Militärexperte am Omran Center for Strategic Studies) bekundete allgemein, dass die syrische Regierung die Amnestien beachtet habe (Interview am 18.2.2020). Darin fügt sich ein, dass Gregory Waters (geschäftsführender Herausgeber bei International Review) keine Information dazu hatte, dass die syrische Regierung die neueste Amnestie vom September 2019 nicht beachtet (Interview am 30.1.2020). Sara Kayyali (Human Rights Watch) verwies zwar unter Berufung auf Gespräche mit zurückkehrenden Syrern darauf, dass keine der seit dem Jahr 2016 veröffentlichten Amnestien beachtet worden seien. Allerdings gab sie letztlich einschränkend an, ihr sei bekannt, dass bei der Rückkehr nach Syrien (nur) einige der Syrer, die von der Amnestie Gebrauch gemacht haben, verhaftet worden seien (Interview am 5.2.2020). Ohne Konkretes anzuführen, sprach die syrische Journalistin Asaad Hanna davon, dass sie von Deserteuren aus der Provinz Latakia gehört habe, welche die Amnestie genutzt hätten, aber dennoch für einige Monate inhaftiert gewesen seien (Interview am 18.2.2020 - vgl. zum Ganzen The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 46 ff.).
53
Für eine Mäßigung im Umgang mit Militärdienstentziehern spricht auch die Auskunft eines in Damaskus ansässigen Rechtsanwalts gegenüber dem Dänischen Einwanderungsdienst. Er wies darauf hin, dass seit dem Oktober 2018 etliche Syrer, die wegen des Militärdienstes in den Libanon geflohen seien, nach Syrien zurückgekehrt seien. Es sei auch für Militärdienstentzieher und Deserteure, die Syrien illegal verlassen haben, mindestens vier Jahre im Ausland geblieben sind und aufgrund des Erlasses Nr. 18/2018 einen Straferlass erhalten haben, möglich durch Zahlung der Freistellungsgebühr von 8.000 $ vom Militärdienst befreit zu werden. Ebenso bekundete Rami Abdurrahman, Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, ihm seien persönlich mehrere Syrer bekannt, die nach einer Begnadigung gemäß des Erlasses 18/2018 aufgrund der Freistellungsgebühr vom Militärdienst befreit worden seien (vgl. Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria - Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 30 f.).
54
Die Quellenlage zur Umsetzung vorangegangener Amnestien, die (auch) zugunsten von Militärdienstentziehern erlassen wurden, rechtfertigt angesichts der lediglich allgemeinen Feststellungen nicht die Schlussfolgerung, dass die seit Oktober 2018 ergangenen Amnestieerlasse für die syrischen staatlichen Stellen bedeutungslos sind.
55
So führt der UNHCR Folgendes aus: „Seit 2011 hat der syrische Präsident al-Assad für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstentzieher und Deserteure eine Serie von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. Am 17. Februar 2016 veröffentlichte der Präsident das Gesetzesdekret Nr. 8, mit dem Deserteure innerhalb und außerhalb von Syrien sowie Wehrdienstentzieher und Reservisten eine Amnestie erhalten. Weder über die Umsetzung dieser Dekrete noch darüber, wie viele Wehrdienstentzieher seit 2011 in den Genuss dieser Amnestien kamen, liegen Informationen und genaue Zahlen vor. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben diese Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert. Ihrer Ansicht nach profitierten nicht die vorgeblich angesprochenen Personengruppen von ihnen“ (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom April 2017, S. 27 f.).
56
Zwar verweist der UNHCR nunmehr darauf, das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte habe Berichte von Rückkehrern erhalten, die verhaftet worden seien, nachdem sie im Hinblick auf das Amnestiedekret vom September 2019 nach Syrien zurückgekehrt sein (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application Of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 12). Allerdings ist das auch unter Berücksichtigung der übrigen Erkenntnisse wiederum zu allgemein gehalten, um die Bewertung zu rechtfertigen, die seit September 2018 ergangenen Amnestiedekrete würden regelhaft nicht umgesetzt.
57
Die Schweizer Flüchtlingshilfe befasst sich in ihrer Auskunft „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2014 im Wesentlichen mit der Generalamnestie vom 9. Juni 2014 (Erlass Nr. 22/2014), die erstmals ausdrücklich auch Personen berücksichtigte, die unter dem Anti-Terrorismusgesetz des Jahres 2012 angeklagt oder verurteilt worden sind. Konkrete Erkenntnisse zur Anwendung dieser Amnestie auf Militärdienstpflichtige oder Deserteure lassen sich dieser Auskunft nicht entnehmen.
58
2.3.3 Bei einer zusammenfassenden Bewertung dieser Erkenntnislage fehlt es zur Überzeugung des Senats an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Militärdienstpflichtige, Reservisten) allein deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung Verfolgungshandlungen syrischer Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (vgl. auch VGH BW, U.v. 27.3.2019 - A 4 S 335.19; U.v. 23.10.2018 - A 3 S 791.18; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 - 1 Bf 81/17.A; NdsOVG, B.v. 16.7.2020 - 2 LB 39.20; OVG NRW, U.v. 13.3.2020 - 14 A 2778/18.A; OVG RhPf, U.v. 24.1.2018 - 1 A 10714/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 26.4.2018 - 1 A 543.17; SächsOVG, U.v. 21.8.2019 - 5 A 644/18.A; OVG SH, U.v. 7.3.2019 - 2 LB 29.18 und U.v. 10.7.2019 - 5 LB 23/19; a.A. HessVGH, U.v. 26.7.2018 - 3 A 809/18.A; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 - 3 KO 155.18; OVG MV, U.v. 21.3.2018 - 2 L 238.13 - alle juris).
59
Geht es - wie hier - darum, ob ein nicht vorverfolgt ausgereister Asylbewerber bei einer (gedachten) Rückkehr in das Herkunftsland Verfolgungshandlungen zu befürchten hat, steht im Vordergrund die Frage nach einem Verfolgungsgrund im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG, an den eine Verfolgung im Sinn des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG anknüpfen könnte (§ 3a Abs. 3 AsylG). Ein solcher Verfolgungsgrund, wobei nach der gegebenen Sachlage allein eine (unterstellte) regimefeindliche Gesinnung von Bedeutung ist, lässt sich der im Zeitpunkt der Entscheidung gegebenen Erkenntnislage nicht entnehmen.
60
a) Seit dem generellen Abschiebestopp im April 2011 liegen nur vereinzelt Fallbeispiele von Rücküberstellungen aus westlichen Ländern vor, so dass insoweit von „Referenzfällen“ nicht ausgegangen werden kann. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung aus dem vorgenannten Grund lässt sich nicht (mehr) aus dem Charakter des syrischen Staates und der Tatsache ableiten, dass dessen Regierung den Erhalt der Macht angesichts einer die Existenz des Staates bedrohenden militärischen Lage mit größter Härte unter Einsatz menschenrechtswidriger Mittel verfolgt.
61
b) Mit dem Wandel der militärischen Lage zugunsten des syrischen Staates hat die syrische Regierung das angestrebte Ziel, die bisherige Machtstruktur ohne einschneidende Veränderung zu erhalten und das vor dem Konflikt bestehende Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen, wenn auch nicht vollständig so doch in einem erheblichen Umfang erreicht. Es entspricht ersichtlich auch der Einschätzung der syrischen Regierung, dass sich die Lage im Sinne ihrer Zielsetzung geändert und stabilisiert hat. Das zeigen die beschriebenen Demobilisierungsmaßnahmen und die seit dem Oktober des Jahres 2018 ergangenen Amnestieerlasse. Beide Maßnahmen rechtfertigen die Prognose, dass die syrische Regierung insoweit eine Normalisierung der Verhältnisse anstrebt und Männern, die sich durch Flucht in das Ausland ihrer Verpflichtung zum Militärdienst entzogen haben, nunmehr versöhnlich gegenübertreten wird. Dafür spricht auch der Umstand, dass die geänderte Haltung der syrischen Regierung durch einen „Rückkehrplan“ für Flüchtlinge bestimmt ist, den die Russische Föderation als einflussreicher Verbündeter des syrischen Staates im Juli 2018 angekündigt hat. So rief die syrische Regierung Anfang Juli 2018 erstmals offiziell zur Flüchtlingsrückkehr auf und forderte dafür Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen. Ein Minister mit Zuständigkeit „Flüchtlingsrückkehr“ wurde benannt und eine Rückkehrkommission ernannt. Präsident Bashar al-Assad bekundete in einer Rede vor Mitgliedern der syrischen Lokalräte im Februar 2019 erneut, dass Flüchtlinge zurückkehren sollten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 21 f.). Dahinter steht nach Lage der Dinge ein Interesse der Russischen Föderation an einer möglichst hohen Zahl an Rückkehrern, um die derzeitigen Beschränkungen bei der Wiederaufbauunterstützung der europäischen Länder zu beseitigen (vgl. Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria - Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 22).
62
Es besteht auch sonst kein konkreter Anhalt dafür, dass diese versöhnliche Haltung nur vorgeschoben ist. Vielmehr ist wie ausgeführt durch verschiedene Auskunftspersonen eine Strafbefreiung für zurückgekehrte Militärdienstentzieher belegt. Auch das lässt erkennen, dass Militärdienstentzieher nicht (mehr) eine politische Gegnerschaft zugeschrieben wird. Dafür spricht auch, dass die Amnestieerlasse zwischen bloßen Militärdienstentziehern, denen Straffreiheit zukommen soll, und jenen unterscheidet, die mit der bewaffneten Opposition gekämpft haben. Im Übrigen rundet es das Bild ab, dass der syrische Staat - wie dargelegt - die für den Militärdienst geregelten Altersgrenzen sowie die Befreiung des einzigen Sohnes einer Familie vom Militärdienst in der Vergangenheit bislang im Allgemeinen beachtet hat. Darin kann ein Indiz dafür gesehen werden, dass sich der syrische Staat trotz der im Einzelnen weit verbreiteten Willkür an seinen Zielen orientiert und insoweit nicht unberechenbar verhält. Angesichts dieser Erkenntnisse misst der Senat der allgemein gehaltenen Feststellung des UNHCR keine maßgebende Bedeutung zu, unabhängige Beobachter würden darauf hinweisen, dass die Regierung Militärdienstentziehung wahrscheinlich als einen politischen, gegen die Regierung gerichteten Akt betrachte (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 9).
63
2.3.4 Eine andere Beurteilung ist nicht mit Blick auf die zur Rückkehrgefährdung von syrischen Militärdienstentziehern abweichende Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte veranlasst (vgl. HessVGH, U.v. 26.7.2018 - 3 A 809/18.A; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 - 3 KO 155.18; OVG MV, U.v. 21.3.2018 - 2 L 238.13 - jeweils juris). Deren Bewertung, dass Syrern, die sich dem Militärdienst entzogen haben, bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung droht, konnte die nunmehr vorliegenden und vom Senat beigezogenen neuen Erkenntnisse noch nicht berücksichtigen.
64
2.4 Eine Entziehung des Klägers vom Militärdienst rechtfertigt auch nicht im Hinblick auf die Regelung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
65
Nach dieser Bestimmung kann als Verfolgung im Sinn des § 3a Abs. 1 AsylG eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Aus der gesetzlichen Bestimmung des § 3a Abs. 3 AsylG ergibt sich, dass die Qualifizierung einer Handlung als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AsylG noch nicht ausreicht, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme zu begründen. Hinzukommen muss vielmehr eine „Verknüpfung“ zwischen Handlung und Verfolgungsgrund, d.h. die Verfolgung muss „wegen“ eines bestimmten Verfolgungsgrunds im Sinn des § 3b AsylG drohen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 33; ebenso die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28.5.2020 im Vorlageverfahren C-238/19 - juris Rn. 51 und 61). Ein solcher Verfolgungsgrund liegt aber allein im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst hinsichtlich des Klägers nicht vor (vgl. 2.3.3). Im Übrigen hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch im gerichtlichen Verfahren erkennen lassen, dass er sich dem Militärdienst aus Gründen entzogen hat, die für die syrischen staatlichen Stellen unter Umständen Anknüpfungspunkt dafür sein könnten, ihm eine oppositionelle Gesinnung zu unterstellen.
66
2.5 Dem Kläger droht auch unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft keine politische Verfolgung.
67
Muss der Kläger - wie dargelegt - allein wegen einer von ihm begangenen Militärdienstentziehung nicht beachtlich wahrscheinlich mit einer politischen Verfolgung rechnen, hat er eine solche erst Recht nicht etwa deshalb zu befürchten, weil sich gegebenenfalls auch sein Bruder dem Militärdienst entzogen hat. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass die vom Dänischen Einwanderungsdienst befragten Auskunftspersonen überwiegend bekundeten, es hätte für die Familien keine Folgen, wenn sich ein Familienmitglied dem Militärdienst entzogen habe (The Danisch Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 36). Das entspricht auch der bisherigen Einschätzung des Senats (vgl. dazu BayVGH, U.v. 12.4.2019 - 21 B 18.32459 - juris Rn. 76 ff.).
68
2.6 Es ist zur Überzeugung des Senats auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte den Kläger im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien im Hinblick darauf menschenrechtswidrig behandeln werden, dass er aus dem Gouvernement Aleppo stammt. Der Kläger hat insbesondere in Bezug auf seinen Herkunftsort keine Umstände vorgetragen, die sich in seinem konkreten Fall als risikoerhöhend darstellen. Nach Auswertung der Erkenntnislage besteht für einen Rückkehrer allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel keine Rückkehrgefährdung (vgl. Urteil des Senats vom 20.6.2018 - 21 B 18.30853 - juris Rn. 49 ff.; ebenso VGH BW, U.v. 27.3.2019 - A 4 S 335.19; BayVGH, B.v. 30.6.2020 - 20 B 19.31187; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 20.2.2019 - 2 LB 122.18; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 - 1 Bf 81/17.A; HessVGH, U.v. 25.9.2019 - 8 A 638/17.A; NdsOVG, U.v. 16.7.2020 - 2 LB 39.20; OVG NW, U.v. 13.3.2020 - 14 A 2778/17.A; OVG RhPf, B.v. 6.2.2018 - 1 A 10849/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 25.7.2018 - 1 A 621.17; SächsOVG, U.v. 6.2.2019 - 5 A 1066/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 - 5 LB 34.19 - alle juris).
69
Zwar erwähnt der UNHCR in seinen aktuellen Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom April 2017 erneut Berichte, die darauf hindeuten würden, dass die syrische Regierung im Allgemeinen solche Zivilpersonen als der bewaffneten Opposition zugehörig betrachte, die in Gebieten wohnen oder aus Gebieten stammen würden, in denen es zu Protesten der Bevölkerung gekommen sei und/oder in denen die bewaffnete Opposition in Erscheinung trete oder (zumindest zeitweise) die Kontrolle übernommen habe (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12). Allerdings wird das lediglich unter Verweis auf die 5. aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ belegt. Diesen Erwägungen kann jedoch nicht entnommen werden, dass allein die Herkunft aus einem (vermeintlichen) Oppositionsgebiet eine Rückkehrgefährdung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründet, denn darin kommt der UNHCR letztlich zu dem Ergebnis: „UNHCR ist der Auffassung, dass … Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen …, die als regierungsfeindlich angesehen werden, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen.“ (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 43 - kursive Hervorhebung durch den Senat). Das bestätigt, dass es keinen Generalverdacht gegen alle Rückkehrer aus entsprechenden Regionen gibt (vgl. OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17 - juris Rn. 47).
70
Im Einklang damit kann Auskünften des Auswärtigen Amts entnommen werden, dass eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus regierungsfeindlichen Gebieten letztlich nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände anzunehmen ist und es deshalb vom Einzelfall abhängig ist, ob Personen, die aus oppositionsnahen Gebieten kommen, bei ihrer Einreise nach Syrien festgenommen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.2.2019 und Auskunft an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 17.10.2017).
71
Die Auskunft von Amnesty International an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 13. September 2018 (S. 2), wonach (allein) wegen der Herkunft aus einem vormals durch die Opposition besetzten Gebiet die Gefahr bestehe, dass die betreffende Person bei der Einreise aufgrund ihrer Herkunft festgenommen oder misshandelt werden könnte, veranlasst keine andere Bewertung. Amnesty International verweist insoweit lediglich auf die Herkunftslandinformationen des UNHCR vom November 2017, die eine solche Einschätzung - wie dargelegt - nicht tragen (so bereits OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17 - juris Rn. 48). Im Übrigen wird die Einschätzung des Senats, wonach allein die Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel nicht beachtlich wahrscheinlich dazu führt, dass die syrischen staatlichen Stellen dem Betroffenen eine oppositionelle Gesinnung zusprechen und ihn deshalb verfolgen, auch durch die Erkenntnisse des Dänischen Einwanderungsdienstes/Dänischen Flüchtlingsrats bestätigt (Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria - Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.).
72
Im Ergebnis besteht zur Überzeugung des Senats eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus bestimmten Gebieten nicht bereits allgemein, sondern nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände, die den Rückkehrer in irgendeiner Weise in „Oppositionsnähe“ bringen. Solche zusätzlichen Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen.
73
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
74
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
75
5. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.